So ein Erfurter Schüler. Empört und aufgewühlt - so reagierten die Schüler des Gutenberg-Gymnasiums auf das Verhalten der Medien nach dem Amoklauf in Erfurt. Und nicht nur sie, die unmittelbar Betroffenen, auch Politiker, Psychologen, Polizisten richteten den kritischen Blick schon bald nach dem entsetzlichen Ereignis auf die Journalisten. Bundeskanzler Gerhard Schröder:
Ich werde mit den Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender, aber - was mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist - mit den Leitern der privaten Sender zu reden haben; und vielleicht findet sich hier auch die Möglichkeit, im Rahmen dessen, was man Selbstkontrolle nennt, weiterzukommen. Wenn das nicht funktioniert, wird man nach Wegen suchen müssen, das gesetzlich zu regeln.
Die Debatte ist erneut eröffnet. Heute Abend trifft sich der Kanzler mit den Verantwortlichen der Fernsehsender, um mit ihnen über eine freie Selbstkontrolle zu sprechen. Die ARD hat bereits erste Konsequenzen gezogen. So meldeten mehrere Agenturen zu Beginn dieser Woche:
Als Konsequenz aus dem Amoklauf in Erfurt nimmt die ARD in den kommenden Wochen vier Filme aus ihrem Programm. Dabei handelt es sich um die Streifen 'Massaker im Morgengrauen', 'Mord nach Schulschluss', 'Mörderisches Klassenzimmer' und 'Terror an der Schule'.
Bereits 1999, nach dem Massaker zweier Halbwüchsiger in Littleton, Colorado, hatte eine große Diskussion begonnen, in der bald die üblichen Verdächtigen gestellt waren: Der US-amerikanische Waffenkult und die Medien. Die Verantwortung trage, so resümierte die FAZ, "eine in die Gewalt geradezu verliebte Fernsehkultur." Speziell ins Visier gerieten die neuen Medien. Die Täter von Littleton hatten sich, ehe sie aktiv wurden, nicht nur mit Hilfe von Gewaltfilmen, sondern auch durch Computerspiele und Hass-Musik in Stimmung gebracht. Ähnliches gilt möglicherweise für den Täter von Erfurt.
Der Amoklauf des 19-jährigen im Gutenberg-Gymnasium setzt eine ganze Reihe ähnlich schrecklicher, ähnlich rätselhafter Eruptionen überwiegend jugendlicher Gewalt fort. Über ihre Ursachen gehen die Meinungen auseinander. Doch viele dieser Fälle haben ein verbindendes Moment: Die jugendlichen Täter hatten, ehe sie ihre Taten begingen, Gewaltfilme gesehen. Nicht selten gaben sie an, von Filmszenen zu ihrem Tun angeregt worden zu sein.
Natürlich hören es die Verantwortlichen der TV-Konzerne und Filmgesellschaften nicht gern, wenn ihren Produktionen eine verrohende Tendenz vorgeworfen wird. Auf Medienkongressen wird seit Jahren eindringlich davor gewarnt, einen kausalen Zusammenhang zwischen Gewaltdarstellungen und Gewaltanwendung herzustellen, weil er in Wirklichkeit gar nicht existiere. In diesem rituellen Streit bedient die Forschung beide Seiten. Vor einiger Zeit konnte man von einer Untersuchung unter den Bewohnern der Insel St. Helena lesen. Auf dieser abgelegenen Insel, die der letzte Aufenthaltsort des Kaisers Napoleon war, gab es bis 1995 kein Fernsehen. Nun untersuchten englische Verhaltensforscher, wie die Einführung dieser Errungenschaft auf die Menschen gewirkt habe. Und oh Wunder: Speziell bei Kindern beobachteten die Forscher weniger unsoziales Verhalten, ja sogar einen Zuwachs an Friedfertigkeit.
Dieses eher skurrile Forschungsergebnis illustriert, dass auf die Fachwissenschaften nur bedingt Verlass ist, wenn es darum geht, Aufschluss über die Wirkungsweise des Fernsehens zu bekommen. Allerdings kommt es immer seltener vor, dass negative Beeinflussungsmöglichkeiten dieses Massenmediums kategorisch verneint werden. Uwe Kammann, Medienexperte der Nachrichtenagentur epd:
Eine eindeutige Antwort gibt es gar nicht. Im Gegenteil: Die Wissenschaft hat sich lange gestritten. Jetzt scheint sich aber so etwas wie ein Konsens herauszustellen. Danach haben die Medien einen Gewöhnungseffekt, den sie auslösen können. Das heißt, wenn man tagtäglich Gewaltszenen sieht, wenn man dieses als Muster von Konfliktlösung sieht, wenn der Stärkere in der Regel auch der Gewinner ist, dann kann sich das unbemerkt in den Seelen von Kindern, natürlich auch von Erwachsenen, festhaken.
