Jetzt, am 1. Mai 1999 löste der Funkruf: "Auf ’ne Runde Snikkers und Tee", mit dem Anker der "Mallory and Irvine Research Expedition" seinen Fund signalisierte, einen Mediensturm ohnegleichen aus. Während oben in 8200 Metern Höhe die Bergsteiger noch die Fundstelle untersuchten, liefen im Basislager 3 Kilometer tiefer bereits die ersten Deals mit den Medien. Über 1 Million mal wurde in den zwei Wochen danach die Homepage des Expeditionssponsors Mountainzone aufgerufen, um sich die Online-Stimmen aus der Todeszone anzuhören und vor allem jenes Bild zu betrachten, das zu den Sensationsfotos des Jahres 1999 gehört. Auf dem Bauch, die Hände noch in die schütteren Felsbrocken gekrallt, liegt Mallory unbekleidet, wie der marmorne Torso einer antiken Statue am Berg. Sein – unter ganz spezifischen klimatischen Bedingungen - tiefgefrorenes und zugleich bis in die Hautfärbungen vollständig erhaltenes Fleisch glänzte im Sonnenlicht, als Anker es sah.
Mit der Entdeckung seiner Leiche sollte der bereits zu archaischen Dimensionen angewachsene Mythos Mallory neu erblühen. Unmittelbar nach ihrer Entdeckung schlug die Frage wieder hohe Wellen, die seit jenem Junitag 1924, an dem Mallory und sein Seilgefährte Irvine zuletzt hoch oben am Everest gesehen worden waren, die Bergsteigerwelt nicht in Ruhe gelassen hat: Haben sie den Gipfel erreicht, bevor sie verunglückten? Müssen Mallory und Irvine als Erstbesteiger gelten und nicht Edmund Hillary und Tensing Norgay, die 1953 den Everest bezwangen? Hatten sie, das ist die Schlüsselfrage, doch eine bisher als unbezwungen geltende Steilstelle am Nordgrat, den "Second Step" überwunden?
Nicht einmal fünf Monate später liegen bereits drei Bücher vor, die Mallorys Geschichte erzählen und deuten. Jedes fügt dem Mythos einige Nuancen hinzu. Wer sie alle drei liest – eine gewisse Basisbegeisterung für Bergabenteuer und Detektivspiele ist Voraussetzung – schwebt nicht nur im Höhenrausch. Er gerät auch mitten hinein in den Kleinkrieg der Ebenen. Wer führt? Wem gehört der Berg, wem gar die Wahrheit – darum führen die Autoren Messner, Hemmleb und Anker heftige Revierkämpfe auf.
Als erster war Reinhold Messner da. Sein Name wird inzwischen von Zeitgenossen vielleicht mehr noch als die Namen Mallory und Hillary mit dem Mount Everest verbunden: Schließlich hat er ihn 1978 erstmals ohne Sauerstoff bestiegen und 1980 sogar, auf einer teilweise ähnlichen Route wie Mallory 1924, im Alleingang. Messner reichte ein Blick ins Internet, dann war ihm klar, dass er eigentlich alle Fragen schon 1982 beantwortet hatte:
"Ich habe bereits im Gläsernen Horizont über Mallory geschrieben und spekuliert, wo er lag. (...) Als ich seinen Stiefel im Internet sah, war mir klar: Alle Szenarien sind ausgeschlossen. Die Geschichte ist endgültig abgeschlossen."
Dennoch hat sich Messner daran gemacht, die Geschichte noch einmal zu erzählen. Wie schon in seinem Buch über den Yeti interessiert ihn weniger das Faktische. Ihm geht es um die Nachschreibung der Sehnsüchte, die einen Mythos erst notwendig machen. Mit der gebotenen Ironie des alternden Bergsteigers erzählt Messner in seinem nunmehr besten Buch eine unendliche Dreiecksgeschichte mit Stabreim. In der Mitte thront Mount Everest, umrahmt von Mallory und Messner: eine mythische Dreifaltigkeit in M.
"Ich wollte keine Biografie schreiben, sondern die Geschichte des Mallory-Everest."
