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Nach dem Abriss von Sulukule

Das älteste Roma-Viertel von Istanbul war die Siedlung Sulukule am Rand der Theodosianischen Stadtmauer. 2007 begann der Abriss der Siedlung auf der Grundlage eines neuen Gesetzes zur Erdbebenprävention. Sulukule war das erste ausgewiesene Sanierungsgebiet, in dem das neue Gesetz zur Anwendung kam, andere sollen in Kürze folgen.

Von Tanja Runow | 27.01.2011
    Was früher Sulukule hieß und eine der ältesten Roma-Siedlungen der Welt war, ist heute eine gut gesicherte Baustelle. Nur von der antiken Stadtmauer aus kann man die Rohbauten der neuen Luxuswohnungen sehen, die schon fast von Bauzaun zu Bauzaun reichen. Vom Leben der 3500 Roma, die hier bis vor Kurzem noch zuhause waren, fehlt jede Spur.

    In einem Teehaus am Rand der Baustelle sitzen ein paar Männer beim Karten spielen. Einige Kinder sind auch dabei. In der Mitte ein Bollerofen, an den Wänden Käfige mit Kanarienvögeln. Regelmäßig treffen sich hier einige der ehemaligen Bewohner von Sulukule.

    "Vor dem Abriss hatten wir ein Café, das war 220 Quadratmeter groß, mit Garten. Wir haben viel Musik dort gemacht, unseren Kindern Instrumente beigebracht. Alles vorbei! Unsere neuen Nachbarn sind keine Roma. Die rufen die Polizei, wenn wir hier Musik machen!"

    Aber ganz ohne scheint es auch nicht zu gehen. Sükrü Pündük hat mit drei anderen Roma aus Sulukule einen Verein gegründet und beim Europäischen Gerichtshof Klage eingereicht. Jetzt wartet er auf das Urteil.

    "Wir wollen das Projekt stoppen! Sie haben uns viel zu wenig gezahlt für unsere Häuser. Jetzt verkauft die Stadt den Grund für das Drei- bis Fünffache!"

    Die neuen Luxuswohnungen kann sich hier im Raum niemand leisten. Alternativ wurden den Menschen aus Sulukule Eigentumswohnungen am Stadtrand angeboten, die sie in Raten abzahlen können. Auch keine wirkliche Lösung, meint Pündük. Denn der Großteil der Istanbuler Roma arbeitet im Straßenverkauf oder als Musiker und ist deshalb auf die Nähe zum Stadtzentrum angewiesen.

    "Wir können nirgends anders hin. Hier verdienen wir unser Geld. Wir machen Musik. In Beyoglu, in Emniyet. Wenn du einen Eisbär in der Wüste aussetzt, wird er da überleben? Nein!"

    Die Wüste ist in diesem Fall der künstlich geschaffene Vorort Tasoluk. Dort sollten die Bewohner von Sulukule angesiedelt werden, in einer Anlage der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI. Viele sind tatsächlich dorthin gezogen. Auch Sükrü Pündük. Mittlerweile ist er aber wieder zurückgekehrt.

    "Tasoluk? Ein Ort für Rentner ist das: schön ruhig. 330 Familien sind dort hingegangen, aber nur fünf sind geblieben. Warum wohl? Weil man dort nicht leben kann! Die Häuser waren ok. Aber die Gegend! Mit dem Auto brauchst du anderthalb Stunden von hier. Kein Schwein fährt da raus um Musik zu hören, 45 Kilometer außerhalb von Istanbul."

    Sulukule war als Vergnügungsviertel bekannt. Als Ort, den man besuchte, um zu feiern, Musik zu hören, zu trinken. Die Grenzen zwischen Unterhaltung und Prostitution waren fließend. Kritiker unterstellen der Stadtverwaltung deshalb, sie habe das niedrig bebaute Viertel in Wirklichkeit nicht wegen der Erdbebengefahr abgerissen, sondern aus Kontrollwut und Profitgier. Sie sehen in der Massenumsiedlung einen Versuch, finanzschwache Minderheiten aus dem Istanbuler Stadtzentrum zu vertreiben.

    "Die Leute haben verkauft, weil sie Angst hatten! Sie dachten, das kommt von oben, da können wir nichts gegen ausrichten. Aber wenn wir diesen Prozess gewinnen, dann werden die anderen auch vor Gericht ziehen, das ist doch klar!"

    Programmtipp

    Der Abriss und Neuaufbau von Sulukule ist nur eine von vielen Maßnahmen der Stadtumgestaltung und -erneuerung, die derzeit in Istanbul im Gange sind. Stadtplaner haben einen Masterplan entwickelt, der helfen soll, die wild wuchernde Metropole und ihre wild wuchernden Probleme in den Griff zu bekommen, jetzt wird er umgesetzt. Mehr dazu bringt die Sendung "Gesichter Europas" im Deutschlandfunk am Samstag, 29.1.2011 um 11:05 Uhr unter dem Titel "Istanbul - eine Stadt räumt auf".