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Nach dem Referendum
Schottische Unabhängigkeit ist denkbar

Der deutsche BBC-Journalist Andreas Wolff berichtet aus Schottland und sieht dort nach dem Brexit-Referendum eine große Verunsicherung in der Bevölkerung. Regierungschefin und Brexit-Gegnerin Nicola Sturgeon verhalte sich allerdings widersprüchlich, sagte er im Deutschlandfunk. Dennoch hält Wolff es für möglich, dass Schottland vom Vereinigten Königreich unabhängig wird.

Andreas Wolff im Gespräch mit Christine Heuer | 27.06.2016
    Ein Schild mit der Aufschrift "Willkommen in Schottland" steht auf einem Parkplatz der A1 an der englisch-schottischen Grenze in der Nähe von Berwick-upon-Tweed.
    Noch ist die Grenze zwischen England und Schottland eine innerhalb des Vereinigten Königreichs. (dpa / Jens Dudziak)
    "Viele Leute scheinen schockiert, verunsichert, selbst Befürworter des Austritts hatten dieses Ergebnis nicht erwartet", sagte Wolff im Deutschlandfunk. Er berichtet seit zwölf jahren für den öffentlich-rechtlichen Sender BBC aus Schottland, wo sich am Donnerstag 62 Prozent der Bürger gegen den Brexit ausgesprochen hatten; im gesamten Vereinigten Königreich waren es nur 48 Prozent. "Da scheint ein Erdrutsch in manchen Teilen der Bevölkerung zu passieren", so Wolff.
    Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon verhält sich seiner Ansicht nach widersprüchlich. Einerseits wolle sie den Brexit durch das schottische Parlament verhindern, selbst wenn es fraglich sei, dass sie das wirklich könne. Damit würde sie aber auch ihren Plan einer schottischen Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich aufgeben. Andererseits treibe sie gerade diesen Plan voran, indem sie in Brüssel ihre Fühler ausstrecke, ob Schottland nach einer Unabhängigkeit, für die sie ein neues Referendum anstrebe, nahtlos Mitglied in der EU bleiben könne.
    Die Art, wie der britische Premierminister David Cameron seinen Rückzug gestaltet, bezeichnete Wolff als "schlauen Schachzug". Indem Cameron den Antrag auf Austritt nach Artikel 50 dem nächsten Premierminister überlasse, gebe er den Schwarzen Peter weiter. Am Wochenende habe es zudem Berichte über einen konservativen Abgeordneten gegeben, der gesagt habe, es gebe keinen Plan für den Brexit.

