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Nach Corona-Ausbruch bei Tönnies
Lauterbach kritisiert Politik nach dem "Prinzip Hoffnung"

Nach dem Corona-Ausbruch beim Fleischunternehmer Tönnies müsse es einen lokalen Lockdown geben, forderte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im Dlf. Es könne sein, dass schon ein, zwei Wochen genügten. Was in NRW bisher geschehe, sei in der gefährlichen Situation zu wenig.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Jasper Barenberg | 22.06.2020
Der SPD-Gesundheitspolitiker und Epidemiologe Karl Lauterbach
Der SPD-Gesundheitspolitiker und Epidemiologe Karl Lauterbach (Imago)
Die Reihentests auf dem Gelände von Deutschlands größter Fleischfabrik sind inzwischen beendet. Im Landkreis Gütersloh und darüber hinaus sind jetzt noch mehr als 30 mobile Teams unterwegs, um Haushaltsangehörige von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Städten und Gemeinden zu erreichen, um zu testen, um zu unterstützen.
Alle 7.000 Beschäftigten und das Management hat der Kreis Gütersloh per Verordnung unter Quarantäne gestellt. Einen Lockdown will CDU-Ministerpräsident Armin Laschet nicht ausschließen. Für den Moment aber hat sich der Regierungschef dagegen entschieden, das ganze öffentliche Leben herunterzufahren. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hingegen plädiert im Dlf für einen kurzen Lockdown - mit zahlreichen Tests in der Region.
Jasper Barenberg: Herr Lauterbach, Sie finden das Vorgehen der Landesregierung ja zu zögerlich. Warum?
Karl Lauterbach: Der Ausbruch in dieser Größenordnung, der muss sich über Wochen hinweg angebahnt haben. So etwas passiert nicht in ein, zwei, auch nicht in drei Wochen. Hier sind Zeiträume von vier bis sechs Wochen mindestens zu veranschlagen. Sonst kommen Sie niemals auf diese Größenordnungen. Somit wäre es wahrscheinlich, dass in den zurückliegenden Wochen die Ausbreitung sich über das Werk hinweg in die Bevölkerung gefressen hat. Alles andere wäre eine Überraschung. Denn die Werksangehörigen waren ja bis dato nicht in der Quarantäne, waren nicht isoliert. Die Schulen wurden schon angesprochen - die sind aber nicht der einzige Bereich. Somit ist einfach schlicht wahrscheinlich, dass in der Bevölkerung der Städte, wo die Menschen leben, die bei Tönnies arbeiten, dass es dort schon Fälle gibt.
Daher kann man nicht ausschließen, dass sich dort andere Herde längst gebildet haben. Dazu haben wir keinerlei Bezug. Wir gehen jetzt in die Gefahr im Wesentlichen, wenn diese Menschen in Urlaub reisen würden, durch ganz Deutschland reisen, dass sich hier ein Herd aufbaut, von Gütersloh ausgehend und der Umgebung, in andere Bundesgebiete. Daher wäre aus meiner Sicht das im Prinzip der Idealfall für einen lokalen Lockdown, den man so lange zumindest nutzt, bis man weiß, wie viele Menschen haben sich in der Gesamtbevölkerung, in der umliegenden Bevölkerung bereits infiziert, und dass wir es dort wieder in den Griff bekommen. Denn das schuldet man der Restbevölkerung nicht nur in NRW.
Ein Helfer vom Roten Kreuz steht mit FFP-Maske vor einem abgesperrten Wohnhaus. Die Stadt Verl hat nach positiven Corona-Tests bei zahlreichen Tönnies-Mitarbeitern im Stadtteil Sürenheide eine Quarantäne eingerichtet. 
COVID-19 bei Tönnies - Riskant, diesen Ausbruch für kontrollierbar zu halten
Mehr als 1.300 Infizierte beim Fleischverarbeiter Tönnies und immer noch kein Lockdown im Kreis Gütersloh. NRW-Korrespondentin Vivien Leue kommentiert, die Landesregierung wolle zeigen, dass sie alles im Griff habe. Dabei verspielten die Behörden womöglich wertvolle Reaktionszeit.

