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Nach dem Anschlag auf Präsident Achmad Kadyrov

Guten Abend - Ausgerechnet gestern, am 9. Mai, am "Tag des Sieges", einem der höchsten Feiertage der alten Sowjetunion aber auch des "Neuen Russland", meldete sich der Tschetschenien-Konflikt wieder einmal mit Macht zurück. In Grosny, der Hauptstadt der Nordkaukasus-Republik, marschierte im Sportstadion gerade eine Militärformation aus Anlass des Sieges der Roten Armee 1945 über Nazi-Deutschland durchs Rund, als eine gewaltige Explosion die Ehren-Tribüne buchstäblich in Fetzen zerriss. Ein halbes Dutzend Tote hinterließ die Detonation - unter ihnen der Präsident Tschetscheniens, Achmad Kadyrov, jener Mann, der im Auftrag des russischen Präsidenten Putin den Dauerkonflikt im Süden Russlands hätte eindämmen sollen. Tschetschenien und Russland: am Tag danach - wie wird es weitergehen? Sabine Adler, unsere Korrespondentin in Moskau, fasst den Ablauf der vergangenen Stunden zusammen:

Von Sabine Adler und Robert Baag | 10.05.2004
    Mit Achmed Kadyrow wurde heute eine der widersprüchlichsten Persönlichkeiten Tschetscheniens zu Grabe getragen. 52 Jahre nur ist er alt geworden und hatte am eigenen Leib immer wieder die Zerrissenheit seines Landes erlebt. Dreitausend Trauergäste waren in sein Heimatdorf Zentoroi gekommen, um ihm, der vor weniger als 24 Stunden noch der Präsident der kleinen zerstrittenen Kaukasusrepublik gewesen ist, das letzte Geleit zu geben.
    Achmed Kadyrow war, wie der Brauch es verlangt, in ein weißes Laken gewickelt worden. Seinen Leichnam, der auf einer offenen Trage zum Friedhof transportiert wurde, verhüllte zusätzlich eine weiße Schaffellburka, der traditionelle Ehrenumhang tschetschenischer Männer. An der Trauerfeier auf dem Friedhof nahm keine einzige Frau teil: Der tschetschenischen Tradition gemäß ist dies verboten, Frauen seien zu schwach für den Anblick des Todes.

    Sergej Abramow, Premierminister und seit gestern amtierender Präsident Tschetscheniens erinnerte an die gemeinsame Arbeit, die er mit Kadyrow zusammen für den Wiederaufbau des Landes leisten wollte.

    Noch vorgestern haben wir darüber gesprochen, dass wir Städte bauen werden, wie wir die Wirtschaft und das Zivilleben wieder aufbauen werden.

    Die gesamte Führungsspitze Tschetscheniens erwies Kadyrow die letzte Ehre. Der Vorsitzende des Mufti-Rates Russlands Rawil Gainut-din hatte die Moslems im ganzen Land zu Gebeten für Kadyrow aufgerufen.

    Er war ein mutiger, offener und geradliniger Mensch. Er hatte keine Angst, Verantwortung zu übernehmen und deshalb hat er in vollem Bewusstsein diese verantwortungsvolle Funktion als Präsident der tschetschenischen Republik übernommen. Er hat nie diejenigen gefürchtet, die ihn bedrohten, die ihm nach dem Leben trachteten. Er hat versucht, Gutes zu tun, damit die Bürger in Tschetschenien in Frieden leben können.

    Doch so groß die Menge der Trauergäste auch gewesen ist, sie war kein Indiz für Kadyrows Beliebtheit. Im Gegenteil: Viele Tschetschenen haben ihn leidenschaftlich gehasst.
    Kadyrow wusste das, gab sich dennoch stets selbstbewusst. Wie hier in einer Talkshow kurz vor den tschetschenischen Präsidentschaftswahlen im Oktober vorigen Jahres, bei denen er vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unverhohlen unterstützt wurde. Bereits im Jahr 2000 hatte Putin ihn zu seinem Statthalter in Tschetschenien ernannt.

    Präsident Putin hat das einzig Richtige gemacht, nämlich mich zu ernennen. Er wusste, wer ich war. Dass ich ein Verbündeter der Präsidenten Dudajew und Maßchadow war, dass ich zum Dschihad gegen Russland aufgerufen habe, das alles wusste Putin. Aber ihm war auch klar, dass kein anderer als ich stark genug ist, es mit den Terroristen aufzunehmen. Ich werde mein Volk schützen - sowohl vor den föderalen Streitkräften als auch vor den Banditen.

