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Nach dem Erdbeben
Nepals schwerer Weg nach vorne

Fast 9.000 Tote, über 20.000 Verletzte, über eine halbe Million zerstörte Häuser, fast drei Millionen Hilfsbedürftige. Das war die Bilanz der beiden schweren Erdbeben vom 25. April und 12. Mai. Vor allem in entlegenen Bergdörfern warten viele Betroffene bislang vergeblich auf versprochene Entschädigungen und Hilfen.

Von Sandra Petersmann | 18.07.2015
    Buddhi und Sarita mit ihrem Sohn Krishna vor ihrem zerstörten Haus in den Bergen Nepals.
    Buddhi und Sarita mit ihrem Sohn Krishna vor ihrem zerstörten Haus in den Bergen Nepals. (Deutschlandradio/Sandra Petersmann)
    Buddhi und Sarita öffnen die Tür zu ihrer Hütte, die sie sich aus Brettern, Plastikplanen und Wellblech zusammengezimmert haben. Vorne rechts in dem winzigen Verschlag gibt es ein kleines Loch im Lehm-Fußboden. Die Kochstelle. An der Wand lehnt ein halb leerer Sack Reis vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Den Rest des Raums füllt ein Bett aus. Buddhi hat es aus Holzplanken zusammengezimmert, die er aus den Trümmern gezogen hat. Sarita zeigt auf das Wellblechdach. Es hat kleine Löcher. "Wir kauen eine Menge Kaugummi, um die Löcher zu stopfen“, erzählt Sarita. Ihr Lachen täuscht über den Ernst der Lage hinweg. Das junge Paar hat alles verloren. "Unser Leben ist jetzt ganz anders als früher. Ich habe eigentlich immer Angst. Wir haben unser Haus verloren. Das war unsere einzige Sicherheit." - "Wenn ich auf mein kaputtes Haus schaue, dann zieht sich in mir alles zusammen. Ich kann das immer noch nicht glauben. Das Haus war alles, was wir hatten, und jetzt ist alles weg."
    Die beiden sind 23 Jahre alt und leben mit ihrem kleinen Sohn Krishna in einem kleinen Dorf in den Bergen nordöstlich von Kathmandu. Hier, im Distrikt Dolakha, sind über 90 Prozent aller Häuser zerstört. Dolakha war das Epizentrum des zweiten schweren Erdbebens in Nepal am 12. Mai. Das erste am 25. April hatte das kleine Steinhaus von Buddhi und Sarita schwer beschädigt, beim zweiten verwandelte es sich in einen Trümmerhaufen.
    "Hier gibt es nur die Landwirtschaft zum Überleben"
    "Die vielen Nachbeben und Erdrutsche machen mir Angst. Ich habe meinen Mann davon überzeugt, immer in meiner Nähe zu bleiben. Sonst halte ich das nicht aus. Vielleicht denkt die Natur, dass es zu viele Menschen gibt. Vielleicht sind es die Götter, die entscheiden, wer überlebt und wer nicht."
    Die kleine Siedlung, in der knapp 40 Familien leben, schmiegt sich an einen Berghang, dem die Dorfbewohner schmale Terrassen für ihre Felder und Häuser abgetrotzt haben. Kein einziges Haus steht mehr. Auch einige Terrassen und Bewässerungskanäle sind verschüttet. Auf den umliegenden Berghängen haben Gerölllawinen und Erdrutsche deutliche Spuren hinterlassen. Der Monsunregen erhöht das Risiko, das Hänge wegbrechen. Die Menschen stehen trotzdem in ihren Feldern und bauen Reis an. Sie haben keine Wahl.
    Buddhis zerstörtes Haus.
    Buddhis zerstörtes Haus. (Deutschlandradio / Sandra Petersmann)
    "Hier gibt es nur die Landwirtschaft zum Überleben", erklärt Buddhi. Die Menschen arbeiten hart und ohne Maschinen für ihren Eigenbedarf. Überschüsse erwirtschaftet kaum jemand. Buddhi wird im Dezember zum zweiten Mal Vater. Sarita ist schwanger. "Ich versuche, uns mit Bambus eine bessere Hütte zu bauen. Es ist wirklich schlimm, neben den Trümmern des Hauses zu leben, das ich selber mal für uns gebaut habe. Ich weiß nicht, wie ich das alles wieder aufbauen soll."
