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Nabokovs Katze

"Georg und Camille liebten sich; nur war in dieser Art von Liebe ein Problem verborgen, das genau dann entstand, wenn sie sich in die Augen sahen und dicht davor waren, das Geständnis zu machen. Das Problem schien logischer, wenn nicht gar philosophischer Natur. Es ging darum, etwas zu sagen, das in dem Augenblick, in dem man es sagen würde, infolge eines anscheinend unvermeidlichen Fehlers unmöglich voll und ganz aufrichtig sein konnte, obwohl oder gerade weil das Gefühl für den anderen eine quälende Eindringlichkeit besaß. Die Lösung des Problems war so einfach, daß sie es kaum glauben konnten. Sie sagten sich, daß sie sich liebten. Sie wiederholten es und beobachteten mit angehalte­nem Atem, was mit ihnen geschah."

Florian Felix Weyh |
    So ist das in der Pubertät: die Liebe groß, die Scheu sie auszusprechen ungleich mächtiger. Wer kennt sie nicht, die zahllosen verpaßten Gelegenheiten zwischen vierzehn und sechzehn, wo man sich lieber auf die Zunge beißt, als einer Angebeteten sein Herz zu offenbaren. Georg und Camille, die Helden in Thomas Lehrs opulentem Roman "Nabokovs Katze" bewältigen die erste Hürde ihrer Beziehung alterstypisch: mit einer jesuitischen Finte.

    "Allerdings sagten sie »Ich hab dich lieb«, nicht: »Ich liebe dich.« Vielleicht wollten sie nicht unbescheiden wirken. Vielleicht hielt sie eine geheime Korrespondenz des späteren Erwachsenendaseins mit ihrem fünfzehnjährigen Leben zurück, die den Vorbehalt übergab, den Georg vor der Stadtbibliothek ausgesprochen hatte: daß nämlich alles noch vor ihnen liege. Oder konnte man die stärkere Formel nur dann aussprechen, wenn man auch richtig miteinander schlief?"

    Teenager sind Legalisten, spitzfindige Liebesadvokaten. Verträge müssen besiegelt werden, schon allein, um sich vor Vereinnahmung durch Dritte zu schützen. Niemand kann einfach behaupten, er "gehe" mit einem, wenn dies nicht durch Zungenkuß Rechtsgültigkeit erlangt. Liebe – das höchste Versprechen zwischen Mann und Frau – Liebe bedarf eines notariellen Beischlafs. Wer nicht bereit ist, miteinander zu verschmelzen, darf Kumpanei auf seine Fahnen schreiben, vielleicht sogar Freundschaft – aber Liebe? Liebe ist das nicht.

    "Eine Erinnerung stieß sich plötzlich an einem heraushängenden Tamponfaden, an zellulitischen Symptomen, abblätterndem Nagellack, schwarzen Härchen am Rand einer Brustwarze, an einem zur Abheilung eines Abzesses auf eine Pobacke geklebten Pflaster, an diesem grotesken Hantieren mit Pessaren und Kondomen, das nie besser wurde."

    Dummerweise ist auch das keine Liebe, sondern ein ziemlich unbefriedigendes Surrogat namens Sexualität. Georg, der Held des Buches, den wir über zweieinhalb Dekaden begleiten, über Affären und Ehen hinweg, sitzt einem typisch männlichen Irrtum auf – oder sagen wir: einem Versäumnis, dem Mangel an praktikablen Liebes und Beziehungsdefinitionen. Die belletristische und philosophische Literatur, der sich der Fünfzehnjährige in die Arme wirft, versorgt ihn mit Idealen, nicht mit Lebenswirklichkeit, und so hat die erste Liebe seines jungen Daseins fatale Folgen. Sie schließt sich nicht, bleibt offen, unvollendet, asexuell, denn Camille ist ein ätherisches Wesen. Man "geht" miteinander, ganz wörtlich, die Frischluftjahre der Pubertät, Spaziergehen als Medium der Selbst und Fremdvergewisserung. Das Ziel: ein anderes Ich, jenseits der muffigen Kleinstadt, hinter deren Kürzel "S." wir unschwer das rheinlandpfälzische Speyer erkennen. Georg redet, redet und redet, um dem kleinbürgerlichen Milieu zu entkommen. "Camille hörte zu. Manchmal konzentriert, manchmal mit Anzeichen von Zweifel, die ihn nur noch mehr anspornten. Für das Verbrechen an der Liebe, das er durch seine Monologe beging, suchte er später nach Entschuldigungen (die es ihm ermöglichten, es auch an anderen Frauen zu begehen). Immerhin war es ein Zauber, ob er die französische Philosophie nun verstanden hatte oder nicht. Er gab sich und Camille das Gefühl, daß sie nur noch für kurze Zeit in die Tristesse und Stumpfheit der Kleinstadt verbannt waren, aber bald weit hinaus finden würden, in den Rahmen eines engagierten und geistreichen Lebens, in dessen Mittelpunkt sie dann unweigerlich stünden."