    Spätestens seit 1999, als der Wendehals Kadyrow die Seiten wechselte und zum Lohn dafür zum Statthalter Moskaus ernannt wurde, trachteten viele seiner Feinde unzählige Male nach seinem Leben. Einmal wollte sich eine Selbstmordattentäterin auf einem religiösen Volksfest neben ihm in die Luft sprengen, viele andere Male war sein Wagen das Ziel. Seine Gegner hatten Gründe genug. Die einen verziehen ihm nicht, dass er, der als Mufti während des ersten Einmarsches russischer Truppen in Tschetschenien noch zum Heiligen Krieg gegen Russland aufgerufen und selbst an der Seite der bewaffneten Separatisten gegen die russischen Streitkräfte gekämpft hat, sich nun als Verräter offenbart hatte. Außer seinem Sohn Ramsan hatte Kadyrow niemandem getraut. Ständig wechselte Kadyrow seine Mannschaft, entließ einen Premier nach dem anderen, Sergej Papow war einer von ihnen. Doch obwohl Kadyrow ihn feuerte, hält er ihm noch immer die Treue, so wie Präsident Putin es verlangt.

    Nur eine starke Persönlichkeit kann ihre Fehler zugeben und öffentlich einen Sinneswandel vertreten. Dass Präsident Putin Vergeltung fordert, ist nur folgerichtig, Vergeltung ist unabwendbar.

    Dass Präsident Putin nach Rache ruft, überrascht weder in Moskau noch in Tschetschenien irgendjemanden. Ohne es an die große Glocke zu hängen, werden zum Beispiel Familien von Selbstmordattentätern längst bestraft. Und nicht nur damit, dass man ihnen die Leichen der Terroristen, wie sie offiziell genannt werden, nicht aushändigt, damit sie in der Heimat begraben werden können. Kurz nach dem Geiseldrama im Moskauer Musicaltheater hat man zudem auch auf die Häuser der Angehörigen Bomben geworfen.
    Hin und wieder kocht die Diskussion hoch, ob man offiziell zu einer Vergeltungspolitik nach dem Vorbild von Israels Premier Ariel Scharon übergehen sollte, doch bislang zieht Moskau es vor, dieser Praxis einfach zu folgen, ohne groß darüber zu reden.

    Dass hinter dem Anschlag der Anführer der bewaffneten Separatisten Schamil Bassajew steckt, davon geht man in Tschetschenien fest aus. Doch die angeblich fünf Verdächtigen, die gestern festgenommen worden sind, wurden wieder freigelassen, offiziell gibt es derzeit keine Verhaftungen.

    Kadyrows Mörder können aber genauso gut mitten aus der Bevölkerung stammen, wo ihm viele den Tod wünschten. Kadyrows Milizen, angeführt von dessen Sohn Ramsan, gingen immer häufiger mit brutaler Gewalt gegen Tschetschenen selbst vor. Kadyrow hat nicht zu einem Ende des Partisanenkrieges beigetragen, er hat ihn weiter angeheizt. Sein Sohn, mit dem Putin gestern öffentlich seine Trauer teilte, gehört zu einem System der Angst, das sein Vater in der Kaukasusrepublik aufgebaut hatte. Wer sich den Kadyrows anschloss, wurde belohnt. Die Vergangenheit spielte keine Rolle. So befinden sich etliche ehemalige Rebellen in den Reihen des berüchtigten Sicherheitsdienstes, den der Sohn anführt. Diese Überläufer waren schlicht gekauft. Mit fürstlichen Gehältern wurden sie angelockt und bei der Stange gehalten. Sie sind nie vor Gericht gestellt worden, auch wenn das Amnestiegesetz dies bei vielen von ihnen verlangt hätte. Diese Ramsan-Milizen waren sind gefürchtet. Fast mehr noch als die russischen Streitkräfte und ihre berüchtigten Säuberungen.
    Auch wirtschaftliche Gründe könnten Anlass für den Mord gewesen sein. Kadyrow galt als zutiefst korrupt. Er, wie auch die russischen Generäle, sollen sich am Geld für den Wiederaufbau Tschetscheniens und sogar an den Mitteln für die Kriegsführung gegen die bewaffneten Separatisten bereichert haben.