    Minderheiten am Rand der Gesellschaft
    Er muss Schulden zurückzahlen. Buddhi hat keine Versicherung und kein Bankkonto. Er hat sich vor vier Jahren von einem privaten Geldverleiher rund 3.000 Dollar geliehen, um sein Haus zu bauen. Er zahlt den Kredit immer noch ab - mit Zinsen. Wenn er als Tagelöhner auf den Feldern anderer Bauern schuftet, verdient er etwa zwei Dollar am Tag. Auch Sarita hat Schulden gemacht. Sie hat sich Geld für eine Nähmaschine geliehen, mit der sie das magere Familieneinkommen aufbessern wollte. Seit dem Erdbeben steht die Maschine nutzlos in der Ecke.
    Die beiden haben gehört, dass Nepals Regierung eine Notentschädigung von 150 Dollar an Erdbebenopfer zahlt, die ihr Haus verloren haben. "Es war auch ein Offizieller da", berichtet Sarita, aber "der hat nur Formulare ausgefüllt und ist wieder verschwunden". Bis jetzt hat keiner im Dorf eine Entschädigung bekommen.
    Buddhi, Sarita und die anderen Dorfbewohner sind Thami. Die kleine ethnische Minderheit lebt abgeschnitten am äußersten Rand der nepalesischen Gesellschaft – ohne direkten Zugang zum Staat und seinen oft korrupten lokalen Behörden.
    Buddhi und Sarita haben keinen Schulabschluss, ihre Eltern haben die beiden mit 16 Jahren verheiratet. Sie stehen stellvertretend für viele tausend Familien, die weit entfernt von Kathmandu, hoch oben und manchmal fast unsichtbar in den Bergen leben. Prem Singh vom Welternährungsprogramm versucht, sie zu erreichen. Seine Planung für den Distrikt Dolakha sieht vor, die Menschen noch bis Ende September mit Nahrungsmitteln zu versorgen.
    Auch das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen
    "Hier lösen sich durch den Monsun ganze Berghänge, es gibt oft Steinschläge, dann sind die Straßen gesperrt. Pfade und Brücken sind auch verschwunden. Der Zugang ist schwierig, einige Dörfer bleiben abgeschnitten. Das Risiko ist groß. Wir haben mit Hubschraubern gearbeitet. Aber jetzt setzen wir verstärkt auf Lastenträger. Das Welternährungsprogramm hat ein Abkommen mit der nepalesischen Bergsteiger-Vereinigung getroffen. Von dort werden uns viele Sherpas zur Verfügung gestellt. Wir nutzen die Sherpas seit etwas mehr als drei Wochen. Bis jetzt haben sie rund 100 Tonnen Nahrungsmittel und Wellblech für uns bewegt."
    "Ich will nur mein altes Haus zurück, mehr brauche ich nicht“, sagt Sarita, die werdende Mutter. Wo sie ihr zweites Kind im Dezember zur Welt bringen wird, ist unklar. Die staatliche Gesundheitsversorgung ist zusammengebrochen. In Dolakha sind über 50 lokale Mini-Ambulanzen komplett zerstört, berichtet der verantwortliche Distriktbeamte Dr. Khageshwor Gela.
    Es sind keine Operationen möglich. Wenn es zum Kaiserschnitt kommen würde, müsste Sarita einen Bus nehmen und über schlechte, teilweise gefährliche Straßen rund 100 Kilometer weit fahren, um die nächste staatliche Klinik zu erreichen, die operieren kann. Für ein privates Krankenhaus haben die beiden kein Geld.
    Nepal hat einen langen, harten Weg vor sich. Die schweren Erdbeben mit ihren hunderten Nachbeben haben eine arme Nation noch ärmer gemacht. Schon jetzt arbeiten rund vier Millionen Nepalesen im Ausland, weil sie zu Hause keine Alternative haben. Darunter sind viele junge Menschen wie Buddhi und Sarita, die in Ländern wie Katar, Malaysia und Saudi-Arabien ausgebeutet und betrogen werden.