Bei einer Pandemie nicht "aufs Glück verlassen"

Barenberg: Jetzt ist das Argument von Armin Laschet - wir haben es gerade auch noch mal gehört -, dass es bisher keinen Übersprung von Infektionen vom Unternehmen in die allgemeine Bevölkerung gibt, jedenfalls nicht nachgewiesen, und dass deshalb die im Moment stattfindenden zielgerichteten Maßnahmen, um das Ganze regional einzudämmen und einzugrenzen, greifen. Was Sie sagen läuft ja darauf hinaus, dass man als reine Vorsichtsmaßnahme das öffentliche Leben schon vollständig herunterfahren sollte. Habe ich Sie da richtig verstanden?
Lauterbach: Nein. Laschet sagt, es sei nicht übergesprungen, aber de facto weiß er das ja nicht, weil wir haben ja keine Reihenuntersuchung gemacht. Niemand weiß, wie hoch, sage ich mal, die Prävalenz, die Häufigkeit von Positiven derzeit in Gütersloh und in anderen Städten ist. Das heißt, dass es nicht übergesprungen ist, ist eine reine Vermutung. Es hat ja keine Stichprobe gegeben.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Barenberg: Aber Ihre Vermutung, Ihre Aussage, dass es übergesprungen sein muss, ist ja auch eine Vermutung.
Lauterbach: Die Vermutung ist klar die: Wir haben ja viele Fleischprobleme ähnlicher Art auch in Fleischfabriken in den Vereinigten Staaten gehabt. Bei Ausbrüchen dieser Größenordnung, wo, einmal über den Daumen gepeilt, jeder Fünfte sich schon infiziert hat in der Fleischfabrik, war es immer dort auch in die Bevölkerung schon übergesprungen – einfach deshalb, weil sich so etwas über Wochen hinweg aufbaut. Das wäre somit der wahrscheinliche Umstand auch hier vor Ort.
Es könnte anders sein, aber da kann ich mich ja nicht bei einer solchen Pandemie aufs Glück verlassen. Ich kann ja nicht hoffen, das ist noch gut gegangen, sondern ich muss das prüfen, und ich kann das prüfen, indem ich in dieser Zeit die Lockdown-Bestimmungen umsetze, bis ich Gewissheit habe. Es ist nicht auszuschließen, dass es nicht übergesprungen ist; es ist aber unwahrscheinlich, und das müsste man jetzt prüfen in einer Situation, wo es verhindert wird, dass es weitergegeben wird auch über die Kreise hinweg, gerade in Anbetracht der bevorstehenden Urlaubssaison.
"Reine Vermutung", wo das Virus sich ausbreitete
Barenberg: Sie haben auch gesagt, dass nach Ihrem Eindruck die Behörden vor Ort die Situation nicht im Griff haben. Meinen Sie damit, dass man sie auch nicht im Griff haben kann, oder welche Anzeichen, welche Informationen haben Sie dazu?
Lauterbach: Insgesamt ist ja der Eindruck, der entstanden ist, der folgende: Es hat sehr lange gedauert, bis man überhaupt die Wohnadressen bekommen hat. Jetzt heißt es, man versuche, die sogenannte Arbeits-Quarantäne abzusichern. Das kann aber bei so vielen Wohnquartieren gar nicht eindeutig gewährleistet werden. Und es ist darüber hinaus sogar so, dass auch jetzt noch in der sogenannten Nacharbeit im Bereich der Arbeits-Quarantäne sieht, dass man in dem Werk noch arbeiten kann. Die Vermutung, dass es bei der Zerlegung passiert ist, ist auch bisher nur eine reine Vermutung. Es gab sehr viele Ausbrüche dieser Art, wo es nicht in der Zerlegung gewesen ist, und das ist auch noch nicht wissenschaftlich untersucht. Somit ist es eigentlich aus meiner Sicht wie folgt zu beschreiben: Ich glaube, das Ganze ist durch das Prinzip Hoffnung gekennzeichnet. Man hofft, dass es bei der Zerlegung passiert ist. Man hofft, dass es noch nicht übergesprungen ist auf die Bevölkerung. Man hofft, dass man die Quarantäne der Arbeiter einigermaßen gewährleisten kann und dass das nicht weitergeht. Aber das ist aus meiner Sicht in einer so gefährlichen Situation zu wenig.