Umstritten ist nur, wie diese Beeinflussung geschieht und welche Dispositionen beim Empfänger vorliegen müssen, damit beispielsweise das Anschauen einer bestialischen Quälerei in einem Horrorvideo zur Handlungsvorlage wird. Einig sind sich die ernstzunehmenden Studien darin, dass der Boom der Gewalt in den elektronischen Medien ein Problem darstellt, das der Öffentlichkeit nicht länger gleichgültig sein kann. Dass es eine stetige Zunahme von Gewaltdarstellungen vor allem im Fernsehen gibt, kann seriöserweise nicht bestritten werden. Der amerikanische Telekommunications Act von 1996 hält fest:
Das durchschnittliche amerikanische Kind ist jede Woche während 25 Stunden dem Fernsehen ausgesetzt. Dabei werden Kinder im Durchschnitt mit 8000 Morden und 100 000 Gewaltakten konfrontiert.
Auch in Deutschland hat Gewalt in den Medien Hochkonjunktur. Nach einer Untersuchung der "Hör Zu" wurden 1998 in TV-Spielfilmen 439 mal Kinder geprügelt, vergewaltigt, ermordet. 25 000 Morde werden pro Jahr im deutschen Fernsehen gezeigt, 25 Stunden Mordszenen pro Woche. Die Gewaltwelle ist eine wahrhaft globale. Nach einer Unesco-Studie, die die Verhältnisse in 23 Ländern der Erde unter die Lupe nahm, ist Arnold Schwarzenegger, der große Terminator, Vorbild Nummer eins der Jugendlichen, gleichgültig ob sie in den USA oder in Afrika oder in Australien leben. Der Gewaltmensch ist weltweit identitätsstiftend. Kann das ohne Wirkung bleiben? Die Antwort der Unesco-Studie auf diese Frage lautet eindeutig nein: 10 Prozent der Kinder, so schätzt sie, sind durch Gewaltdarstellungen beeinflussbar.
Die Unesco-Studie ist eine von zahlreichen Untersuchungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit den Wirkungen von Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen auseinandergesetzt haben. Auf 6000 Einzelforschungen soll es dieser Zweig der Wissenschaft inzwischen gebracht haben. Grob gesprochen lässt sich diese beachtliche Kompilation in zwei Extrempositionen aufgliedern. Die eine unterstellt, dass die Konsumenten den Medien hilflos ausgeliefert sind und der Konsum von Gewaltdarstellungen speziell die Kinder verroht und zu nachahmenden Handlungen verleitet. So steht für den erbitterten Gouverneur des Staates Arkansas nach dem Amoklauf von Littleton fest:
Schuld ist eine Kultur, in der Kinder im Fernsehen und im Kino Zehntausenden von Morden ausgesetzt sind.
Die andere Position, die verständlicherweise gern von den Verantwortlichen der Bildermedien eingenommen wird, behauptet, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Gewalt bestehe. Diese Schule warnt vor Kurzschlüssen. So sei es leichtfertig, die Ermordung einer Lehrerin durch einen ihrer Schüler darauf zurückzuführen, dass kurz zuvor im Kino der Film "Tötet Mrs. Tingle" lief, der von der Wut der Schüler auf eine Lehrerin handelt. Während die erste Schule darauf baut, dass das Anschauen von Gewaltszenen im Fernsehen zur Imitation führen kann, steht letztere auf dem Standpunkt, dass derselbe Vorgang das Gegenteil, nämlich einen psychohygienischen Prozess bewirken könne, eine Katharsis gewissermaßen.
In dieser Pauschalität überzeugt weder die eine noch die andere Extremposition. Eine ausschlaggebende Rolle für den Grad der Beeinflussung spielt zweifellos die Disposition des Empfängers. Der niedersächsische Innenminister und Kriminologe Professor Christian Pfeiffer:
Jugendliche, die aus normalen, guten Elternhäusern kommen, entwickeln gar keine Symptome, außer dass sie vielleicht ein bisschen abgebrühter werden gegenüber Gewalt. Hochgefährdete dagegen, die nicht wissen, wo's lang geht, die kein klares Selbstbild haben, und solche, die von Wut gegenüber jemand erfüllt sind, für die kann das eine Handlungsanleitung werden, sich den Frust vom Leibe zu bringen, und das kann in Aggressionen münden. Von daher: Für die eine kleine Gruppe aggressionsfördernd, für die andere eigentlich ohne Bedeutung.
Denken wir uns einen Jugendlichen, der Gewalt im täglichen Leben erfährt, der beispielsweise immer wieder erleben muss, wie der Vater die Mutter schlägt: Ihn werden Gewaltdarstellungen im Fernsehen stimulieren.
Laut Professor Jo Gröbel, Generaldirektor des Europäischen Medieninstituts, zeigen Großkonsumenten von Gewaltfilmen folgende Symptome: Sensibilität und Mitleid mit den Opfern nehmen ab. Es sinkt die Hemmschwelle, Gewalt gutzuheißen. Kindern und Jugendlichen, die einen psychischen Knacks haben, fällt es schwer, Realität und Fiktion zu unterscheiden. Durchschnittlich drei Stunden verbringen 12-jährige Kinder täglich vor dem Fernseher. Das sei an sich nicht beunruhigend, sagt Jo Gröbel. Aber:
Es wird eben gerade von Jungs ein großes Maß von Gewalt in dieser Zeit konsumiert, und diese Gewalt wird nicht etwas so dargestellt, dass man danach sagen würde: Naja, Gewalt ist also doch ziemlich unangenehm oder schädlich, und sie hat Opfer. Die Gewalt wird eigentlich eher so präsentiert, dass sie belohnt wird, dass es eine gute Möglichkeit ist Probleme zu lösen, einfach Spaß macht und Status bringt.
