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Nach dem Brexit
Britische Juden wollen den deutschen Pass

Ihre Großeltern flüchteten vor den Nazis nach Großbritannien. Ihre Enkel wollen nun wieder einen deutschen Pass. Möglich macht dies Artikel 116 des Grundgesetzes. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist für viele britische Juden eine "Versicherung", dass ihnen die EU offen steht.

Von Friedbert Meurer | 09.09.2016
    Ein britischer und ein deutscher Reisepass.
    Nach dem Brexit ist die deutsche Staatsbürgerschaft neben der britischen für viele britische Juden eine Option. (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild)
    Ein Büro im Nord-Londoner Stadtteil Finchley. Mitarbeiterinnen der "Association of Jewish Refugees", der "Vereinigung jüdischer Flüchtlinge", bearbeiten an den PC-Bildschirmen Anträge britischer Juden auf Opferrenten und andere Hilfen. Michael Newman, 41, ist Vorsitzender. Newman will die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen - wegen des bevorstehenden Brexit.
    "Auf die Idee kam ich am Morgen danach, am 24. Juni, also sofort nach dem Referendum. Die deutsche Staatsbürgerschaft neben der britischen ist für mich eine Option, eine Versicherung. Sie würde bedeuten, dass mir die EU offensteht. Ich könnte dort leben und arbeiten wie ich will. Das ist nichts, was ich heute oder in drei Monaten tun will, aber ich könnte es jederzeit tun."
    Michael Newman kam nicht alleine auf die Idee. Ebenfalls am Morgen des 24. Juni traf die E-Mail einer britischen Jüdin bei ihm ein, die auch nach dem Gesetz fragte und den deutschen Pass beantragen will. Weitere Anfragen folgten. Newman ist wichtig, zu betonen, dass der Brexit keine Bedrohung für Juden in Großbritannien darstellt.
    "Es gibt absolute keine Verbindung zwischen dem Brexit und der Lage der Juden in Großbritannien. Aber es gibt jetzt Übergriffe, zum Beispiel auf Polen. Einige Briten mögen EU-Ausländer nicht. Das ist wirklich eine schreckliche Sache, die da entstanden ist."
    Ein Mann sitzt in einem Büro an einem Schreibtisch auf dem ein Computer steht.
    Michael Newman ist Vorsitzenderd er "Association of Jewish Refugees" (Deutschlandradio/ Friedbert Meurer)
    Newman erzählt, dass er bei der deutschen Botschaft erforschte, wie man nach Artikel 116 Grundgesetz als Nachfahre politisch NS-Verfolgter Deutscher werden kann – wieder werden kann.
    "Wenn alles normal verlaufen wäre, dann wäre ich in Deutschland geboren worden. Das Gesetz versucht nur zurückzugeben, wie es eigentlich hätte sein sollen."
    Newmans Großmutter lebte in Köln, als 27-Jährige beantragte die deutsche Jüdin die Ausreise nach Großbritannien. Am 31. August 1939, einen Tag vor Kriegsbeginn, kam sie in Southampton mit dem Schiff an. Sie arbeitete als Haushälterin, heiratete einen Briten und bekam einen Sohn – Michael Newmans Vater. Eltern und Bruder blieben in Köln zurück und wurden von den Nazis umgebracht. In der Kölner Altstadt ist eine Bronze-Plakette für die Eltern in den Boden gelassen, ein sogenannter Stolperstein des NS-Dokumentationszentrums Köln. Newman zeigt auf ein Foto.
    "Rachela Geppert, das ist meine Urgroßmutter, geboren 1888, deportiert 1941. Sie musste dann das Ghetto in Lodz verlassen und wurde 1942 im Konzentrationslager Chelmno umgebracht."
    Die Tochter überlebte und nahm in London den Namen Sally Reynolds an. Während Michael Newman telefoniert, schildert seine Mitarbeiterin Linda Kasmir, wie schwer sich ab 1939 jüdische Flüchtlinge in Großbritannien taten.
    "Es war sehr schwer für sie. Sie hatten alles zurückgelassen und mussten eine neue Sprache lernen. Sie fühlten sich als Außenseiter. Einige Männer wurden ja sogar auf der Isle of Wight interniert. Es war sehr schwer für sie."
    Thomas Harding, auch er ein britischer Jude, der den deutschen Pass jetzt beantragt, lebt eine Stunde außerhalb Londons in dem kleinen Ort Steep auf dem Land. Der Zug hält nebenan in Petersfield. Der 48-jährige Journalist und Schriftsteller ist der Urenkel des Berliner jüdischen Arztes Alfred Alexander, der vor den Nazis nach England floh. Thomas Harding hilft, das einstige Sommerhaus seiner Familie in Potsdam in ein Begegnungszentrum für junge Leute umzugestalten.
    "Beim Brexit blieb ich die ganze Nacht auf, bis das Ergebnis um fünf Uhr morgens da war. Ich hatte ein tiefes Gefühl von Verlust. Instinktiv fiel mir ein: Ich habe doch davon gehört, dass man als Nachfahre ausgebürgerter jüdischer Flüchtlinge die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen kann."
    Auch der britische Staatsbürger Thomas Harding hat nicht unmittelbar vor, tatsächlich nach Deutschland auszuwandern. Er fühle sich aber mit dem Brexit jetzt etwas fremd auf der Insel. Es gehe ihm um Europa und auch um die Verbundenheit mit dem Land seines Urgroßvaters.
    "Ich fühle mich als Europäer, schon immer. Aber am wichtigsten war ein wachsendes Gefühl in den letzten drei oder vier Jahren, dass meine Heimat auch Deutschland ist."