Hans-Georg Wieck: Von den 700 Kandidaten für die 110 Sitze des Parlaments sind 200 bei den Registrierungen wegen angeblich falscher Unterschriften bei den Anträgen eliminiert worden. Und unter diesen 200 eliminierten Kandidaten sind etwa 80 Prozent der unabhängigen, demokratischen Kandidaten, die nicht auf der Linie der Regierung liegen. Am Ende hatte also die Bevölkerung nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Personen ein und derselben politischen Richtung. Eine Handvoll Kandidaten hat es dann gegeben, die eine andere als die Regierungslinie einschlagen.
Eine Handvoll Oppositionelle - genug vielleicht, um von den staatlichen Zeitungen als Vorzeigekandidaten vorgeführt zu werden. Nicht genug aber für OSZE, Europarat und Europaparlament. Sie erklärten die Wahlen für undemokratisch. Sie bezweifeln, dass die Wahlbeteiligung tatsächlich bei 60 Prozent lag, wie die staatlichen Medien verkündeten. Weißrussische Wahlbeobachter glauben sogar, dass nicht einmal 50 Prozent der Weißrussen ihre Stimme abgegeben haben. Dann wären die Wahlen der Gesetzgebung nach ungültig.
Das Gezerre um demokratische Mindeststandards geht in Weißrussland nun schon ins siebte Jahr. Wieviel aber bekommt das weißrussische Wahlvolk davon mit - die Arbeiter in den Staatsbetrieben und die Kleinbauern in den Dörfern? Diejenigen, die Lukaschenka bislang immer unterstützt haben, obwohl ihre wirtschaftliche Situation von Jahr zu Jahr schlechter geworden ist? Wer in Weißrussland regieren will, brauchte ihre Stimme, und die kann er nicht gewinnen ohne die Unterstützung der Massenmedien. Darum fordert die OSZE seit Jahren Pressefreiheit und den Zugang der Opposition zu den staatlichen Massenmedien.
Hans-Georg Wieck: Das Ringen geht um die elektronischen Medien, die der Verfassung nach kein Monopol des Staates sein dürfen, sind aber Monopolbetriebe des Staates. Der entscheidende Nachteil der unabhängigen Kandidaten ist derjenige, dass die Regierung für ihre unabhängigen Kandidaten jede Menge an Aufwand für die Öffentlichkeitsarbeit leistet, und dass sie den politischen Parteien und Organisationen, die sich für ihre unabhängigen Kandidaten einsetzen, diesen Freiraum nicht in den gleichen Maße eingeräumt hat.
Der Vorwurf mangelnder Pressefreiheit ist so alt wie Lukaschenkas Präsidentschaft selber. Der Präsident selbst hat ihn noch nie gelten lassen. Aber auch viele Weißrussen verstehen nicht, was der Westen eigentlich damit meint.
"Zivjé Belarús", - "Es lebe Belarus!" ist der Schlachtruf der Opposition, wenn sie durch das Minsker Stadtzentrum zieht. Offen fordern die Demonstranten den Rücktritt von Präsident Lukaschenka, den sie spöttisch "Luka" nennen.
"Luka zurück in die Kolchose, wo er herkommt", brüllt ein junger Mann. Die Sicherheitsbeamten, die breitbeinig den Straßenrand säumen, starren mit versteinerten Gesichtern über die Skandierenden hinweg. Ihre Schlagstöcke lassen sie im Schaft stecken. Wie die meisten Protestmärsche bleibt auch dieser friedlich.
Ein junger Reporter hat sich etwas abseits vom Gewühl plaziert. Übers Handy versucht er, Kontakt zum Funkhaus zu bekommen.
Es wird ein 30-Sekunden Aufsager für die Hörfunknachrichten. Der Reporter spricht weißrussisch, aber er ist nicht für einen weißrussischen Sender unterwegs. Das, was er über Handy zu berichten hat, geht direkt nach Prag, wo Radio Free Europe/Radio Liberty seinen Sitz hat. Der "Feindsender", wie man die amerikanische Radiostation zu Sowjetzeiten nannte, versorgt die Länder Osteuropas bis heute mit Nachrichten aus der Landespolitik. Über Radio Svobóda, so heißt der weißrussische Dienst von Radio Free Europe, erfahren die Weißrussen, dass in Minsk eine oppositionelle Demonstration stattfindet, dass sie friedlich verläuft, dass sie sich gegen den autoritären Kurs von Präsident Lukaschenka richtet.
Kein Sicherheitsbeamter nimmt Notiz von dem jungen Reporter, niemand stört seine Arbeit. Auch die vielen Presseleute, die für die nicht-staatlichen Zeitungen unterwegs sind, dürfen ihre Blöcke unbehelligt vollschreiben. Eine trügerische Medienidylle?
Der Platz der Unabhängigkeit im Zentrum von Minsk. Hier ist der Sitz des weißrussischen Parlaments. Vor dem langgestreckten, schmucklosen Gebäude thront bis heute ein mächtiger Bronze-Lenin. Das Portrait des Genossen ziert auch das Büro des Abgeordneten Sergéj Kostján, ein Kommunist der alten Schule. Die andauernden Beschwerden des Westens über mangelnde Pressefreiheit stoßen bei ihm auf polterndes Unverständnis:
Sergéj Kostján: Gehen Sie durch Minsk, sogar in das Gebäude der Präsidialverwaltung. Überall gibt es Zeitungskioske. Da finden Sie mehr oppositionelle Zeitungen als staatliche. Gibt es also bei uns Demokratie oder nicht? In Wirklichkeit fordert man von uns doch nur eins: Gebt Weißrussland ab in die Hände der Opposition, und die wird unser Land schnurstracks in die NATO führen. Aber wir sagen: Nein, wir gehen nicht in die NATO, und wir geben auch unsere Macht nicht ab.
