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Nach dem Fall

Christoph Geiser: ''Über Wasser. Passagen''. Amman, 320 S., EUR 19,80

Detlef Grumbach | 01.10.2003
    Stellt sich der Schriftsteller der Wirklichkeit oder flieht er sie, interpretiert er sie oder schafft er sich eine eigene?. Und wie tut er das? Zwei Stipendien führen einen Autor im Jahr 1999 nach New York und nach Dresden, an zwei Orte also, wo man besichtigen kann, was von den Utopien geblieben ist, egal ob Freedom and Democrazy oder real existierender Sozialismus. Über Wasser nennt der 1949 in Basel geborene und heute in Bern lebende Christoph Geiser seinen sarkastischen Blick auf die neuen Verhältnisse, sein Buch, in dem er kleine, episodenhafte Texte versammelt, die nur lose zusammenhängen, die von äußeren Anlässen ausgehen, sich dann aber, gerade indem sie sich einen Reim darauf machen wollen, davon lösen. Sie heben ab, verlaufen sich in bis an den Kalauer, ans Klischee oder ans Alberne rührende Sprachspielen, türmen sich auf zu jede Menge literarische oder politische Anspielungen enthaltenden Assoziationsketten und führen zu teils komischen, teils grotesken oder auch befremdlichen Imaginationen.

    Er will ja von vornherein gar nicht nach Amerika. Er will auf den Ozean und er will eigentlich unendlich weiter fahren. Er will in die Ewigkeit. Aber dieses New York ist die Extremform der ökonomischen Wirklichkeit. Und dort landet er im Kellerloch.

    So charakterisiert Geiser die Situation seines Alter egos. "Der Passagier" heißt der erste Text. Auf dem Ozean, wenn überhaupt, nur mit schwankendem Boden des Schiffsdecks unter den Füßen, vom Untergang bedroht, fällt er aus der Zeit, nähert er sich dem Horizont, dem Rand, über den er hinaus will. Doch dann die Freiheitsstatue schmuddelig im Dunst: New York. Der Einwanderungsoffizier verlangt genaue Angaben über den Zweck der Reise. Wer ist der Autor? Was schreibt er? Es dauert eine Weile, bis ihm das rettende Passwort einfällt. "Fiction" – und damit ist auch das Leitmotiv des Buchs umrissen: Keine reality , keine Suche nach Wahrheiten, sondern hinein in die Fiktion, in die Kunst, denn sie ist alles, was dem Autor heute bleibt. "Wo bin ich hier gelandet", fragt sich der Erzähler, und: "Das darf doch nicht wahr sein!" Soll er überhaupt an Land gehen, dorthin, wo der Kapitän nicht einmal Rasierzeug kauft, statt dessen: nichts wie weg! Er geht, und landet in dem Kellerloch, aus dem er – das zweite Kapitel – einer Hohen Kommission Rechenschaft ablegen muss.

    Die Hohe Kommission, an die er den Bericht schreibt, steht ja für die Gesellschaft. Die Gesellschaft schickt den Autor irgendwo hin, aber warum tut sie das. Was erwartet sie von dem Autor? Was hat der für eine Funktion? Er probiert ja in diesem Text alle möglichen Funktionen aus. Soll er Jonas sein, der nicht mehr predigen will? Soll er die Vernichtung der großen Stadt vorauspredigen? Soll er sagen, wann die untergeht? Soll er dort den letzten Gerechten suchen? Was soll er dort? Er probiert Möglichkeiten aus und am Schluss landet er in der Phantasie, in der Vorstellung, dass er auf dem Schiff bleibt und eine Flaschenpost nach der anderen schreibt und die dem Ozean übergibt – to whom it may concern – aber das ist auch eine überrissene Position.

    Seine politische und literarische Sozialisation hat Geiser in dem siebziger Jahren erfahren. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei und Kulturredakteur des Vorwärts . 1978 erschien sein Debüt Grünsee , zwei Jahre später folgte der Roman "Brachland", zwei durchaus noch der Erzähltradition der Schweiz verpflichtete Bücher, die den Verfall der bürgerliche Gesellschaft protokollieren. Je mehr sich die Gesellschaft jedoch dem Veränderungswillen der Linken entzog, je bedrohlicher die Wirklichkeit auf den Autor wirkte, je mehr entwickelte er eine innere, bis zum letzten angespannte rhetorische Sprache. Mit Ironie und Sarkasmus gepaart schleudert er der äußeren Welt den Schrei und das Lachen der Verzweiflung entgegen, triumphiert er mit seiner Lust an der Kunst über die düstere Wirklichkeit. Zuletzt erscheint der Roman Die Baumeister , in dem er sich dem 1720 geborenen Architekten Giovanni Battista Piranesi nähert, dem Architekten, der in der Realität nicht bauen durfte, sich in seiner Funktionslosigkeit aber in eine phantastische und allmächtige Bauwut auf dem Papier gestürzt hat. Und nun "Über Wasser" – ein Passage, wie die Gattungsbezeichnung lautet, das Protokoll eines "Scheiterns im Sinken", wie es einmal heißt, oder die "Flaschenpost eines Scheiternden"?