    Möglicherweise musste Kadyrow aber auch sterben, weil er zu selbstständig geworden war. Er hatte zwar schon früher gelegentlich die brutalen Razzien des russischen Militärs kritisiert, jetzt aber forderte er, dass der Kampf gegen die bewaffneten Separatisten von tschetschenischen Sicherheitskräften geführt werden sollte. Damit hätte er den russischen Generälen eine gut gefüllte Futterkrippe entzogen, was die womöglich zu verhindern versuchten. Außerdem wollte Kadyrow, dass die tschetschenischen Ölgesellschaften zu 100% in tschetschenische Hände übergehen und nicht mehr zu Hälfte dem russischen Staat gehört. Vielleicht hat ihn auch dieses zunehmende Selbstbewusstsein das Leben gekostet. Sein ehemaliger Kampfgefährte und Vorgänger im Amt des Präsidenten Aslan Maschadow ließ heute verbreiten, dass der Anschlag nicht das Werk von bewaffneten Separatisten war, sondern vom russischen Geheimdienst.

    Präsident Wladimir Putin hat mit dem Attentat auf seinen Mann in Tschetschenien eine schallende Ohrfeige bekommen. Das tschetschenische Volk hat den ihm aufgedrückten Präsidenten nie akzeptiert und die herbei geredete Befriedung der Republik ist endlich als das enttarnt worden, was sie in Wahrheit ist: pure Propaganda. Doch nur mit Kadyrow war dieses verlogene Spiel möglich, wohl deshalb hielt Putin bis zuletzt an ihm fest.

    Er war ein wirklich heldenhafter Mann, der seine Republik in ein friedliches Leben führte. Er schied am neunten Mai aus dem Leben, dem Tag des Sieges, der für unser Land von so großer Bedeutung ist. Aber er ging unbesiegt.

    Diese Worte sagte Putin, als er nur wenige Stunden nach Kadyrows Tod dessen als brutal verschrienen Sohn Ramsan im Kreml empfing. Damit gab der russische Präsident ein verhängnisvolles Zeichen. Jede Hoffnung, dass sich nach dem Attentat auf die tschetschenische Politspitze und russische Militärführung in Tschetschenien Moskaus Kaukasuspolitik ändert, erstickte Putin mit diesem Signal umgehend im Keim. Sich Seite an Seite mit Ramsan Kadyrow zu zeigen, war das unmissverständliche Zeichen dafür, dass er seine bisherige Tschetschenienpolitik wie gehabt fortführt.

    Dabei wäre ein Wechsel dringend notwendig gewesen. Ehrlichkeit müsste Einzug halten und vor allem Achtung vor dem Willen des tschetschenischen Volkes. Zweimal hat man seine Meinungsäußerungen massiv gefälscht. Vor gut einem Jahr, als in einem Referendum entschieden werden sollten, ob es zu Russland gehören wollte und das zweite Mal bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Oktober. Mit über 80 bzw. 90% haben die Tschetschenen angeblich befürwortet, was Moskau ihnen vorgeschlagen hat. Jeder wusste, dass die Ergebnisse glatte Lügen darstellten, doch man bürstete über die Wähler einfach hinweg. Das Attentat gestern war die Quittung.

    Der Anschlag auf Kadyrow und die gesamte Führungsspitzes Tschetscheniens wie auch des dort stationierten russischen Militärs war der größte Coup, der den bewaffneten Separatisten seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 gelungen ist, vorausgesetzt, das Attentat geht auf ihre Rechnung. Waleri Baranow, der Oberkommandierende der russischen Streitkräfte im Nordkaukasus, der gestern auf der Stadiontribüne direkt neben dem tschetschenischen Präsidenten gesessen hatte, ist schwer verletzt. Ihm wurde ein Bein amputiert. Der Generalgouverneur für Südrussland, Wladimir Jakowlew, zu dessen Befinden:

    Sein Zustand ist zufriedenstellend. Er hat heute sogar per Telefon mit seinen Angehörigen sprechen können. Aber wie fühlt sich jemand, dem gerade das Bein amputiert wurde. Zumindest ist er bei Bewusstsein.