Durch den Ausbruch bei Tönnies sind alle Schulen und Kindergärten im Kreis Gütersloh geschlossen worden. 
Schulschließungen nach Corona-Ausbruch - Landrat: "Ich will die Kinder im Kreis Gütersloh schützen"
Sven Georg Adenauer (CDU), Landrat des Kreises Gütersloh, hat die Schul- und Kitaschließungen in seinem Kreis nach dem Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik Tönnies verteidigt. Man wolle die gesunden Kinder schützen. Die Wut der Eltern sei aber nachvollziehbar.
Barenberg: Jetzt sagen Sie, man muss da schärfer und strenger vorgehen. Sie plädieren für den Lockdown im Kreis Gütersloh und den angrenzenden Gebieten. Was würde das bedeuten?
Lauterbach: Dass man in dieser Zeit tatsächlich systematisch testet, wie viele sind infiziert, auf der Grundlage einer Stichprobe, die man sofort nimmt, so dass man sich ein Bild davon macht, ist es übergesprungen oder nicht. Die Menschen sind dann ja nicht gebunden. Das ist ja nicht wie bei der Arbeits-Quarantäne, dass man sich nur zuhause aufhält, sondern dass man Veranstaltungen, die 50 Leute und mehr haben, schlicht und ergreifend verbietet, dass man nicht mehr Zusammenkünfte von bestimmten Personengruppen unterschiedlicher Haushalte derzeit macht, dass man die Sportvereine für eine Zeit lang schließt.
Das kann eine begrenzte Zeit sein. Es kann sein, dass hier ein, zwei Wochen schon genügen. Wenn wir ein Bild haben, wie weit das verbreitet ist, und bekommen einen Stopp, dann ist das aus meiner Sicht auch für die Anwohner besser, als dass das nicht gelingt, und man hat danach über Wochen hinweg damit zu kämpfen.
Lob für Menschen in der Region
Barenberg: Könnte Gütersloh - wie groß schätzen Sie die Gefahr ein - so etwas wie das nächste Ischgl werden? Und was würde das bedeuten?
Lauterbach: Nein, das könnte es nicht werden, weil Ischgl ist ja komplett unkontrolliert gelaufen. Das heißt, Gott sei Dank ist es so, dass sich sehr viele Menschen auch in Gütersloh und den benachbarten Städten vernünftig verhalten, das heißt auch ohne Lockdown vieles machen, was sehr vernünftig und klug ist, und damit Ausbreitungen vermeiden. Das ist zumindest das, was ich von vor Ort höre. Daher glaube ich nicht, dass es ein zweites Ischgl sein kann. Aber wir müssen vorsichtig sein.
Wir haben jetzt in Deutschland an mehreren Orten eine Wiederkehr des Virus. Wenn wir mit zu vielen Zahlen in den Herbst hineingehen, dann werden wir im Herbst eine zweite Welle bekommen können. Das muss verhindert werden. So ein Fall wie jetzt in Gütersloh, das darf nicht so frei laufen wie jetzt. Wir können in einem solchen Fall nicht darauf angewiesen bleiben, dass wir Glück haben. Das kann so sein, dass von dort die Menschen in Urlaub reisen, oder auch, weil das Werk jetzt geschlossen oder teilgeschlossen ist, in die entsprechenden Länder zurückreisen, dass wir dann tatsächlich ein Herd werden – nicht so groß wie Ischgl, aber dann wäre Gütersloh auch ein Herd geworden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.