Die fortwährende Begegnung mit Gewaltdarstellungen kann nicht bloß zu erhöhter Gewaltbereitschaft führen, sondern auch zu vermehrter Angst vor Gewalt. Schon vor 15 Jahren wurde von amerikanischen Kommunikationswissenschaftlern nachgewiesen, dass "heavy viewers", das heißt Menschen, die über drei Stunden täglich vor dem Fernseher sitzen, zehnmal häufiger als andere Angst hatten, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Mit dem Nachahmungseffekt hat sich der Schriftsteller Umberto Eco beschäftigt.
Jeder weiß: wenn heute zwei Selbstmorde auf den Titelseiten der Zeitungen stehen, gibt es morgen einen dritten. Wenn sich ein Bonze mit Benzin übergießt und sich auf einem öffentlichen Platz ansteckt, gibt es bestimmt einige Nacheiferer. Die Gewalt im Fernsehen kann verführen und eine gewisse mimetische Gewalt erzeugen.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer glaubt einen mimetischen Effekt auch bei ausländerfeindlichen Anschlägen nachweisen zu können. Und auch der Erfurter Amokschütze habe seine Tat nach einer fiktiven Vorlage inszeniert - in Analogie zu dem blutrünstigen Computerspiel Counter-Strike:
Das ist offenkundig. Er hat ja genau das getan, was das Computerspiel vorzeichnet: sich verkleiden, mit einem Gewehr und einer Pistole in die Schule gehen, alles umnieten - also da hat er wirklich schauspielerisch, in einer Inszenierung, was er da gesehen hat, umgesetzt; und das ist auch bei vielen anderen Amokläufern, dem Reichenhaller beispielsweise, genauso gewesen. Also, dass solche Hochgefährdeten dann diese Vorlage, die der Film oder das Computerspiel bietet, umsetzt, ist leider der Fall.
Wie kommt es zu der Häufung von Gewaltdarstellungen? Die Erklärung, dass Gewalt Quote mache, ist nicht so einfach von der Hand zu weisen, auch wenn die Macher nichts davon wissen wollen. Achselzuckend rechtfertigen sie ihr Tun mit der Behauptung, die Medien spiegelten nur den allgemeinen Zustand der Gesellschaft, ihre Wünsche und Obsessionen. Dass diese Erklärung verharmlost, ist offenkundig. Es wäre ja immerhin denkbar, dass der Zustand der Gesellschaft, den die Medien angeblich spiegeln, von ihnen mit herbeigeführt wurde. Außerdem lassen diese Rechtfertigungsversuche außer acht, dass sich in der Art und Weise, wie Gewalt dargestellt wird, in den letzten Jahren viel geändert hat.
Zweifellos haben in der Filmgeschichte Mord und Totschlag stets eine herausragende Rolle gespielt. Doch während früher mehr oder minder klar zwischen Gut und Böse unterschieden wurde, fehlt dieses Regulativ heute nicht selten. Man kann sogar behaupten, dass die Aufhebung dieser Differenz geradezu ein Markenzeichen vieler moderner Filme ist. In dem Streifen "Natural born killers" bringen es die Hauptakteure, ein übergeschnapptes Pärchen, auf nicht weniger als 52 Morde. Die beiden enden als Volkshelden, mit denen sich jeder identifizieren kann - nicht nur in der Vorstellung. Ein Einzelfall ist das beileibe nicht. Immer öfter sieht man Filme, in denen Gewalttäter die ganze Einfühlsamkeit des Drehbuchs genießen, während die Cops die Miesen sind. Diese Tendenz zur Gewalt-Verherrlichung beobachtet und verurteilt auch Manfred Kock, Präses der evangelischen Kirche in Deutschland:
Ich bin der Meinung, dass wir durch die Art und Weise, wie Gewalt zelebriert wird, etwas wie eine Ent-Tabuisierung haben. Ich erinnere mich an meine Kindheit - wir haben uns auch gekloppt mit den Kindern in der Nachbarstraße, aber es gab bestimmte Regeln, die wir einhielten: Also, nicht mehr nachtreten, wenn einer schon am Boden liegt. Nicht unter die Gürtellinie hauen. Also, es gab auch, wenn man die Wut hatte, immer noch eine Hemmschwelle. Und durch die Art und Weise, wie das dargestellt wird in manchen Krimis oder Psychoschockern, da wird eigentlich vorgelebt, wie enthemmt wird.
Auch eine andere Entwicklung ist augenfällig: die Brutalisierung der Darstellung. Man kann diese Entwicklung an der Tatort-Reihe ablesen. Wer heute in den Dritten Programmen frühe Tatort-Krimis sieht, wird nicht bloß feststellen, dass sie besser waren. Ein Mord war noch ein Mord, d.h. in der Regel herbeigeführt durch Erschießen, wobei die Leiche dezent im Hintergrund blieb. Heute muss es in einem Streifen wenigstens eine Vergewaltigung geben, eine Kindesmisshandlung, eine zombiehafte Zerstückelung. Die Kamera verweilt voyeurhaft auf abgeschnittenen Ohren und anderen Leichenteilen.
Die Gewürze werden immer schärfer,...
