Wir sprechen heute von einer "Wissens- oder Informationsgesellschaft" und meinen eigentlich eine Gesellschaft, die ihr Wissen nicht bewältigen kann. Denn seit Ende des Mittelalters hatte sich das Wissen allmählich von den Zwängen der Kirche gelöst und jetzt ganz neue Dimensionen erreicht
Ohne eine enorme Flut von Informationen scheint unsere Gesellschaft nicht mehr zu funktionieren. Gleichzeitig stürzen Nachrichten, Meldungen und Daten auf uns ein, die wir im Alltag kaum bewältigen können. Und auch Wissenschaftler, zu deren Beruf es zählt, die Daten zu verarbeiten, können sie nur noch mühsam überblicken. Wir sprechen von "Wissens- oder Informationsgesellschaft" und meinen eigentlich eine Gesellschaft, die ihr Wissen nicht bewältigen kann. Doch ist das eine so neue Erscheinung oder handelt es sich um eine Entwicklung, die sich schon lange abzeichnete?
Mit dem Wandel dieser "Wissensgesellschaft" beschäftigt sich jetzt ein opulenter Sammelband, den der in diesem Frühjahr verstorbene Historiker Richard van Dülmen, einer der wichtigsten Vertreter der Historischen Anthropologie in Deutschland, und seine Kollegin Sina Rauschenbach von der Universität Saarbrücken zusammengestellt haben. Er befasst sich mit der Macht des Wissens und ihrem Wandel seit der frühen Neuzeit. Seit dem Ende des Mittelalters hatte sich das Wissen allmählich von den Zwängen der Kirche gelöst und jetzt ganz neue Dimensionen erreicht, wie Sina Rauschenbach erläutert.
Sie haben durch den Humanismus einen Zugang zum antiken Wissen, das neu auflebt, das neu aufgenommen wird, und mit dem sich natürlich eine weltliche Perspektive in das Ganze einbringt. Was aber, denke ich, das Entscheidende ist, ist dass weltliches Wissen nicht mehr nur deshalb ausschließlich sich angeeignet wird, weil es im Grunde nur die Vorstufe zum Wissen über Gott ist, sondern dass es jetzt auch ein weltliches Wissen gibt, das irgendwie versucht das Leben der Menschen zu beeinflussen, die Kultur der Zeit über Wissen auch steuern kann und letztlich auch eingreifen kann in die unmittelbaren Bedingungen, in denen man lebt. Sicherlich ein Aspekt, der Ende des 16., eher Anfang des 17. Jahrhunderts entsteht d der von dieser Zeit an einen massiven Aufschwung nimmt.
Diese Verlagerung und Verweltlichung des Wissens bedeutet, dass sich alle Bereiche des Lebens der Neugierde der Forscher öffnen. Ob es das Heilwesen, der Weltraum, die Naturgeschichte oder technische Neuschöpfungen sind: all das wird zum Forschungsgegenstand erhoben. In vielen dieser Bereiche, die der Band behandelt, wird immer mehr Wissen angesammelt. Ab dem 17. Jahrhundert gehören sie zum Kanon der Wissenschaften. Das verändert auch die Universitäten, die erst jetzt zu Orten der Forschung werden.
Im Augenblick verändert sich erst einmal, dass Forschung zum Inhalt der Universität wird. Es gibt ja dieses Klischeebild, dass die Universitäten absolut rückständig gewesen seien und die ganze bahnbrechende Forschung an den Akademien stattgefunden hat im 17. Jahrhundert. Das ist inzwischen mehr oder weniger revidiert. Aber letztlich war an den Universitäten kein Forschungsauftrag in diesem Sinne vorhanden, d.h. die Universitäten waren zur Lehre bestimmt und die Forschung fand statt insofern die Wissenschaftler ihre eigenen Forschungen natürlich betrieben haben, die Professoren, aber letztlich doch nicht als Programm der Universität und ich denke, das ist der entscheidende Punkt.
Die einzelnen Aufsätze zeigen auf, dass Gesellschaften ohne Wissen nicht funktionieren. Wissen hilft, Natur besser zu verstehen und besser mit ihr umgehen zu können. Gleichzeitig erhalten Menschen, die dieses Wissen haben, jedoch auch eine größere Macht. Nicht umsonst heißt das Buch "Macht des Wissens". Es ist eine ambivalente Macht.
Erst mal ist Macht hier in unserem Band nicht ausschließlich herrschaftliche Macht. Die Titelwahl geht letztlich auf Francis Bacon zurück, der in einem Aphorismus von seinem "neuen Organon" 1620, gesagt hat, dass menschliches Wissen und menschliche Macht zusammenfallen. Und das bedeutet hier, dass Menschen die Ursachen der Dinge kennen, die in der Natur geschehen, diese Dinge letztlich dann auch steuern können, indem sie einfach daraus Handlungsanweisungen ableiten aus ihrer Kenntnis. D.h. Macht ist hier primär Beherrschung der Natur. Es ist eine Herrschaft über Situationen, eine Herrschaft über den Zufall, am Ende natürlich auch eine Herrschaft in der Gesellschaft. Aber es geht nicht nur um die politische oder soziale Funktion von Macht. Das ist für den ganzen Band wichtig. Macht heißt hier einfach, ein Wissen das angewandt wird, um Lebensumstände zu verändern und zu beeinflussen.