    Dass der Anschlag nur mit Hilfe eines Verräters innerhalb des engsten Kreises um Kadyrow herum möglich war, davon ist nicht nur der Dumaabgeordnete Nikolai Kowaljow fest überzeugt.

    An solchen Tagen werden stets verstärkte Sicherheitsmaßnahmen ergriffen und schon Stunden manchmal sogar Tage vorher alles abgesperrt. Entweder es war Schlamperei oder aber jemand hat dem Attentäter freie Hand gelassen.

    Der Stellvertretende Generalstaatsanwalt Russlands Sergej Fridinskij teilt diese Auffassung. Das Attentat war seiner Meinung nach von langer Hand geplant und zwar von Insidern.

    Bei den Sicherheitsmaßnahmen, die hier für das Stadion galten, war es für jemanden von außen unmöglich, einen Sprengsatz zu installieren. Deshalb konzentrieren wir unsere Arbeit jetzt auf die, die die Sicherheit hier zu gewährleisten hatten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es eine Reihe von Versionen, noch können wir keine ausschließen.

    Sprich: Die Attentäter werden in den eigenen Reihen gesucht. Übrigens nicht zum ersten Mal. Bei mehreren Anschlägen waren es zum Beispiel tschetschenische Polizisten, die die Sprengsätze gelegt hatten.

    Die politische wie auch die militärische Situation ist völlig verfahren. Für Tschetschenien gibt es keine einfache Lösung. Mit der Wahl eines neuen Präsidenten im Herbst ist der Karren noch längst nicht aus dem Dreck geholt. In Russland mehren sich Stimmen, die das politische System in Tschetschenien grundsätzlich in Frage stellen. Die Dumaabgeordneten Ljubow Sliska und Dmitri Rogosin beispielsweise plädieren für eine Direktverwaltung Tschetscheniens von Moskau aus. Die Politikerin und derzeitige Gründerin der Partei "Demokratisches Russland" Irina Chakamada drängt Putin, endlich das zu tun, was dem Wesen der tschetschenischen Gesellschaft am ehesten entsprechen würde: statt eines Präsidenten einen Ältestenrat ins Leben zu rufen, dem die Vertreter der wichtigsten Stämme der tschetschenischen Clangesellschaft angehören. Nur mit ihren ureigenen Mechanismen, findet Chakamada, ist zu erreichen, dass sich die verfeindeten Parteien zusammenraufen.
    Eine militärische Lösung stellt dies freilich noch nicht dar. Die bewaffneten Separatisten sind damit noch nicht eingebunden. Doch auch was mit den neugeschaffenen Ramsan-Milizen geschehen wird, ist völlig offen. Genaugenommen hat dieser Kadyrow-Sicherheitsdienst Aufgaben an sich gerissen, die normalerweise die Polizei erfüllt.

    Vieles deutet darauf hin, dass Präsident Putin alles beim alten belässt, dass lediglich Neuwahlen stattfinden und er dieses Mal Kadyrows Sohn protegiert. Nach dem Tod seines Vaters ist der heute schon mal zum Vizepremier avanciert. Dass die kommenden Präsidentschaftswahlen im Herbst genauso wenig demokratisch sein werden wie die vor einem Jahr, davon muss man leider ausgehen.
    Gespräch Heinrich Vogel

    Sabine Adler war das, aus Moskau. - Was bedeuten die Ereignisse in Grosny vom Sonntag für die innenpolitische Situation in Russland? Welche Rückschlüsse sollten die Freunde und Partner Russlands aus den aktuellen Vorfällen ziehen? Fragen, die ich am Nachmittag dem Politologen und Russland-Experten Heinrich Vogel von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik gestellt habe. Zunächst aber wollte ich von Heinrich Vogel wissen, ob das Attentat auf Kadyrow nicht auch als gezielte Demütigung Putins und seiner Tschetschenien-Politik zu werten sei:

    Heinrich Vogel: In gewisser Weise ist es ein Rückschlag für seine These, für seine Behauptung, er habe mit der Wahl Kadyrovs eine politische Lösung für das Tschetschenien-Problem gefunden. Das hat eigentlich niemand, der die Region kennt, der das Potential an Gewalt und Frustration dort kennt in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, geglaubt. Eigentlich haben alle etwas in dieser Richtung erwartet, und wir sind wieder da, wo wir angefangen haben.