... sagt Norbert Schneider, Direktor der Landesmedienanstalt von Nordrhein-Westfalen. Und tatsächlich: Das "testing the limits" ist ein Phänomen, das den Medienmarkt und hier nicht nur den Film, sondern auch die neuen Medien, charakterisiert. Die Berufung auf künstlerisch-ästhetische Intentionen wirkt da nicht immer überzeugend. Er habe einen Film über die 90er Jahre machen wollen, erklärte Oliver Stone, als seinem Streifen "Natural born killers" der Vorwurf sinnloser Brutalität gemacht wurde. Laut "Spiegel" soll "Natural born killers" zehn realen Mordserien als Vorlage gedient haben. Der bekannteste Fall betrifft zwei Jugendliche, die, nachdem sie ein paar Tabletten LSD geschluckt und den Stone-Film wieder und wieder gesehen hatten, eine Verkäuferin bei einem Raubüberfall niederschossen.
"Testing the limits": Die letzten Tabus werden gebrochen, die Grenzen des Möglichen immer weiter hinausgeschoben. Dies dient als Hebel, Aufmerksamkeit zu erregen. Verhalten sich die jungen Glatzköpfe, die Hitler-Parolen brüllen, sehr viel anders? Sie haben nur wenig im Hirn, aber in einem Punkt sehen sie ganz klar: Dass die Zurschaustellung von Nazi-Emblemen und Prozessionen zum Grab von Rudolf Heß vermutlich zu den letzten Mitteln gehört, um von sich reden zu machen. "Der mediale Gewaltmarsch", schrieb die "Woche" vor einiger Zeit, "ist ein Wettrennen um Effekte und Aufmerksamkeit."
Neben Tendenzen im fiktionalen Bereich, im Bereich von Film und Fernsehen, verdient auch der non-fiktionale Bereich Beachtung - also das Feld der journalistischen Berichterstattung über Gewalt. Die Brutalisierung - andere würden sagen: der Realismus der Bilder z.B. in den Fernsehnachrichten - nimmt ständig zu. Eine gewisse Dezenz der Darstellung, die früher auch der Kriegsberichterstattung zu eigen war, weicht immer mehr einer Praxis, die die Opfer rücksichtslos zur Schau stellt. Ob es den Verantwortlichen dabei wirklich darum geht, eine abschreckende Wirkung zu erzielen, oder ob nicht ganz einfach auch hier die Reizschwelle zugunsten der Quote gesenkt wird, ist nicht ganz einfach zu beantworten.
Ein schwieriges Problem stellt die journalistische Auswahl dar. Es gibt den landläufigen Vorwurf, Journalisten malten die Welt schwärzer als sie in Wahrheit sei. Medienmacher kontern diesen Vorwurf gern mit dem "Mann-beißt-Hund"-Prinzip. Druckreif ist nicht das Normale, sondern das Hervorstechende: Unwetter, Unglück, Krieg und Mord. Sie rufen Zeugen auf, die würdiger nicht sein könnten: Niemals wäre Thukydides unsterblich geworden, hätte er, statt über den Peloponnesischen Krieg zu berichten, das friedvolle, sonnenreiche Attika besungen. Und ist nicht die Bibel mit ihren Mord- und Wunderschilderungen in gewisser Weise der Sensationsliteratur zuzuordnen? Kein Zweifel, in allen Zweigen der Überlieferung wurde und wird dem Spektakulären und Gewalttätigen der Vorrang vor dem Alltäglichen und Friedfertigen eingeräumt.
Die journalistische Berichterstattung macht da keine Ausnahme. Ihre Auswahlkriterien entsprechen dem Publikumsgeschmack. Die Leser, Hörer, Zuschauer mögen noch so sehr über die Bevorzugung der "bad news" klagen. Tatsächlich fühlen sie sich dabei sehr wohl; die Auflagenzahlen der Boulevardblätter und die Quoten des Fernsehens bestätigen es. Doch das allein besagt wenig. Die Art und Weise, wie die Wirklichkeit durch Medien vermittelt wird, hat Folgen.
Das Thema "Medien und Gewalt" ist facettenreich, und seine speziellen Ausprägungen in den neuen Medien müssen weiter erforscht werden. Doch es gibt Anlass genug, die traditionellen Medien bei diesem Thema nicht aus den Augen zu verlieren. Irgendwann wird es in "Global village" ein neues Erfurt geben. Wieder wird die Erregung hochschlagen und wieder wird die Ratlosigkeit noch größer sein als das Entsetzen. Wieder wird man nach schärferen Gesetzen rufen, um dann zu dem Schluß zu kommen, dass neue Gesetze nicht helfen. Aber was hilft? Präses Manfred Kock appelliert an den Geschmack des Publikums und fordert statt neuer Gesetze:
...eine Kontrolle der Gesellschaft ihrer selbst, also eine Selbsterziehung der Gesellschaft, sich nicht alles vorsetzen zu lassen: durch Abschalten verweigern. Diese Sender brauchen ja die Werbequote. Und da kann die Gesellschaft selbst schon insgesamt was machen. Wenn so viel Millionen, wie sich jetzt empört haben, das nicht mehr sehen würden, dann würde es auch nicht mehr gezeigt.