    Und nachher nimmt er dann sozusagen den Boden unter die Füße und schaut sich dieses Monster von Stadt an – aber auf dem Weg in die Kirche. Wo er eigentlich hingeht, um ein Konzert zu hören. Also schon dort ist dann die Wirklichkeitswahrnehmung in Frage gestellt durch das chiliastische Ziel, oder das künstlerische Ziel. Selbstverständlich ist das ein Buch, das vom Scheitern handelt, vom politischen Scheitern, auch vom Scheitern als Autor mit Autorität. Wie Die Baumeister ist es auch ein Buch der Ohnmacht, das sich aber nicht mehr in die Allmachtsphantasien flüchten kann, sondern in literarische Nischen, in Sprachnischen, in wechselnde Identifikationen, es ist eine Rettung in die Ironie, eine Rettung ins Groteske und immer wieder auch eine Rettung in die Bildende Kunst.

    Montaignes Essais hat er im Reisegepäck, und wie eine Folie liegt Kafkas Amerika-Fragment unter Geisers Passagen . Dessen Held Karl Rossmann war von seinen Eltern nach Amerika verbannt worden. Dort sollte er sich finden, seinen Beruf, seine Bestimmung – aber er scheitert. Und als ein aus der Gesellschaft Verbannter intoniert Geiser die herrlichen Fassaden New Yorks, die riesigen, einladenden Hauseingängen, in die ein Normalsterblicher aber nicht hinein darf, das gleichermaßen DDR- und Amerikagemäße: "Lassen Sie den Stuhl da stehen! Dies ist ein Zweiertisch! "Wait to be seated!" Er steigert sich in den skurrilen Versuch, seiner Pflicht zu entkommen und in die Südsee, also aus der Welt zu fliehen, reist zurück nach Antwerpen ins alte Europa, ins beschaulichen Dresden mit seinen Plattenbauten und Ruinen, Galerien und Museen. Bilder sind es, die den Vergleich zwischen ökonomischer Vernunft und romantischem Glanz ermöglichen: "Nur wer nichts hat – nichts zu verlieren" – heißt es – "kann so glänzen, und: für nichts."

    Es ist eine Ambivalenz. Einerseits stehen wir der Macht von Verboten, von Geschriebenem gegenüber und möchten als Autoren, als Leute, die mit Sprache arbeiten, dem etwas entgegensetzen. Aber wir sind ja ohnmächtig. Aber was ich dem entgegensetzen kann oder glaube gefunden zu haben, dem entgegensetzen zu können, das ist die Redundanz, und das ist die Ironie, das "quasi". Das ist eine Ästhetik des Widerstands in der Sprache gegen die Sprachgläubigkeit, gegen die Sprachregelung – das zieht sich dann in die Auseinandersetzung mit der ehemaligen DDR hinein. Das ist die einzige Macht die ich habe, und das ist auch, wenn man so will, ein semiotischer Ansatz und nicht ein hermeneutischer. Nicht was ich sage ist entscheidend, sondern mit welchen Zeichen ich es sage.

    "Schreiben – eine Erregung" titelte Geiser eine Erzählung, die den Übergang vom Erzählen zur rhetorischen Sprache markiert. Wohin ihn diese Erregung, dieses "geile Reden", wie er die Sprache des Piranesi-Romans nannte, führt, überrascht von Buch zu Buch aufs Neue. Die Macht, so Geisers These angesichts der Skyline von New York oder des Schatzes der Wettinger im Grünen Gewölbe, aber auch ihrer oft sinnentleerten Sprache, braucht keine Bedeutung. Sie braucht nur die Zeichen. Also nimmt der nach wie vor politische Autor die Zeichen und spielt mit ihnen. An einen Schlusspunkt, an ein Ende kann ein solches Schreiben nicht führen. Die Passage enden in Dresden mit der Betrachtung eines amerikanischen Bildes – eines wichsenden Knaben:

    Also wenn man die Aussage des letzten Textes auf die Spitze treiben will, so ist es das Ende in der Kunst als Selbstbefriedigung. Und eine Rückkehr in die Kunst aus der Wirklichkeit. Aber mit der Sehnsucht nach der Wirklichkeit.