Es gibt über keinen Bergsteiger soviel Diskutiertes wie über George Leigh Mallory. Deshalb war es für Messner nicht eine Frage des Was, sondern die literarische Frage des Wie, als er sich an die Konzeption seines Buches machte. Durchaus mit Erfolg griff der Autor, der bisher unter "Ich" immer nur sich selbst verstanden hatte, in die erzählerische Trickkiste. Wie die beiden anderen Bücher behandelt auch Mallorys zweiter Tod –so der Titel - er im wesentlichen zwei Themen: die Geschichte der drei gescheiterten englischen Versuche 1921, 1922 und 1924 den Everest zu besteigen, und die Frage, ob Mallory es geschafft hat. Messner erzählt jedoch nicht objektivierend. Er teilt die aristokratische Perspektive des Briten, mit dem er sich eins weiß in der Verachtung des touristisch-kommerziellen Missbrauchs, der heute am Everest betrieben wird: Große Teile seines Textes hat Messner Mallory in den Mund gelegt. In dem er sich in Mallory versetzt, gewinnt Messner aus der Ich-Perspektive den Erzählraum, der sein Buch zu mehr macht als zu einer Saisonlektüre:
"80 Prozent der Zitate, die ich Mallory in den Mund gelegt habe, stammen von ihm. Ich habe sie nur neu kombiniert, literarische Freiheit.. ich musste das Sterben beschreiben, sonst steige ich feige aus. Gerade beim Sterben wird das klar: Unterschied "er " heisst objektiv und "ich" heisst literarisch. Ich leihe Mallory meine Sterbenserfahrung, wie ich ihm auch die 75 Jahre Bergsteigererfahrung leihe, die seit seinem Tode hinzugekommen ist. Er hat seiner Frau geschrieben: Ich bin der Beste. Das habe ich im Leben nie meiner Frau geschrieben...Ich war das nicht. Kein Problem mit der Hybris, die in seinen Schriften zu erkennen ist."
Messner spielt mit Mallorys Hybris. Weit über den 8848 Metern Gipfelhöhe im Himmel schwebend amüsiert er sich über die "Leichenfledderer", die an seinem Körper etwas Wesentliches herausfinden wollen. Und kühl kommentiert er Hillarys Gipfelsieg: Den Südweg über den Khumbu-Eisbruch hätten Irvine und er nie geschafft.
Messner und Mallory: da stehen zwei im Geiste und in der Gesinnung nebeneinander. Doch Messner weiß auch genau, wie weit sie auseinander sind:
"Ich kann als Historiker nur Respekt aufbringen. 16 Stunden braucht Kammerlander die haben das in 3 Jahren nicht geschafft – völlig falsch, deren Leistung war viel größer: Sie hatten keine Piste, mussten den Weg erst finden. Die Eiger Nordwand konnte 1900 nicht geklettert werden, sondern erst 1938. Heute ist sie ein Vormittagsspaziergang."
Kein Wunder, dass Messner nur schwer ertragen kann, wenn sich jetzt ein anderer aufschwingt, im Stil nüchterner Wissenschaftlichkeit und detektivischer Beweisführung am Mythos zu kratzen. Auf der Frankfurter Buchmesse geriet er – infolge einer geschickten Medieninszenierung – auch persönlich mit Jochen Hemmleb aneinander, dem er – zu Unrecht – Fälschungsabsichten vorwarf. Hemmleb, ein 27-jähriger Geologiestudent aus Frankfurt - hatte in elfjähriger Beschäftigung mit dem Rätsel Mallory alle jene Fakten akribisch zusammengetragen und analysiert, die es letztlich der Mallory und Irvine Suchexpedition erlaubten, nach nur wenigen Stunden vor Ort die berühmte Leiche zu finden.
Noch ganz im Bann der Auseinandersetzung mit Messner formuliert Hemmleb einen Tag später im Gespräch die Differenz in der Betrachtungsweise. Gegen Messners Erfahrungs-Argument, Mallory hätte die berühmte zweite Stufe am Nordgrat nicht klettern können, setzt Hemmleb einen Augenzeugenbericht und die rationalistische Haltung des wissenschaftlichen Advocatus Diaboli.
Seine Art der Argumentation, die Abwägung aller Fakten und Indizien, macht den Reiz des Expeditionsberichts aus, den Hemmleb und seine beiden amerikanischen Mitstreiter Eric Simonson und Larry Johnson jetzt unter dem Titel Die Geister des Mt. Everest vorgelegt haben. Schritt für Schritt, mit herausragendem Bildmaterial, rekonstruieren sie ihre Recherche und parallel dazu den Weg, den Mallory und seine Gefährten bei ihren heroischen Versuchen nahmen, um den Dritten Pol der Erde für England zu bezwingen, nachdem der Sieg über Nord – und Südpol an andere Nationen gefallen war. Die Mallory/Irvine-Such-Expedition folgte – in der Jahreszeit übrigens fast genau gleichauf – den Engländern vor 75 Jahren. Hierbei gelang es, neben der sensationellen Entdeckung von Mallorys Leichnam eine ganze Reihe von kleineren und größeren Everest-Rätseln zu lösen.