Letztlich wird es auf die Einsicht der Filmemacher und Journalisten ankommen. Sie müssen die Wirkung ihres Handelns reflektieren, müssen erkennen, dass hemmungslose Effekthascherei ihre Glaubwürdigkeit erschüttert und dass "testing the limits" ein Weg ist, den die Gesellschaft auf Dauer nicht ertragen kann.
Ich werde mit den Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender, aber - was mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist - mit den Leitern der privaten Sender zu reden haben; und vielleicht findet sich hier auch die Möglichkeit, im Rahmen dessen, was man Selbstkontrolle nennt, weiterzukommen. Wenn das nicht funktioniert, wird man nach Wegen suchen müssen, das gesetzlich zu regeln.
Die Debatte ist erneut eröffnet. Heute Abend trifft sich der Kanzler mit den Verantwortlichen der Fernsehsender, um mit ihnen über eine freie Selbstkontrolle zu sprechen. Die ARD hat bereits erste Konsequenzen gezogen. So meldeten mehrere Agenturen zu Beginn dieser Woche:
Als Konsequenz aus dem Amoklauf in Erfurt nimmt die ARD in den kommenden Wochen vier Filme aus ihrem Programm. Dabei handelt es sich um die Streifen 'Massaker im Morgengrauen', 'Mord nach Schulschluss', 'Mörderisches Klassenzimmer' und 'Terror an der Schule'.
Bereits 1999, nach dem Massaker zweier Halbwüchsiger in Littleton, Colorado, hatte eine große Diskussion begonnen, in der bald die üblichen Verdächtigen gestellt waren: Der US-amerikanische Waffenkult und die Medien. Die Verantwortung trage, so resümierte die FAZ, "eine in die Gewalt geradezu verliebte Fernsehkultur." Speziell ins Visier gerieten die neuen Medien. Die Täter von Littleton hatten sich, ehe sie aktiv wurden, nicht nur mit Hilfe von Gewaltfilmen, sondern auch durch Computerspiele und Hass-Musik in Stimmung gebracht. Ähnliches gilt möglicherweise für den Täter von Erfurt.
Der Amoklauf des 19-jährigen im Gutenberg-Gymnasium setzt eine ganze Reihe ähnlich schrecklicher, ähnlich rätselhafter Eruptionen überwiegend jugendlicher Gewalt fort. Über ihre Ursachen gehen die Meinungen auseinander. Doch viele dieser Fälle haben ein verbindendes Moment: Die jugendlichen Täter hatten, ehe sie ihre Taten begingen, Gewaltfilme gesehen. Nicht selten gaben sie an, von Filmszenen zu ihrem Tun angeregt worden zu sein.
Natürlich hören es die Verantwortlichen der TV-Konzerne und Filmgesellschaften nicht gern, wenn ihren Produktionen eine verrohende Tendenz vorgeworfen wird. Auf Medienkongressen wird seit Jahren eindringlich davor gewarnt, einen kausalen Zusammenhang zwischen Gewaltdarstellungen und Gewaltanwendung herzustellen, weil er in Wirklichkeit gar nicht existiere. In diesem rituellen Streit bedient die Forschung beide Seiten. Vor einiger Zeit konnte man von einer Untersuchung unter den Bewohnern der Insel St. Helena lesen. Auf dieser abgelegenen Insel, die der letzte Aufenthaltsort des Kaisers Napoleon war, gab es bis 1995 kein Fernsehen. Nun untersuchten englische Verhaltensforscher, wie die Einführung dieser Errungenschaft auf die Menschen gewirkt habe. Und oh Wunder: Speziell bei Kindern beobachteten die Forscher weniger unsoziales Verhalten, ja sogar einen Zuwachs an Friedfertigkeit.
Dieses eher skurrile Forschungsergebnis illustriert, dass auf die Fachwissenschaften nur bedingt Verlass ist, wenn es darum geht, Aufschluss über die Wirkungsweise des Fernsehens zu bekommen. Allerdings kommt es immer seltener vor, dass negative Beeinflussungsmöglichkeiten dieses Massenmediums kategorisch verneint werden. Uwe Kammann, Medienexperte der Nachrichtenagentur epd:
Eine eindeutige Antwort gibt es gar nicht. Im Gegenteil: Die Wissenschaft hat sich lange gestritten. Jetzt scheint sich aber so etwas wie ein Konsens herauszustellen. Danach haben die Medien einen Gewöhnungseffekt, den sie auslösen können. Das heißt, wenn man tagtäglich Gewaltszenen sieht, wenn man dieses als Muster von Konfliktlösung sieht, wenn der Stärkere in der Regel auch der Gewinner ist, dann kann sich das unbemerkt in den Seelen von Kindern, natürlich auch von Erwachsenen, festhaken.
Umstritten ist nur, wie diese Beeinflussung geschieht und welche Dispositionen beim Empfänger vorliegen müssen, damit beispielsweise das Anschauen einer bestialischen Quälerei in einem Horrorvideo zur Handlungsvorlage wird. Einig sind sich die ernstzunehmenden Studien darin, dass der Boom der Gewalt in den elektronischen Medien ein Problem darstellt, das der Öffentlichkeit nicht länger gleichgültig sein kann. Dass es eine stetige Zunahme von Gewaltdarstellungen vor allem im Fernsehen gibt, kann seriöserweise nicht bestritten werden. Der amerikanische Telekommunications Act von 1996 hält fest:
Das durchschnittliche amerikanische Kind ist jede Woche während 25 Stunden dem Fernsehen ausgesetzt. Dabei werden Kinder im Durchschnitt mit 8000 Morden und 100 000 Gewaltakten konfrontiert.
