Mittwoch, 17. April 2024

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Nach den Anschlägen in Brüssel
Angst vor Terror-Angriff auf belgisches AKW

Die belgischen Atomkraftwerke in Doel und Tihange haben nach den Anschlägen von Brüssel ihren Betrieb eingeschränkt. Tihange ist 70 Kilometer von Aachen entfernt. Ein Unfall oder Anschlag dort könnte auch deutsche Städte betreffen. Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp im Gespräch.

Marcel Philipp im Gespräch mit Sabine Demmer | 23.03.2016
    Das umstrittene belgische Atomkraftwerk Tihange.
    Das umstrittene belgische Atomkraftwerk Tihange. (AFP / Belga / Eric Lalmand)
    Sabine Demmer: Angst vor weiteren Anschlägen hat man seit gestern in ganz Europa. Es gilt immer noch die höchste Alarmstufe für Belgien. Zusätzliche Polizisten und auch Soldaten wurden mobilisiert. Mit weniger Personal dagegen arbeitet man gerade in den belgischen Atomkraftwerken, in Doel und Tihange. Das soll das Risiko minimieren, dass Personen auf das Gelände kommen, die "Böses im Schilde führen könnten".
    Die Angst vor einem möglichen Angriff auf ein Atomkraftwerk in Belgien kommt nicht von Ungefähr. Französische und belgische Kriminalbeamte sind bei anderen Ermittlungen schon auf mögliche Anschlagspläne gegen Nuklearanlagen in Belgien gestoßen. Eine radioaktive Wolke bräuchte gerade mal drei Stunden, um auch Deutschland zu erreichen. Tihange beispielsweise ist nur 70 Kilometer von Aachen entfernt.
    Ich habe mit Aachens Oberbürgermeister vor dieser Sendung sprechen können und habe ihn gefragt, wie sicher er sich derzeit in Aachen fühlt.
    Marcel Philipp: Wir diskutieren in Aachen seit einigen Monaten über die Sicherheit von Atomkraftwerken, insbesondere Tihange, weil wir doch überrascht waren, dass Tihange insbesondere mit dem Reaktor, der ja wegen der erkannten Risse in Diskussionen war, wieder hochgefahren wurde. Das hat zu Diskussionen über die Sicherheit allgemein geführt, aber natürlich auch einen Bezug dazu, dass man sich die unterschiedlichsten Szenarien vorstellen kann, welche Störfälle dort möglich wären.
    Der schlimmste Fall ist für die Region nicht beherrschbar
    Demmer: Pannenmeldungen aus dem Nachbarland Belgien gehören leider schon zum Alltag, muss man sagen. Falls es zu einem Atomunfall kommen sollte, wie sind Sie gewappnet?
    Philipp: Es gibt natürlich für jedes denkbare Szenario Katastrophenschutzpläne und bei einem maximalen Störfall, bei dem sogenannten INES-VII-Fall oder dem Gau, ist es natürlich so, dass auch Aachen massiv betroffen wäre und je nach Windrichtung auch nachhaltig geschädigt werden könnte. Wir sind mit unseren Strukturen zwar vorbereitet, aber dieser maximale Fall ist am Ende für die gesamte Region nicht beherrschbar.
    Demmer: Anfang Dezember hieß es, Aachen probt die Atomkatastrophe. Was haben Sie da genau geübt?
    Philipp: Wir haben eine Krisenstabsübung gemacht, in der wir in Echtzeit mal durchgespielt haben, was passiert bei verschiedenen Störfällen, angefangen von einem leichten Störfall bis hin zu dem größtmöglichen, welche Möglichkeiten haben wir, die Verkehrssituation noch im Griff zu halten, und wie können wir die Menschen so informieren, dass möglichst wenig Schaden entsteht.
    Demmer: Wie sollte sich die Bevölkerung denn verhalten?
    Philipp: Es ist eigentlich bei fast allen Schadensfällen dieser Art so, dass die erste Aufforderung sein würde, die Häuser nicht zu verlassen und auf weitere Meldungen zu warten, weil wir natürlich zunächst einmal versuchen würden herauszufinden, wo welche Belastungssituation entsteht, das heißt radioaktive Messwerte aufzunehmen und auszuwerten. Da gibt es verschiedene Auswirkungen, denen man entgegentreten müsste, und eine der Wirkungen ist, dass man möglicherweise mit Kaliumjod-Tabletten eine spätere Krankheit verhindern könnte, die durch die Strahlung entsteht.