    Sehr weit kommt Camille freilich nicht, zunächst bis Kaiserslautern, während Georg immerhin in die Metropole Berlin vorstößt. Ihr Weg, den wir bis auf die vorletzten Seiten ausschließlich aus seiner Perspektive verfolgen, zeichnet das Muster aparter Provinzköniginnen nach: Jung begehrt von allen, dann aber nie über die Gemarkungen der Region hinausgekommen, während Georg dank seiner rebellischen Veranlagung nach dem Mathematikstudium nicht Lehrer wird, sondern Filmregisseur. Kein Zufall, Beziehungsmathematik ist sein künstlerisches wie reales Lebensthema. Doch der Weg von Speyer bis zur Berlinale, wo Georg seinen Durchbruch erlebt, erweist sich als steinig, von vielen Zweifeln und biographischen Trostlosigkeiten durchzogen. So offen und liberal die Gesellschaft erscheint, in Wahrheit hat sie doch für jeden eine bestimmte Position vorgemerkt.

    "Die Töchter und Söhne der unteren Mittelklasse, aus der Camille und er stammten, erhielten ihren ersten Drill und ihren ersten Vorrat an Arroganz auf den Gymnasien, traten sich in den sterilen Lehrsälen der Massenuniversitäten auf die Füße, waren angelockt vom Besonderen, wurden trainiert zum Mittelmaß und ausgestreut in die Apparate. Sie erfanden wirksamere Medikamente, bessere Computer, kleinere Fernsehgeräte, glänzendere Karosserien, schnellere Schaltkreise, tragfesteren Beton, härteren Stahl – nichts beim alten, aber alles im Gängigen belassend, eine Armee des technologischen Komparativs, die (schon) schlicht tat wie Camille oder (noch)Purzelbäume schlug wie Georg, die sich klüger wähnte, aber doch ebenso gebrauchen und verbrauchen ließ wie ihre unstudierten Eltern, deren einmal verachtete Lebensweise sie von Jahr zu Jahr mehr übernahmen."

    Es ist auffallend, daß die mittlere Generation deutscher Autoren – jene, die in den Zeiten der sozialdemokratischen Bildungsexpansion großgeworden sind – das alte Genre des Bildungsromans neu beleben. Zwei existenzielle Erfahrungen stürzten zugleich auf sie ein. Sie sind gebildeter und aufgeklärter als ihre Eltern, stellten schon zu Schulzeiten das Generationsverhältnis auf den Kopf. Inhaltlich ließen sie sich wenig sagen (wer von den Erwachsenen konnte schon bei der Mengenlehre assistieren?), und ab der Pubertät lag die sexuelle Überlegenheit der Kinder klar auf der Hand. Die Generation der Fünfzehnjährigen von 1973 war in Nichts mit der von 1963 zu vergleichen, die ihre Revolte noch vor sich hatte. Doch in der Seele herrschen andere Gesetze als in der Gesellschaft; wer früh reift, bleibt länger unvollendet. Auch der vierzigjährige Georg hängt noch seinen pubertären Träumen nach, deren Mittelpunkt Camille markiert – Camille, die nie mit ihm schlief, sondern sich abrupt und ohne Angabe von Gründen von ihm trennte. Zentraler Dreh und Angelpunkt eine Szene im Eiscafé. Die Tochter des Besitzers – Mitschülerin der beiden – zieht die Blicke des kurzgehaltenen Georg auf sich, was er mit heftigen Küssen für Camille zu vertuschen sucht. Der Vater der Mitschülerin verbittet sich die neue Anzüglichkeit in seinen vier Wänden.