Auch in Deutschland hat Gewalt in den Medien Hochkonjunktur. Nach einer Untersuchung der "Hör Zu" wurden 1998 in TV-Spielfilmen 439 mal Kinder geprügelt, vergewaltigt, ermordet. 25 000 Morde werden pro Jahr im deutschen Fernsehen gezeigt, 25 Stunden Mordszenen pro Woche. Die Gewaltwelle ist eine wahrhaft globale. Nach einer Unesco-Studie, die die Verhältnisse in 23 Ländern der Erde unter die Lupe nahm, ist Arnold Schwarzenegger, der große Terminator, Vorbild Nummer eins der Jugendlichen, gleichgültig ob sie in den USA oder in Afrika oder in Australien leben. Der Gewaltmensch ist weltweit identitätsstiftend. Kann das ohne Wirkung bleiben? Die Antwort der Unesco-Studie auf diese Frage lautet eindeutig nein: 10 Prozent der Kinder, so schätzt sie, sind durch Gewaltdarstellungen beeinflussbar.
Die Unesco-Studie ist eine von zahlreichen Untersuchungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit den Wirkungen von Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen auseinandergesetzt haben. Auf 6000 Einzelforschungen soll es dieser Zweig der Wissenschaft inzwischen gebracht haben. Grob gesprochen lässt sich diese beachtliche Kompilation in zwei Extrempositionen aufgliedern. Die eine unterstellt, dass die Konsumenten den Medien hilflos ausgeliefert sind und der Konsum von Gewaltdarstellungen speziell die Kinder verroht und zu nachahmenden Handlungen verleitet. So steht für den erbitterten Gouverneur des Staates Arkansas nach dem Amoklauf von Littleton fest:
Schuld ist eine Kultur, in der Kinder im Fernsehen und im Kino Zehntausenden von Morden ausgesetzt sind.
Die andere Position, die verständlicherweise gern von den Verantwortlichen der Bildermedien eingenommen wird, behauptet, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Gewalt bestehe. Diese Schule warnt vor Kurzschlüssen. So sei es leichtfertig, die Ermordung einer Lehrerin durch einen ihrer Schüler darauf zurückzuführen, dass kurz zuvor im Kino der Film "Tötet Mrs. Tingle" lief, der von der Wut der Schüler auf eine Lehrerin handelt. Während die erste Schule darauf baut, dass das Anschauen von Gewaltszenen im Fernsehen zur Imitation führen kann, steht letztere auf dem Standpunkt, dass derselbe Vorgang das Gegenteil, nämlich einen psychohygienischen Prozess bewirken könne, eine Katharsis gewissermaßen.
In dieser Pauschalität überzeugt weder die eine noch die andere Extremposition. Eine ausschlaggebende Rolle für den Grad der Beeinflussung spielt zweifellos die Disposition des Empfängers. Der niedersächsische Innenminister und Kriminologe Professor Christian Pfeiffer:
Jugendliche, die aus normalen, guten Elternhäusern kommen, entwickeln gar keine Symptome, außer dass sie vielleicht ein bisschen abgebrühter werden gegenüber Gewalt. Hochgefährdete dagegen, die nicht wissen, wo's lang geht, die kein klares Selbstbild haben, und solche, die von Wut gegenüber jemand erfüllt sind, für die kann das eine Handlungsanleitung werden, sich den Frust vom Leibe zu bringen, und das kann in Aggressionen münden. Von daher: Für die eine kleine Gruppe aggressionsfördernd, für die andere eigentlich ohne Bedeutung.
Denken wir uns einen Jugendlichen, der Gewalt im täglichen Leben erfährt, der beispielsweise immer wieder erleben muss, wie der Vater die Mutter schlägt: Ihn werden Gewaltdarstellungen im Fernsehen stimulieren.
Laut Professor Jo Gröbel, Generaldirektor des Europäischen Medieninstituts, zeigen Großkonsumenten von Gewaltfilmen folgende Symptome: Sensibilität und Mitleid mit den Opfern nehmen ab. Es sinkt die Hemmschwelle, Gewalt gutzuheißen. Kindern und Jugendlichen, die einen psychischen Knacks haben, fällt es schwer, Realität und Fiktion zu unterscheiden. Durchschnittlich drei Stunden verbringen 12-jährige Kinder täglich vor dem Fernseher. Das sei an sich nicht beunruhigend, sagt Jo Gröbel. Aber:
Es wird eben gerade von Jungs ein großes Maß von Gewalt in dieser Zeit konsumiert, und diese Gewalt wird nicht etwas so dargestellt, dass man danach sagen würde: Naja, Gewalt ist also doch ziemlich unangenehm oder schädlich, und sie hat Opfer. Die Gewalt wird eigentlich eher so präsentiert, dass sie belohnt wird, dass es eine gute Möglichkeit ist Probleme zu lösen, einfach Spaß macht und Status bringt.