Die andere Seite dieses bewussteren, weltlichen Umgangs mit Natur ist jene Ausbreitung von gesellschaftlicher Herrschaft durch Wissen, die Michel Foucault einmal als "Dispositive der Macht" bezeichnet hat. Denn Wissen bedeutet in der Moderne eben auch Rationalität, Verdrängung von Sinnlichkeit und Körperlichkeit, wie sie etwa seit den Hexenverfolgungen im Kampf gegen das weibliche Wissen zum Ausdruck kommt. Nur jenes Wissen kann seit der Aufklärung wirklich überleben, das in den Wissensapparaten seinen Ort findet und nicht als Aberglauben verleugnet wird.
Dieser Kampf zwischen dem rationalen Wissen und sinnlicher Beobachtung und Erfahrung wird in dem Band als randständiger Bereich marginalisiert. Dadurch gelingt es den Autoren nur zum Teil verständlich zu machen, warum mit der Ausbreitung von Hygiene, Diät und Volksaufklärung nur ein ganz bestimmter Bereich von Wissenschaft, wie etwa die Medizin, zur Deutungsmacht wird, die nicht weiter hinterfragt zu werden braucht.
Dass die Popularisierung des Wissens auch eine Seite der Ausgrenzung besitzt, zeigt sich spätestens dort, wo Wissen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch zur Unterhaltung und Kurzweil wird. Wissen verbreitet sich zwar jetzt in Salons oder auf Jahrmärkten, doch in einer Beliebigkeit, bei der der einzelne den Überblick verliert. "Physik im Alltag" und Hokuspokus mit Knalleffekt bedeutet eben nicht mehr Wissen, sondern nur mehr unsortierte Fakten.
Das Ende des Humboldtschen Gelehrten, der sein Wissen noch anwenden konnte, ist vielleicht schon der Vorbote für die Informationsflut des Internets, die nur den informiert, der bereits Kenntnisse anderswo erworben hat. Diese Fragen wirft der Band implizit zwar auf, doch er beantwortet sie nicht, weil er Mitte des 19. Jahrhunderts abbricht. Ein zweiter Band aus der heutigen Perspektive der Informationsflut könnte erst wirklich den Zusammenhang zwischen Wissen, Macht und Herrschaft in der modernen Wissensgesellschaft klären.
Richard von Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.)
Macht des Wissens
Böhlau Verlag, EUR 64,90
Ohne eine enorme Flut von Informationen scheint unsere Gesellschaft nicht mehr zu funktionieren. Gleichzeitig stürzen Nachrichten, Meldungen und Daten auf uns ein, die wir im Alltag kaum bewältigen können. Und auch Wissenschaftler, zu deren Beruf es zählt, die Daten zu verarbeiten, können sie nur noch mühsam überblicken. Wir sprechen von "Wissens- oder Informationsgesellschaft" und meinen eigentlich eine Gesellschaft, die ihr Wissen nicht bewältigen kann. Doch ist das eine so neue Erscheinung oder handelt es sich um eine Entwicklung, die sich schon lange abzeichnete?
Mit dem Wandel dieser "Wissensgesellschaft" beschäftigt sich jetzt ein opulenter Sammelband, den der in diesem Frühjahr verstorbene Historiker Richard van Dülmen, einer der wichtigsten Vertreter der Historischen Anthropologie in Deutschland, und seine Kollegin Sina Rauschenbach von der Universität Saarbrücken zusammengestellt haben. Er befasst sich mit der Macht des Wissens und ihrem Wandel seit der frühen Neuzeit. Seit dem Ende des Mittelalters hatte sich das Wissen allmählich von den Zwängen der Kirche gelöst und jetzt ganz neue Dimensionen erreicht, wie Sina Rauschenbach erläutert.
Sie haben durch den Humanismus einen Zugang zum antiken Wissen, das neu auflebt, das neu aufgenommen wird, und mit dem sich natürlich eine weltliche Perspektive in das Ganze einbringt. Was aber, denke ich, das Entscheidende ist, ist dass weltliches Wissen nicht mehr nur deshalb ausschließlich sich angeeignet wird, weil es im Grunde nur die Vorstufe zum Wissen über Gott ist, sondern dass es jetzt auch ein weltliches Wissen gibt, das irgendwie versucht das Leben der Menschen zu beeinflussen, die Kultur der Zeit über Wissen auch steuern kann und letztlich auch eingreifen kann in die unmittelbaren Bedingungen, in denen man lebt. Sicherlich ein Aspekt, der Ende des 16., eher Anfang des 17. Jahrhunderts entsteht d der von dieser Zeit an einen massiven Aufschwung nimmt.
