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Nabelschau im Mekka der Architektur

Nicht nur das diesjährige Jubiläum, sondern auch der hohe Lebensstandard bietet den Norwegern Grund zum Feiern - wie ebenso Anlass zu Kritik an der eigenen Selbstzufriedenheit. Aber das Land weist nicht nur gerne seine Prosperität vor, sondern auch seinen kulturellen Fortschritt, wie in der zeitgenössischen Architektur.

Von Marc Christoph Wagner |
    Per Anders Madsen, Feuilletonchef der norwegischen Aftonposten, hat in den vergangenen Wochen manch kritischen Artikel über die Jubiläumsfeierlichkeiten verfasst:

    " Die Gefahr ist wohl, dass es uns Norwegern heute so gut geht, dass uns die Welt um uns herum nicht mehr interessiert – nicht nur was Europa betrifft, sondern überhaupt. "

    Nabelschau und Selbstzufriedenheit – diese beiden Stichworte sind ein fester Bestandteil des norwegischen Feuilletons. Auch die Organisatoren des Jubiläumsjahres wurden immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert – die Feierlichkeiten seien zu pompös, die Schattenseiten der norwegischen Geschichte seit der Unabhängigkeit würden nicht ausreichend behandelt. Ewa Jakobsen Vaagland, Programmleiterin von Norge 2005, weist diesen Vorwurf jedoch zurück:

    " Eines der Hauptereignisse in diesem Jubiläumsjahr ist Robert Wilsons Inszenierung von Peer Gynt – dem norwegischsten aller norwegischen Stücke. Peer Gynt ist ja völlig mit sich selbst beschäftigt – alles dreht sich bei ihm um den eigenen Bauchnabel, nichts anderes interessiert ihn. Und das ist ja im Grunde keine sympathische Haltung – weder für eine Person noch ein Land. "

    In Oslo verankert, mittlerweile aber auf dem ganzen Globus tätig ist Kjetil Trædal Thorsen, Eigentümer des Architektenbüros Snøhetta. Von seinem Arbeitsplatz guckt er aus den großen Fenstern der alten Lagerhalle am Osloer Hafen hinaus. Mitte der achtziger Jahre hat er hier über einer Kneipe angefangen. Heute stehen etwa sechzig Architekten auf der Gehaltsliste.

    " Die Entwicklung der norwegischen Architektur in den letzten Jahren hat vor allem mit dem Verständnis und der Interpretation von Natur und Landschaft zu tun. Die norwegische Architektur ist – im Vergleich etwa zu Zentraleuropa – aufgrund der kurzen Geschichte des Landes weniger historisierend – der Einfluss der Landschaft ist sehr viel wichtiger als der historische Kontext. So ergibt sich ein völlig anderer Ausgangspunkt, ein anderes Verständnis von Architektur. "

    Und dieses Architektur-Verständnis findet Anklang weit über die norwegische Landesgrenze hinaus. Im Herbst 2002 wurde die Bibliothek von Alexandria nach 13jähriger Bauzeit eröffnet. Vor wenigen Wochen erst gewann das Osloer Architektenbüro den Wettbewerb für die Errichtung des Cultural Center am Ground Zero in New York.

    " Wir haben den vertikalen Raum genommen, der sich für den Betrachter zwischen den Hochhäusern ergibt, diesen um 90 Grad gedreht und ihn angehoben. So ergibt sich ein horizontales Blickfeld statt einem vertikalen, was vielmehr der Betrachtung einer Landschaft entspricht. Die vertikale Perspektive hingegen ist urban. "

    Vor allem der Übergang zwischen verschiedenen Elementen ist eines der Hauptthemen in der norwegischen Architektur. Überhaupt beklagt Kjetil Trædal Thorsen die zunehmende Vereinheitlichung und Standardisierung vieler Bauten. Durch künstlerische Kompromisse erodierten viele Architekten das Fundament, auf dem sie stünden. Für die Zukunft sagt der norwegische Architekt deshalb zwei Entwicklungen voraus:

    " Das eine ist die Industrialisierung der Architektur – und zwar eine völlige Industrialisierung, eine Produktion etwa wie bei Autos oder Flugzeugen. Das andere geht in Richtung einer völligen Archaisierung – alles ist handgemacht, jedes einzelne Teil wird extra angefertigt. Alles zwischen diesen beiden Extremen fällt heraus und ist aus meiner Sicht auch gleichgültig. "