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Mythos Venedig

Zauberhaften Lagunenstadt, Inspirationsstätte für Künstler aller Jahrhunderte, Touristenmagnet und Handelsmetropole: Venedig hat viele Gesichter. Die Fondation Beyeler bei Basel widmet der norditalienischen Stadt eine Ausstellung - mit Bilder von Canaletto, über William Turner, James McNeill Whistler, Pierre Auguste Renoir bis Claude Monet.

Von Christian Gampert | 05.10.2008
    Venedig ist Verfall, Feier des Moribunden und der Dekadenz. Jedenfalls sehen wir das so, spätestens seit Thomas Mann: gurgelnde Wasser, die an die Häuser schwappen, und die stehen auf unsicherem Grund.

    Aber Venedig war natürlich auch ganz anders: Stadtstaat, Handelsmetropole, Machtfaktor. Die Ausstellung der "Fondation Beyeler", die ja nicht gerade für das Zeigen alter Kunst bekannt ist, setzt so ein: Mit den gestochen scharfen, weiten, großen Stadtansichten der besten venezianischen Vedutenmaler, Canaletto und Francesco Guardi. Diese zwischen 1723 und 1790 entstandenen Bilder beschwören das Offene und die Schönheit und den alten Ruhm der Serenissima, Welten aus Wasser und Stein, aus Graublau und Blau, ameisenhaft kriechende Gondeln, kleine Menschen. Guardis "La Partenza del Bucintoro" von 1770, das Auslaufen der Staatsbarke am Himmelfahrtstag ist noch einmal eine solche Feier wohlstrukturierten Wohlstands.

    Im 19. Jahrhundert aber versank Venedig, politisch und ökonomisch abgehängt von der Entwicklung, in Bedeutungslosigkeit. Und es kamen die Künstler, Ausländer, Fremde, die in den bröckelnden Fassaden und dem blendenden Licht Metaphern für ihre eigene Befindlichkeit entdeckten - oder auch für ein ganzes untergehendes Zeitalter.

    Das wird zum einen belegt durch die blendenden, ins Gegenlicht transzendierenden Venedig-Übermalungen, muss man fast sagen, des William Turner, der Lord Byrons Lyrik des Zerfalls in Bildfindungen umsetzte, die ans Gegenstandslose grenzen. Sind schon diese aus der Tate kommenden Ölgemälde überwältigend, so sind Turners eher selten gezeigten Aquarelle mindestens gleichrangig: mit ganz reduzierten Mitteln wie hingetuscht wirkende Stadtsilhouetten.

    Und nun kommen die Impressionisten: zuerst Manet, der Canal Grande im reflektierenden Licht; einige gewöhnungsbedürftige Renoirs dann aber Monet, der sich, 68-jährig, zu einer Venedig-Reise überreden ließ und zu seiner eigenen Überraschung dort nicht mehr aufhörte zu malen. Eingeführte, literarisch überformte Motive wie Palazzi und Kanäle gehörten nicht unbedingt zum impressionistischen Vokabular. Aber Monet, dessen Venedig-Zyklus hier wunderbarerweise erstmals seit 1912 wieder rekonstruiert ist, stellte den Palazzo Contarini vor eine Welt in Blau, vor algiges Wasser, rötlich spielendes Abendlicht fällt auf das Gebäude und reflektiert im Kanal, auf dem man - irrealerweise - fast Seerosen wachsen sehen möchte. Andere Monets versinken in Wasser, Nebel und Licht; alles verschwimmt, das Wort bekommt hier seinen Sinn.

    Ein paar Seitenwege: Auch Odilon Redon war am Lido, malte aber nur Häuser und Segelschiffe. Signac setzte die Stadt wie ein pointillistisches Mosaik zusammen. Zwischen 1850 und 1900 ergreift dann die Fotografie das Szepter: Venezianische Künstler bilden Paläste und Plätze, Seufzerbrücke und Rialto für den aufkommenden Tourismus ab - lakonisch und sachlich, wie die hier gezeigten Fotos aus der Sammlung Herzog belegen. Und eine großformatige Aufsicht auf den Markusplatz in Öl von Pietro Fragiacomo von 1899 läutet das neue venezianische Selbstbewusstsein ein: Seit 1895 gab es die Kunstbiennale.

    Die eigentliche Überraschung der Ausstellung aber sind die amerikanischen Künstler James McNeill Whistler und John Singer Sargent, die sich - als Zeitgenossen der Impressionisten - vor allem auf den venezianischen Alltag einlassen. Seitengassen, dunkle Flure, Armut, Prostitution. Besonders Sargent mit seinen perspektivisch angeschnittenen Bildern entwickelt eine fast filmische Erzählweise.

    Zwei Gegenwartskünstler runden diese großartige Venedig-Ausstellung ab: Vera Lutters Camera-Obscura-Diptychen und David Claerbouts "Lightboxes" umkreisen den nächtlichen Schummer dieser Metropole des Untergangs, und man hat Lust, dorthin zu fahren, Dekadenz hin oder her.