    Das Gespräch in voller Länge:
    Christine Heuer: Der Brexit jetzt noch einmal aus britischer Sicht, nicht aus London, sondern aus Schottland. Dort berichtet der deutsche Journalist Andreas Wolff seit gut zwölf Jahren für die BBC, und er beobachtet dieser Tage gespannt, wie die Schotten sich nach dem Brexit positionieren. Denn Schottland, so macht es den Eindruck, möchte lieber aus dem Vereinigten Königreich austreten als aus der EU. Guten Morgen, Herr Wolff.
    Andreas Wolff: Guten Morgen, Frau Heuer!
    Heuer: Wie erleben Sie die Stimmung in Schottland nach dem Brexit?
    Wolff: Viele Leute scheinen schockiert, verunsichert. Selbst Befürworter des Austritts hatten, glaube ich, dieses Ergebnis nicht erwartet. Und es gibt jetzt auch schon vermehrt Stimmen für ein zweites Referendum. Ob das kommen wird, ist wohl politisch noch schwer durchsetzbar. Aber in Schottland höre ich, dass selbst langjährige Wähler der konservativen Partei, die ja nun politisch im absolut gegengesetzten Lager ist, jetzt zum Teil schottische Unabhängigkeit befürworten. Da scheint ein Erdrutsch in manchen Teilen der Bevölkerung zu passieren.
    Heuer: Aber wäre das eine realistische Option, der Austritt aus United Kingdom, oder eine Blockade des Brexit? Ist das überhaupt denkbar?
    Wolff: Die SNP, die Schottische Nationalpartei hat ja seit Jahrzehnten für den Austritt gekämpft. 2014 gab es die erste richtige Chance mit einem Referendum. Damals haben 55 Prozent der Schotten für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Aber jetzt hat die erste Ministerin, Nicola Sturgeon, oder Ministerpräsidentin, wenn Sie so wollen, gesagt, wenn Großbritannien aus der EU austritt, aber die Mehrheit der Schotten für den Verbleib stimmt, wie geschehen - 62 Prozent der Schotten haben sich für den Verbleib ausgesprochen in der EU -, dann wäre das eine ausreichende Veränderung der Umstände, um ein erneutes Referendum durchzuführen. Und nach einer Umfrage, die ich gerade gesehen habe vom Wochenende, sind wohl 65 Prozent der Schotten jetzt für einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich, und Frau Sturgeon hat bereits Fühler ausgestreckt hier nach Brüssel, um festzustellen, ob nicht Schottland sozusagen nahtlos die Mitgliedschaft in der EU fortführen könnte. Diese Pläne will sie am Dienstag wohl auch im schottischen Parlament diskutieren.
    Schottlands Regierungschefin will Brexit blockieren
    Heuer: Das kann tatsächlich sein, dass Schottland diesen Weg geht? Sie schließen das nicht komplett aus?
    Wolff: Im Gegenteil! Wenn es so kommt, dass Großbritannien aus der EU austritt, dann halte ich das für durchaus denkbar. Frau Sturgeon hat aber am Wochenende auch ganz erstaunlich in der BBC Schottland gesagt in einem Interview, dass sie das schottische Parlament bitten wird, den Brexit zu blockieren. Ob sie das rechtlich kann, halte ich für fraglich. Andere Politiker haben sich schon geäußert und haben das ausgeschlossen. Aber zumindest würde es wohl Signalwirkung haben. Die Frage ist aber: Das ist wirklich ganz beeindruckend, weil das würde ja eigentlich ihr jahrzehntelanges Ziel der schottischen Unabhängigkeit, die jetzt nun wirklich zum Greifen nahe ist, das würde das nun wieder in den Hintergrund stellen. Aber die EU-Mitgliedschaft scheint ihr dennoch so wichtig zu sein, dass sie das blockieren will, koste es was es wolle.
    Heuer: Herr Wolff, wir halten mal fest: Die schottische Regierung will es offenbar tatsächlich versuchen. Wie sauer sind eigentlich die Schotten auf Großbritannien, auf David Cameron zum Beispiel oder auf Boris Johnson, der diesen Brexit ja maßgeblich mit ermöglicht hat? Was halten die Schotten von dieser Regierung?
    Wolff: Die Schotten haben ja die konservative Partei und damit auch David Cameron noch nie geliebt. Die Schotten wählen ja schon seit Jahrzehnten immer eher links. Herr Cameron hat zwar energetisch für den Verbleib in der EU gekämpft, aber dennoch nicht wirklich mit Leidenschaft. Es war allerdings jetzt ein schlauer Schachzug von ihm, denke ich, zurückzutreten und den Artikel 50 - das ist dieser Brief, den er nach Brüssel schicken muss, dass sie jetzt wirklich austreten wollen -, das will er jetzt dem nächsten Premierminister überlassen. Damit hat er den schwarzen Peter sozusagen dem nächsten übergeben. Und wenn Sie sich die Gesichter von Boris Johnson und Michael Gove - das waren ja die beiden, die am stärksten für den Austritt gekämpft haben -, wenn Sie sich die angeschaut haben, die wollen das auch nicht wirklich machen, glaube ich. Und was ich auch ganz interessant fand am Wochenende, war der Sky News politische Redakteur Faisal Islam. Der sagte im Fernsehen, dass ein konservativer Brexit-Abgeordneter ihm gesagt hätte, es gäbe auch gar keinen Plan für den Brexit. Es hat keiner einen Plan für den Brexit.
    Heuer: Dann sind wir gespannt, wie das weitergeht.
    Wolff: In der Tat.
    Heuer: Andreas Wolff, der als deutscher Journalist für die BBC in Schottland arbeitet. Haben Sie Dank für Ihre Zeit und für die Eindrücke, die Sie uns geschildert haben.
    Wolff: Gerne, Frau Heuer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.