    Streit um Versorgung mit Jod-Tabletten
    Demmer: Sie haben die Jod-Tabletten angesprochen. Haben Sie solch eine Tablette bereit liegen?
    Philipp: Es ist so, dass wir für Aachen, für die Stadt Aachen über 300.000 dieser Tabletten verfügbar haben. Aber zugleich wissen wir, dass es im Ernstfall ein Problem sein würde, die auch dann so zu verteilen, wie sie eingenommen werden müssten. Ganz konkret in einem größten Unfall, im Gau-Fall ist es so, dass wir von einer so chaotischen Situation auf den Straßen ausgehen, dass eine reguläre Verteilung von 300.000 Tabletten in dieser Situation gar nicht mehr vernünftig durchsetzbar ist.
    Demmer: Die Vorstellung jetzt, es passiert etwas, Sie sagen den Leuten, sie sollen im Haus bleiben und gleichzeitig sagen Sie wiederum, die Menschen sollen sich eine Jod-Tablette besorgen. Das ist ein bisschen widersprüchlich, oder?
    Philipp: Genau deshalb sind wir mit Bund und Land im Gespräch, damit wir die Anzahl der Jod-Tabletten rechtzeitig aufgestockt bekommen, um dann eine Vorverteilung vornehmen zu können. Denn das Problem ist ja genau das, was Sie sagen: Am Ende muss die Jod-Tablette da sein, wo die Menschen sind, und das betrifft insbesondere junge Menschen, also unter 45jährige, insbesondere dann natürlich bei uns Kindergärten, Schulen und Universitäten. Dort müssen die Jod-Tabletten dann sein, wenn auch die Menschen dort sind, denn wir werden dieses Paradoxon nicht anders auflösen können, zugleich sich um Tabletten zu kümmern, aber das Haus nicht verlassen zu dürfen.
    Demmer: Wieso verteilen Sie die denn nicht schon im Vorfeld, jetzt beispielsweise, bevor etwas passiert?
    Philipp: Die Anzahl der Tabletten reicht für eine Vorverteilung nicht aus, weil Sie ja verschiedene Zeiten durchdenken müssen. Wenn etwas in der Woche vormittags passiert, wo alle in den Einrichtungen sind, und Sie hätten vorverteilt in Schulen und Kindergärten und Hochschule, dann hätten Sie die Tabletten dort, wo sie sein müssen. Wenn das aber Sonntagsvormittags passiert, dann haben Sie die Tabletten an Orten, wo keiner ist.
    Demmer: Wenn Sie nicht genügend Tabletten haben, warum besorgen Sie dann nicht einfach mehr?
    Philipp: Es sind Tabletten, die im Auftrag des Bundes angeschafft wurden, auch vom Bund finanziert, und das Land verhandelt mit dem Bund darüber, wo in welcher Form in welcher Menge Tabletten nachgeliefert werden müssen. Und wir haben die Zusage des Landes, wenn das nicht in den nächsten Wochen seitens des Bundes geschieht, dass das Land dann in Eigenregie auf eigene Rechnung selber Tabletten nachordert. Einer muss die Zuständigkeit haben und die ist nun mal beim Land und wir warten darauf, dass wir endlich dann mit der Verteilung beginnen können.
    Demmer: In dem Fall spreche ich jetzt mal für die Aachener. Ich glaube, kein Mensch hätte ein Problem damit, auch eine Jod-Tablette selbst zu bezahlen, wenn er sie denn jetzt schon bekommen könnte.
    Philipp: Das ist natürlich möglich. Natürlich können Sie Jod-Tabletten kaufen. Auch die Apotheken sind darauf vorbereitet. Das haben auch schon viele getan. Das ist überhaupt kein Problem. Gleichzeitig muss man aber auch sagen: Erstens, Jod-Tabletten schützen nicht vor allen denkbaren Schäden, sondern nur vor einem ganz bestimmten Fall. Sie müssen zweitens genau dann eingenommen werden, wenn die Strahlenbelastung kurz bevorsteht. Und drittens gibt es Nebenwirkungen. Jemand, der über 45 ist, sollte möglichst diese Tabletten schon nicht mehr nehmen, weil die Wahrscheinlichkeit einer schädlichen Nebenwirkung größer ist als der Nutzen. Und bei jüngeren Menschen muss man sehr aufpassen, dass man die Indikation beachtet, die zu Nebenwirkungen führen kann.
    Demmer: Wie Aachen auf einen möglichen Atomunfall vorbereitet ist, darüber habe ich mit Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp gesprochen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.