    "Georg, der Debatten mit Erwachsenen liebte, um ihre erstaunlich oft auftretende argumentative Schwäche unter Beweis zu stellen, fand zunächst keinen Angriffspunkt. Er begriff, daß der Eiscafébesitzer (wie er selbst auch) kein befriedigendes Sexualleben hatte und darüber erzürnt war. Als der Mann aber die sattsam bekannten Phrasen über die »heutige Jugend« drosch und damit kein Ende finden konnte, wurde das kleine rhetorische Hebelchen sichtbar, mit dem sich diese drei Zentner rechtschaffene Empörung aus dem Gleichgewicht bringen ließen. Möglichst kaltschnäuzig wies Georg den Wirt darauf hin, daß er seinem erklärten Ziel, das hurende Paar loszuwerden, selbst im Wege stand, indem er fortgesetzt Moral predige, anstatt endlich den Zehnmarkschein zu wechseln, damit sie, was er sich doch so dringend wünsche, unverzüglich das Café verlassen könnten. Außerdem sei der Begriff Hurereien im Jahre 1973 absurd."

    Fünfzehn ist der Junge da, und ein Ausbund an Altklugheit. Intellektueller und sexueller Hochmut sprechen Bände, schließlich liest Georg unter der Schulbank Sartre und Freud, auch Heidegger kommt irgendwann an die Reihe. Schleichend jedoch stellt sich etwas anderes ein, in je höhere Sphären dieser junge Geist abdriftet: Einsamkeit, Verlorenheit, Verlust an Bodenhaftung. Fast zwanghaft wird der weibliche Körper zum einzigen Objekt der Begierde; auch den jener Schulkameradin Brigitte aus dem Eiscafé spießt er Jahre später auf seinen "elften Finger", wie Thomas Lehr belesen und bildungshungrig das männliche Glied einmal nennt (zu Goethes Zeiten war das ein stehender Begriff). Trostlos arbeitet Georg sexuelle Rechnungen ab, die ausgerechnet dann nichts mehr wert sind, wenn er endlich zum Zuge kommt. Auch dies ein männlicher Irrtum, Sexualität vom situativen Moment abzutrennen und als Forderungskatalog zu begreifen: Wo einmal Nähe bestand, es aber nicht zum Äußersten kam, verfallen dieser Ideologie gemäß die Ansprüche auf Vollzug niemals. In letzter Konsequenz das Programm von Vergewaltigern, und obschon Georgs Gewaltpotential niedrig liegt, kann er sich doch einem verlockenden Gedanken nicht entziehen:

    "Camille, schrieb Georg auf seinem Bett, haßte die Frauen. Wenn sie eine Freundin hatte, dann war diese blaß, schwächlich, reizlos. Sie interessierte sich für Vergewaltigungen, weil sie die ideale Komplizin der Vergewaltiger gewesen wäre. (....) Auf diese Weise hoffte sie, den Orgasmus zu erlernen."

    Das Rätsel Frau, wie es sich in Camille offenbart, läßt den Protagonisten nicht los – auch wenn er wenig mehr als konventionelle Männerphantasien zur Erklärung aufbringt. Nach zehn Jahren loser Freundschaft hält er sie für eine verklemmte Sexualneurotikerin; sein eigenes Verhalten steht nicht zur Disposition. Wo sie dem Grundmuster der Verweigerung folgt, gibt er sich der Schrankenlosigkeit hin – im Weg des geringsten Widerstandes gleichen sich beide Strategien. Für den Mann wäre Zurückhaltung eine Herausforderung (nichts leichter, als sich ständig zu verströmen), für die Frau Öffnung. Beide verfehlen das Reifeziel, Georg in weitaus gravierendem Maße. Kurz nach dem vernichtenden Trennungsurteil begegnet ihm die mit dreißig Jahren fast doppelt so alte Lisa und schwingt sich zur Lehrmeisterin auf.