Die fortwährende Begegnung mit Gewaltdarstellungen kann nicht bloß zu erhöhter Gewaltbereitschaft führen, sondern auch zu vermehrter Angst vor Gewalt. Schon vor 15 Jahren wurde von amerikanischen Kommunikationswissenschaftlern nachgewiesen, dass "heavy viewers", das heißt Menschen, die über drei Stunden täglich vor dem Fernseher sitzen, zehnmal häufiger als andere Angst hatten, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Mit dem Nachahmungseffekt hat sich der Schriftsteller Umberto Eco beschäftigt.
Jeder weiß: wenn heute zwei Selbstmorde auf den Titelseiten der Zeitungen stehen, gibt es morgen einen dritten. Wenn sich ein Bonze mit Benzin übergießt und sich auf einem öffentlichen Platz ansteckt, gibt es bestimmt einige Nacheiferer. Die Gewalt im Fernsehen kann verführen und eine gewisse mimetische Gewalt erzeugen.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer glaubt einen mimetischen Effekt auch bei ausländerfeindlichen Anschlägen nachweisen zu können. Und auch der Erfurter Amokschütze habe seine Tat nach einer fiktiven Vorlage inszeniert - in Analogie zu dem blutrünstigen Computerspiel Counter-Strike:
Das ist offenkundig. Er hat ja genau das getan, was das Computerspiel vorzeichnet: sich verkleiden, mit einem Gewehr und einer Pistole in die Schule gehen, alles umnieten - also da hat er wirklich schauspielerisch, in einer Inszenierung, was er da gesehen hat, umgesetzt; und das ist auch bei vielen anderen Amokläufern, dem Reichenhaller beispielsweise, genauso gewesen. Also, dass solche Hochgefährdeten dann diese Vorlage, die der Film oder das Computerspiel bietet, umsetzt, ist leider der Fall.
Wie kommt es zu der Häufung von Gewaltdarstellungen? Die Erklärung, dass Gewalt Quote mache, ist nicht so einfach von der Hand zu weisen, auch wenn die Macher nichts davon wissen wollen. Achselzuckend rechtfertigen sie ihr Tun mit der Behauptung, die Medien spiegelten nur den allgemeinen Zustand der Gesellschaft, ihre Wünsche und Obsessionen. Dass diese Erklärung verharmlost, ist offenkundig. Es wäre ja immerhin denkbar, dass der Zustand der Gesellschaft, den die Medien angeblich spiegeln, von ihnen mit herbeigeführt wurde. Außerdem lassen diese Rechtfertigungsversuche außer acht, dass sich in der Art und Weise, wie Gewalt dargestellt wird, in den letzten Jahren viel geändert hat.
Zweifellos haben in der Filmgeschichte Mord und Totschlag stets eine herausragende Rolle gespielt. Doch während früher mehr oder minder klar zwischen Gut und Böse unterschieden wurde, fehlt dieses Regulativ heute nicht selten. Man kann sogar behaupten, dass die Aufhebung dieser Differenz geradezu ein Markenzeichen vieler moderner Filme ist. In dem Streifen "Natural born killers" bringen es die Hauptakteure, ein übergeschnapptes Pärchen, auf nicht weniger als 52 Morde. Die beiden enden als Volkshelden, mit denen sich jeder identifizieren kann - nicht nur in der Vorstellung. Ein Einzelfall ist das beileibe nicht. Immer öfter sieht man Filme, in denen Gewalttäter die ganze Einfühlsamkeit des Drehbuchs genießen, während die Cops die Miesen sind. Diese Tendenz zur Gewalt-Verherrlichung beobachtet und verurteilt auch Manfred Kock, Präses der evangelischen Kirche in Deutschland:
Ich bin der Meinung, dass wir durch die Art und Weise, wie Gewalt zelebriert wird, etwas wie eine Ent-Tabuisierung haben. Ich erinnere mich an meine Kindheit - wir haben uns auch gekloppt mit den Kindern in der Nachbarstraße, aber es gab bestimmte Regeln, die wir einhielten: Also, nicht mehr nachtreten, wenn einer schon am Boden liegt. Nicht unter die Gürtellinie hauen. Also, es gab auch, wenn man die Wut hatte, immer noch eine Hemmschwelle. Und durch die Art und Weise, wie das dargestellt wird in manchen Krimis oder Psychoschockern, da wird eigentlich vorgelebt, wie enthemmt wird.
Auch eine andere Entwicklung ist augenfällig: die Brutalisierung der Darstellung. Man kann diese Entwicklung an der Tatort-Reihe ablesen. Wer heute in den Dritten Programmen frühe Tatort-Krimis sieht, wird nicht bloß feststellen, dass sie besser waren. Ein Mord war noch ein Mord, d.h. in der Regel herbeigeführt durch Erschießen, wobei die Leiche dezent im Hintergrund blieb. Heute muss es in einem Streifen wenigstens eine Vergewaltigung geben, eine Kindesmisshandlung, eine zombiehafte Zerstückelung. Die Kamera verweilt voyeurhaft auf abgeschnittenen Ohren und anderen Leichenteilen.
Die Gewürze werden immer schärfer,...