In der entscheidenden Frage, der Überwindung des Second Step, entstanden innerhalb der Expedition Meinungsverschiedenheiten. Conrad Anker, der Mallorys Leiche fand, gelang es erstmals überhaupt, diese extrem ausgesetzte, vereiste, bröckelige und leicht überhängende Wand, die in über 8600 Meter Höhe wie ein Riegel den weiteren Aufstieg am Grat versperrt, frei zu klettern. Im ersten Erfolgsrauch, so erinnert sich jedenfalls Hemmleb an Ankers Funkspruch, glaubte er, auch Mallory könne dies geschafft haben. Später nahm Anker diese Aussage zurück.
Nicht ohne Häme liest man nun, im zuletzt erschienen, aber sicher nicht letzten Buch zu Mallory, in Conrad Ankers und David Roberts Verschollen am Mount Everest die dritte Version der Geschichte. Anker muss sich über Hemmlebs eingebildete oder wirkliche Arroganz mächtig geärgert haben. Ironisch merkt er an, dass der Student "nicht über 7200 Meter hinauskam". Aus seiner Sicht ist die Entdeckung Mallorys auch sehr viel eher seiner bergsteigerischen Intuition zu verdanken als Hemmlebs Anweisungen, der die Kletterer am Nordhang des Everest aus dem über 12 Kilometer Luftlinie entfernten Basislager per Funk dirigiert hatte. In der Beurteilung der Second Step besticht Anker durch Ehrlichkeit. Da er während seines Freikletterversuchs einmal seinen Fuß - aus Versehen allerdings - auf die seit 1975 von einer chinesischen Expedition dort verankerte Metallleiter gesetzt hatte, nimmt er den Anspruch zurück, als erster diese Hürde "by fair means", ohne künstliche Hilfsmittel also, überwunden zu haben. Sein Schluss, nicht nur aus diesem Beweis unüberwindbarer Schwierigkeiten: Mallory und Irvine können den Gipfel nicht erklommen haben. Sein Buch ist jedoch noch in anderer Hinsicht eine Ergänzung. Während Messner und der offizielle Expeditionsbericht nicht den Schatten eines vermeintlich schmutzigen oder privaten Details auf Mallorys Glanz fallen lassen, geben einige Passagen bei Anker/Roberts genaueren Einblick in Leben und letztes Ende Mallorys. So deuten sie an, dass Mallorys Ehe nicht so harmonisch verlief, wie die zitierten Liebesbriefstellen der Bergliteratur glauben machen, und verweisen auf homoerotische Komponenten seiner Persönlichkeit. Auch mit sich selbst gehen sie rauher um: Anker beschreibt en Detail, wie die Bergsteiger mit Mallorys Leichnam hantierten, um die Beweismittel und persönlichen Gegenstände zu sichern, die heute in den Archiven liegen. Und er redet auch von der anderen Seite Mallorys, die das schöne Marmorbild im Internet nicht zeigt: Teile seines Leibes waren von Himalaya-Raben ausgeweidet worden. Jetzt ruht Mallory in Frieden – daran und an seinem Ruhm werden auch die demnächst erscheinenden Biographien nichts ändern.
Bibliographie:
Reinhold Messner: Mallorys zweiter Tod. Das Everest-Rätsel und die Antwort. Blv-Verlag, München 1999, 222 S., DM 29,90
Jochen Hemmleb, Larry A. Johnson, Eric R. Simonson: Die Geister des Mount Everest. Die Suche nach Mallory und Irvine. Nach den Erzählungen der Autoren wiedergegeben von William Nothdurft; aus dem Amerikanischen von Hainer Kober; Hoffmann und Campe, Hamburg 1999, 214 S., DM 44,90
Conrad Anker, David Roberts: Verschollen am Mount Everest. Dem Geheimnis von George Mallory auf der Spur. Aus dem Amerikanischen von Michael Windgassen. Wilhelm Heyne Verlag, München 1999, 280 S., DM 36,-