    "Er hätte vor Begeisterung schreien mögen. Er war tatsächlich in einer Frau! Rein technisch gesehen, gab es vielleicht nichts Rätselhaftes an diesem Vorgang (außer der Tatsache, daß dies alles so funktionierte, wie es funktionieren sollte) und dennoch verstand er nicht genau was mit ihm geschah, oder es geschah so vieles, daß er sich auf keine – noch nicht einmal seine am stärksten betroffene – Einzelheit konzentrieren konnte. Etwas zerbrach, etwas Unsichtbares, die gläserne Trennwand, die zuvor jeden weiblichen Körper verstellt und versiegelt hatte. Plötzlich war Lisa so nah, als würde er sie unter einem Vergrößerungsglas erblicken, nur daß es ja kein Glas mehr gab, sondern nur noch diese wahnsinnige Lupe des Raums, deren Brennkraft immer stärker wurde, bis er jede Pore dieses ihn umklammernden, stöhnenden Körpers begehrte und die Augen schloß, um gleich darauf dieses vertraute, allerdings tiefer und nachdrücklicher als je zuvor ansetzende Zucken an seiner Wurzel zu spüren. (...) Eine gewisse hygienische Verlegenheit war da noch – aber er konnte sich nicht mehr zurückhalten, und es war gewiß zulässig, es mußte so sein. Man spritzte nicht mehr herum, man bewunderte nicht mehr die rotgeschwollene einsame Erdbeerspitze, sondern man ergoß sich, aber was hieß das schon: Man schoß seine Seele jubelnd in die Nacht, und diese Nacht in Lisas Bauch überwölbte wie eine dunkle Kugel das gesamte morsche Stadtgehäuse von S."

    "Davon erholt sich Georg nicht mehr, und das wird ihm zum Verhängnis. Über zwanzig Jahre hinweg vermag er nicht zu begreifen, daß jegliches sexuelle Erleben vom Partner abhängt, individuell und nicht übertragbar ausfällt. Fürderhin setzt er in seinen Phantasien nach geglückten Abenteuern Camille an die Stelle der Frauen, mit denen er seine Orgasmen erlebte – sie sind mathematische Variabeln, ersetzbar und entbehrlich. Seine Filme drehen sich um "Die Lust der anderen" (Zentralthema und Filmtitel unisono); jeder beobachtete Kuß läßt auf tiefere Freuden schließen, als man sie je selbst erlebte. Georgs Liebesleben ist eine Fälschung und bei allem technischen Reichtum von tiefer emotionaler Armut. Über diese Form von Sexualität müßte eine entwickelte Gesellschaft eigentlich verzweifeln. Aber sie tut es nicht. Sie erliegt immer wieder den Verlockungen des schnellen, schalen Glücks. Georg ist ihr männlicher Prototyp.

    "Nabokovs Katze", dieser außerordentliche Beweis, daß man heute noch große Romane schreiben kann, die tiefgründig und intellektuell spannend sind, hieße wohl besser "Die Verödung" – in Anlehnung an Lehrs Erstling "Die Erhörung". So reflektiert der Held des Romans sein Leben auch im Griff zu haben scheint, zu den Quellen der Lust stößt er nicht vor. Weil er intelligent genug ist, dies zu merken, aber nicht ausreichend weise, es zu begreifen, erleben wir ihn über fünfhundert Seiten hinweg als verstörten Parzival, als tumben Tor, der bei Frauen sucht, was er nur bei sich finden könnte; bezeichnenderweise beschreibt einer seiner Wachträume die Vaterrolle bei zwei Kindern von Camille – eine Identität, die er im realen Leben stets zu umgehen weiß. Zurückgekehrt aus Mexiko und Nordamerika, wo er eine letzte wahnhafte Annäherung an seine Ikone macht – ihre indianischen Gesichtszüge müssen doch, denkt er seit Kindertagen, auf Ursprünge in der Neuen Welt verweisen –, zurückgekehrt in die deutsche Provinz spürt er sie in Heidelberg auf, schläft mit ihr, führt alles seinem gerechten Ende zu. Oder doch nicht? Der triumphale Eroberungsbericht an die in Amerika zurückgelassene Geliebte erweist sich als grobe Selbst und Fremdtäuschung, letzter Ausläufer einer narzißtischen Dauerinszenierung. Wahr daran ist nur das trockene Faktum des endlich vollzogenen Geschlechtsverkehrs, alles andere pure Phantasmagorie. Während der Lektüre dieser Passage leidet man unter dem aufschneiderischen Gestus des Briefeschreibers und bangt, der Autor hätte zum Schluß die Kontrolle über seinen Stoff verloren. Doch dann wendet sich das Blatt, und Camille ... Camille kommt zum ersten und einzigen Male selbst zu Wort. Ihr Tonfall: schneidend.