... sagt Norbert Schneider, Direktor der Landesmedienanstalt von Nordrhein-Westfalen. Und tatsächlich: Das "testing the limits" ist ein Phänomen, das den Medienmarkt und hier nicht nur den Film, sondern auch die neuen Medien, charakterisiert. Die Berufung auf künstlerisch-ästhetische Intentionen wirkt da nicht immer überzeugend. Er habe einen Film über die 90er Jahre machen wollen, erklärte Oliver Stone, als seinem Streifen "Natural born killers" der Vorwurf sinnloser Brutalität gemacht wurde. Laut "Spiegel" soll "Natural born killers" zehn realen Mordserien als Vorlage gedient haben. Der bekannteste Fall betrifft zwei Jugendliche, die, nachdem sie ein paar Tabletten LSD geschluckt und den Stone-Film wieder und wieder gesehen hatten, eine Verkäuferin bei einem Raubüberfall niederschossen.
"Testing the limits": Die letzten Tabus werden gebrochen, die Grenzen des Möglichen immer weiter hinausgeschoben. Dies dient als Hebel, Aufmerksamkeit zu erregen. Verhalten sich die jungen Glatzköpfe, die Hitler-Parolen brüllen, sehr viel anders? Sie haben nur wenig im Hirn, aber in einem Punkt sehen sie ganz klar: Dass die Zurschaustellung von Nazi-Emblemen und Prozessionen zum Grab von Rudolf Heß vermutlich zu den letzten Mitteln gehört, um von sich reden zu machen. "Der mediale Gewaltmarsch", schrieb die "Woche" vor einiger Zeit, "ist ein Wettrennen um Effekte und Aufmerksamkeit."
Neben Tendenzen im fiktionalen Bereich, im Bereich von Film und Fernsehen, verdient auch der non-fiktionale Bereich Beachtung - also das Feld der journalistischen Berichterstattung über Gewalt. Die Brutalisierung - andere würden sagen: der Realismus der Bilder z.B. in den Fernsehnachrichten - nimmt ständig zu. Eine gewisse Dezenz der Darstellung, die früher auch der Kriegsberichterstattung zu eigen war, weicht immer mehr einer Praxis, die die Opfer rücksichtslos zur Schau stellt. Ob es den Verantwortlichen dabei wirklich darum geht, eine abschreckende Wirkung zu erzielen, oder ob nicht ganz einfach auch hier die Reizschwelle zugunsten der Quote gesenkt wird, ist nicht ganz einfach zu beantworten.
Ein schwieriges Problem stellt die journalistische Auswahl dar. Es gibt den landläufigen Vorwurf, Journalisten malten die Welt schwärzer als sie in Wahrheit sei. Medienmacher kontern diesen Vorwurf gern mit dem "Mann-beißt-Hund"-Prinzip. Druckreif ist nicht das Normale, sondern das Hervorstechende: Unwetter, Unglück, Krieg und Mord. Sie rufen Zeugen auf, die würdiger nicht sein könnten: Niemals wäre Thukydides unsterblich geworden, hätte er, statt über den Peloponnesischen Krieg zu berichten, das friedvolle, sonnenreiche Attika besungen. Und ist nicht die Bibel mit ihren Mord- und Wunderschilderungen in gewisser Weise der Sensationsliteratur zuzuordnen? Kein Zweifel, in allen Zweigen der Überlieferung wurde und wird dem Spektakulären und Gewalttätigen der Vorrang vor dem Alltäglichen und Friedfertigen eingeräumt.
Die journalistische Berichterstattung macht da keine Ausnahme. Ihre Auswahlkriterien entsprechen dem Publikumsgeschmack. Die Leser, Hörer, Zuschauer mögen noch so sehr über die Bevorzugung der "bad news" klagen. Tatsächlich fühlen sie sich dabei sehr wohl; die Auflagenzahlen der Boulevardblätter und die Quoten des Fernsehens bestätigen es. Doch das allein besagt wenig. Die Art und Weise, wie die Wirklichkeit durch Medien vermittelt wird, hat Folgen.
Das Thema "Medien und Gewalt" ist facettenreich, und seine speziellen Ausprägungen in den neuen Medien müssen weiter erforscht werden. Doch es gibt Anlass genug, die traditionellen Medien bei diesem Thema nicht aus den Augen zu verlieren. Irgendwann wird es in "Global village" ein neues Erfurt geben. Wieder wird die Erregung hochschlagen und wieder wird die Ratlosigkeit noch größer sein als das Entsetzen. Wieder wird man nach schärferen Gesetzen rufen, um dann zu dem Schluß zu kommen, dass neue Gesetze nicht helfen. Aber was hilft? Präses Manfred Kock appelliert an den Geschmack des Publikums und fordert statt neuer Gesetze:
...eine Kontrolle der Gesellschaft ihrer selbst, also eine Selbsterziehung der Gesellschaft, sich nicht alles vorsetzen zu lassen: durch Abschalten verweigern. Diese Sender brauchen ja die Werbequote. Und da kann die Gesellschaft selbst schon insgesamt was machen. Wenn so viel Millionen, wie sich jetzt empört haben, das nicht mehr sehen würden, dann würde es auch nicht mehr gezeigt.
Letztlich wird es auf die Einsicht der Filmemacher und Journalisten ankommen. Sie müssen die Wirkung ihres Handelns reflektieren, müssen erkennen, dass hemmungslose Effekthascherei ihre Glaubwürdigkeit erschüttert und dass "testing the limits" ein Weg ist, den die Gesellschaft auf Dauer nicht ertragen kann.