Diese Verlagerung und Verweltlichung des Wissens bedeutet, dass sich alle Bereiche des Lebens der Neugierde der Forscher öffnen. Ob es das Heilwesen, der Weltraum, die Naturgeschichte oder technische Neuschöpfungen sind: all das wird zum Forschungsgegenstand erhoben. In vielen dieser Bereiche, die der Band behandelt, wird immer mehr Wissen angesammelt. Ab dem 17. Jahrhundert gehören sie zum Kanon der Wissenschaften. Das verändert auch die Universitäten, die erst jetzt zu Orten der Forschung werden.
Im Augenblick verändert sich erst einmal, dass Forschung zum Inhalt der Universität wird. Es gibt ja dieses Klischeebild, dass die Universitäten absolut rückständig gewesen seien und die ganze bahnbrechende Forschung an den Akademien stattgefunden hat im 17. Jahrhundert. Das ist inzwischen mehr oder weniger revidiert. Aber letztlich war an den Universitäten kein Forschungsauftrag in diesem Sinne vorhanden, d.h. die Universitäten waren zur Lehre bestimmt und die Forschung fand statt insofern die Wissenschaftler ihre eigenen Forschungen natürlich betrieben haben, die Professoren, aber letztlich doch nicht als Programm der Universität und ich denke, das ist der entscheidende Punkt.
Die einzelnen Aufsätze zeigen auf, dass Gesellschaften ohne Wissen nicht funktionieren. Wissen hilft, Natur besser zu verstehen und besser mit ihr umgehen zu können. Gleichzeitig erhalten Menschen, die dieses Wissen haben, jedoch auch eine größere Macht. Nicht umsonst heißt das Buch "Macht des Wissens". Es ist eine ambivalente Macht.
Erst mal ist Macht hier in unserem Band nicht ausschließlich herrschaftliche Macht. Die Titelwahl geht letztlich auf Francis Bacon zurück, der in einem Aphorismus von seinem "neuen Organon" 1620, gesagt hat, dass menschliches Wissen und menschliche Macht zusammenfallen. Und das bedeutet hier, dass Menschen die Ursachen der Dinge kennen, die in der Natur geschehen, diese Dinge letztlich dann auch steuern können, indem sie einfach daraus Handlungsanweisungen ableiten aus ihrer Kenntnis. D.h. Macht ist hier primär Beherrschung der Natur. Es ist eine Herrschaft über Situationen, eine Herrschaft über den Zufall, am Ende natürlich auch eine Herrschaft in der Gesellschaft. Aber es geht nicht nur um die politische oder soziale Funktion von Macht. Das ist für den ganzen Band wichtig. Macht heißt hier einfach, ein Wissen das angewandt wird, um Lebensumstände zu verändern und zu beeinflussen.
Die andere Seite dieses bewussteren, weltlichen Umgangs mit Natur ist jene Ausbreitung von gesellschaftlicher Herrschaft durch Wissen, die Michel Foucault einmal als "Dispositive der Macht" bezeichnet hat. Denn Wissen bedeutet in der Moderne eben auch Rationalität, Verdrängung von Sinnlichkeit und Körperlichkeit, wie sie etwa seit den Hexenverfolgungen im Kampf gegen das weibliche Wissen zum Ausdruck kommt. Nur jenes Wissen kann seit der Aufklärung wirklich überleben, das in den Wissensapparaten seinen Ort findet und nicht als Aberglauben verleugnet wird.
Dieser Kampf zwischen dem rationalen Wissen und sinnlicher Beobachtung und Erfahrung wird in dem Band als randständiger Bereich marginalisiert. Dadurch gelingt es den Autoren nur zum Teil verständlich zu machen, warum mit der Ausbreitung von Hygiene, Diät und Volksaufklärung nur ein ganz bestimmter Bereich von Wissenschaft, wie etwa die Medizin, zur Deutungsmacht wird, die nicht weiter hinterfragt zu werden braucht.
Dass die Popularisierung des Wissens auch eine Seite der Ausgrenzung besitzt, zeigt sich spätestens dort, wo Wissen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch zur Unterhaltung und Kurzweil wird. Wissen verbreitet sich zwar jetzt in Salons oder auf Jahrmärkten, doch in einer Beliebigkeit, bei der der einzelne den Überblick verliert. "Physik im Alltag" und Hokuspokus mit Knalleffekt bedeutet eben nicht mehr Wissen, sondern nur mehr unsortierte Fakten.
Das Ende des Humboldtschen Gelehrten, der sein Wissen noch anwenden konnte, ist vielleicht schon der Vorbote für die Informationsflut des Internets, die nur den informiert, der bereits Kenntnisse anderswo erworben hat. Diese Fragen wirft der Band implizit zwar auf, doch er beantwortet sie nicht, weil er Mitte des 19. Jahrhunderts abbricht. Ein zweiter Band aus der heutigen Perspektive der Informationsflut könnte erst wirklich den Zusammenhang zwischen Wissen, Macht und Herrschaft in der modernen Wissensgesellschaft klären.
Richard von Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.)
Macht des Wissens
Böhlau Verlag, EUR 64,90