    Robert Baag: Nach diesem Anschlag jetzt, die russischen Reaktionen - was glauben Sie, wird es eine Verhärtung des Regimes geben, oder welche Optionen hat Putin in Tschetschenien eigentlich?

    Heinrich Vogel: Ja, eigentlich sehr wenig. Das ist das Tragische an dieser Entwicklung von Terrorakt zu Terrorakt. Und von jeder Reaktion des Staates zur nächsten verringert sich die Zahl der Optionen. Denn die Verzweiflung über das Ausmaß an Gewalt, über das Fehlen ökonomischer Perspektiven, über die Grenzen der Möglichkeit, überhaupt so etwas wie Sicherheit für die Bevölkerung, ein Minimum an Sicherheit für die Bevölkerung einzuführen, hat ein Maß erreicht, das sich durch symbolische Handlungen, durch den Austausch eines Führers oder durch Versprechungen kurz und mittelfristig kaum wird redressieren lassen. Die Eskalation ist zu weit und zu lange getrieben worden. Das einzige, was bleibt, ist der Versuch, aktiven, und vor allem jetzt islamistisch motivierten Terror mit den Methoden einer möglichst effizienten Aufklärung, nachrichtendienstlichen Aufklärung und Polizeimitteln einzugrenzen und dies zu begleiten mit dem Versuch, so etwas wie Transparenz der Methoden und Nachprüfbarkeit der Vorwürfe und des Vorgehens einzuführen, also wenigstens ein Element an Hoffnung auf den Beginn rechtsstaatlicher Fundamente einzuführen.

    Robert Baag: Wäre denn ein Eingreifen internationaler Strukturen überhaupt denkbar, eher sinnvoll?

    Heinrich Vogel: Es könnte ein zusätzliches Element an Zutrauen in vernünftige Absichten einbringen. Ich halte es für ausgeschlossen angesichts des Bestehens des Kremls auf nationalen Souveränitätsrechten in der Regelung interner Konflikte und Probleme, dass der Kreml, dass Putin einer solchen ausländischen Beteiligung zustimmen würde.


    Robert Baag: Ist denn in naher Zukunft ein engeres Zusammenrücken zwischen den USA und Russland vor dem Hintergrund dieses jüngsten Vorfalls und der doch gewissen Ausweglosigkeit, die sie ja auch geschildert haben, denkbar, möglich, wünschbar?

    Heinrich Vogel: Ja, das Zusammenrücken ist ja längst erfolgt unter dem Motto des Kriegs gegen den Terror, des weltweiten Kriegs gegen den Terror, wo Putin ja durch seine überraschende Solidarisierungserklärung mit den USA nach den Anschlägen in New York und Washington eine Wende zum Westen hin angeblich unternommen hat. Dieses wurde honoriert in Washington mit bemerkenswerter Zurückhaltung an der Kritik am russischen Vorgehen in Tschetschenien. Man befindet sich in einer Allianz gegen den Terror, die allerdings eine bedenkliche Schlagseite bekommt in der Wahl der Verbündeten, in der Wahl der Methoden und mit Rückwirkungen auf das innenpolitische Klima in Russland. Die russische Führung beruft sich auf einen amerikanischen Freibrief.

    Robert Baag: Welche Schlussfolgerungen müsste die europäische, müsste die deutsche Politik aus den Vorfällen der vergangenen Stunden ziehen?

    Heinrich Vogel: Was sich nicht vermeiden lassen wird, ist eine deutliche Sprache gegenüber dem Kreml. Das Missverhältnis zwischen dem Anspruch der Wiederherstellung von Ordnung mit den Mitteln, mit denen dieses Ziel in Moskau verfolgt wird, dieses Missverhältnis muss öffentlich angesprochen werden. Das ist nicht nur Aufgabe von Männerfreunden, die sich regelmäßig auf höchster Ebene treffen, sondern dies ist auch die Aufgabe für nahezu jedes Treffen zwischen Vertretern europäischer Vorstellungen, europäischer Standards, auf der politischen Ebene, auf der gesellschaftlichen, auf der kulturellen Ebene mit ihren russischen Counterparts. Dieser Dialog muss offen sein.

    Robert Baag: Vielen Dank, Herr Dr. Vogel.