    "Aber zu uns, mein Lieber – das sage ich plötzlich ganz ernst: mein Lieber! Es war schön und notwendig, daß wir uns einmal auch körperlich geliebt haben. – Seit ich Dich verlassen habe, mit fünfzehn, hast Du mir bei jedem Treffen beweisen wollen, daß ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe und Du mir grenzenlos überlegen bist. (...) Du mußtest bei jedem unserer Zusammentreffen Deine Pfauenräder schlagen, und ebenso herablassend und stellenweise fürchterlich ist diese lange E-Mail schließlich, in der Du einer anderen Frau beschreibst, daß mein Anus »rührend verletzlich aussieht, wie ein vor Jahren ausgestochenes Auge«. (Möchtest Du ihn nicht noch mal sehen? Ich könnte Dich anscheißen!) Gib zu: Du wolltest mich immer haben, und Du hast es nie geschafft, obwohl Du wenigstens bei Deinem ersten Besuch in K. gute Chancen hattest. Ich war aber noch ziemlich verklemmt, ich konnte nicht direkt mit Dir über Sex sprechen und wollte vielleicht Sex mit Dir haben, vielleicht sogar mehr. Meine damalige Gesprächstherapeutin hat mir das so erklärt. (...) Georg, es tut mir leid, daß ich nicht im gleichen Atemzug obszön und zärtlich sein kann wie Du. Vielleicht kann ich es nur bei Dir nicht. Irgendwie fand ich es auch schön, daß nie etwas zwischen uns passiert war."

    Weil das Erstrebte ausbleibt, trägt sich zwischen den Buchdeckeln umso mehr an kunstvoller Sublimation zu – als wolle Thomas Lehr zum Abschluß des 20. Jahrhunderts noch einmal nachdrücklich das 19. ins Recht setzen mit seiner Freudschen Zentralthese, aller Geist und alle Kultur verdanke sich überformter Sexualität. Auch die Sprache dieser Mentalitätsgeschichte einer Generation, die so unendlich früh viel wußte, aber so wenig damit anzufangen vermag, orientiert sich trotz realistischer Diagnosen an den großen Werken der Vergangenheit. Lehr läßt Worte und Sätze für sich arbeiten, gravitätisch und schwer, manchmal etwas umständlich, der direkte Weg ist seinem vergrübelten Protagonisten nicht gegeben, er liebt die Arabeske und das teutonische Sprachspiel. Mit seiner mächtigen Kuppel scheint der Kaiserdom zu Speyer dieses literarische Werk zu überwölben; wenn man darunter schon nicht flüstert, so spricht man auch keineswegs Fraktur. Die Nähe zum Mannschen Kaisersaschern liegt auf der Hand, vor allem in den philosophischen Diskursen der wißbegierigen Provinzjugend. Wenn sich die Beschreibung jener ersten Nacht mit Georg Liebhabers von Camille so anhört:

    "Des Pudels Kern war sein Bart, ein schwarzer Lockenbart, der sich Camilles verbriefter Aussage nach weich wie das Fell des besagten Schoßtieres anfühle."

    So sieht man für den Rest der Lektüre einen schwer erträglichen Manierismus aufziehen, doch Lehrs Stilwille, seine Neigung, den realistischen Stoff in einem wenigstens angehobenen Ton zu erzählen, bleiben immer im Rahmen der selbstgesteckten Grenzen. Gewiß, wer der deutschen Literatur ihre Schwerblütigkeit vorwirft und auf angelsächsische Leichtigkeit pocht, wird bei "Nabokovs Katze" nur partiellen Lustgewinn verspüren, etwa in den außerordentlich detailliert geschilderten Bettszenen. Doch das sind nicht die Schätze dieses mit fünfhundert Seiten keineswegs überlangen Romans: Thomas Lehr hat mit seinem dritten Opus ein Sittenbild der späten Bundesrepublik vorgelegt, dem man auch in zwanzig Jahren noch entnehmen wird, warum die Kinder aus der aufstiegsorientierten Mittelschicht so ziellos durch ihr Leben irren und irgendwo in einer biographischen Sackgasse steckenbleiben. Vielleicht war die sexuelle Revolution nur ein Ablenkungsmanöver der herrschenden Schichten. Wenn ja, hat es hervorragend funktioniert – diese "78er"-Generation ist komplett paralysiert und Thomas Lehr ihr getreuer Chronist. Mindestens sie wird das Buch mit großem Gewinn lesen.