Westlicher Imperialismus unter dem Deckmantel von Demokratie und Pressefreiheit - bei Kostján lassen die Forderungen der OSZE höchstens die Fronten des Kalten Krieges wieder aufbrechen. In seinen Augen sind die Oppositionsparteien nicht mehr als die gekauften Handlanger europäischer und amerikanischer Machtinteressen. Während des Wahlkampfes haben die staatlichen Medien europakritische Positionen wie dieses oft verlautbart und in allen Wahlkreisen verbreitet.
In der Minsker Innenstadt steht das "Dom petscháti", das "Haus der Presse". Hier ist auch das Büro von Ljudmílla Masljukóva. Die ebenso zierliche wie energische junge Frau hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich: Vor zwei Jahren wechselte sie von Barrikade zu Barrikade. Ihren unsicheren Job bei der regierungskritischen Zeitung Naródnaja Vólja hat sie für eine Redakteursstelle bei der Tageszeitung Sovjétskaja Belorússia aufgegeben - zu deutsch: Sowjetisches Weißrussland. Eine Zeitung, die direkt dem Präsidenten untersteht.
Masljukóva hat sich für die Macht entschieden, und da ist sie bei der Sowjétskaja Belorússia gerade richtig: Mit einer Auflage von 500 000 ist die Zeitung zehnmal so groß wie jede andere Tageszeitung in Weißrussland - ein "Monstrum", wie Masljukóva selbst nicht ohne Stolz bemerkt. Das offizielle Staatsorgan gilt bei den regierungsfreundlich gesinnten Weißrussen als objektiv - ganz im Gegensatz zu den mit Westgeldern unterstützten unabhängigen Zeitungen.
Ljudmílla Masljukóva: Die Zeitung ist objektiv in dem Sinne, dass sie die Position der Machthabenden darlegt. Darum halten viele Leser unsere Zeitung für aufrichtig: Die Zeitung schreibt das, was der Präsident denkt. Vom Standpunkt des Meinungspluralismus brauchen wir uns natürlich nicht zu loben. Aber sehen Sie doch: Unsere Leser sind fünfzig und älter. Ihre Mentalität ist noch sowjetisch in dem Sinne, dass Meinungspluralismus sie eher aufregt als befriedigt. Und darum nehmen sie den offiziellen Standpunkt an, weil er der einfachste und verständlichste ist.
Der Kongresssaal ist zum Bersten voll. Alte Leute, junge Leute, Mütter mit Kindern, Kamerateams drängeln sich in den Sitzreihen, quetschen sich auf die Stufen im Saal. Aus allen Stadtteilen von Minsk sind Regimekritiker zusammengekommen: National-gesinnte Politiker, Künstler und Wissenschaftler halten Reden. Sie wollen eine Erklärung unterzeichen, die sich gegen Lukaschenkas Vereinigungspolitik mit Russland richtet. Sie sind getrieben von der Angst, dass mit der weißrussisch-russischen Union auch der sowjetische Geist ausgerechnet in ihrem Land wieder auferstehen könnte.
Auf eine der Treppenstufen hat sich Oljég Gruzdelóvitsch gezwängt und macht unablässig Notizen in seinen Block. Der kleine, drahtige Journalist recherchiert für die extrem regierungskritische Zeitung Náscha Svabóda. Gruzedelóvitsch weiß, was die Redner auf der Tribüne meinen. Denn die Wiederkehr des sowjetischen Geistes hat ihn schon einmal seine Stelle gekostet.
Das war im Jahr 1995. Damals war Gruzdelóvitsch Redakteur bei der Zeitung des Parlaments. Zu dieser Zeit scheute Präsident Lukaschenka schon keine Methode mehr, sich die widerspenstigen Abgeordneten gefügig zu machen. Es kam zu einem handfesten Skandal: Einige Parlamentarier waren in den Hungerstreik getreten. Da stürmte die Sonderabteilung der Miliz das Parlamentsgebäude, verprügelte die Abgeordneten und warf sie hinaus.
OLJÉG GRUZDELÓVITSCH: An diesem Tag habe ich die Kommentare aller Beteiligten aufgeschrieben, sogar die der Mitarbeiter der Sonderabteilung, die sagten, dass es eine Bombendrohung gegeben hätte und dass sie die Leute nur beschützen wollten. Und die der zusammengeschlagenen Deputierten. Mein Material habe ich in der Redaktion abgegeben und gesagt, dass sie mir Bescheid geben sollen, wenn sich von den Layoutvorgaben her noch etwas ändert. Aber keiner hat angerufen, alles war ruhig. Und am nächsten Tag schlage ich die Zeitung auf und sehe, dass alles, was mit der Schlägerei im Parlament zu tun hat, herausgeschnitten ist - als ob es dieses Ereignis überhaupt nicht gegeben hätte. Ich habe in der Redaktion gefragt, was mit meinem Artikel geschehen ist, was das alles soll. Aber mein Chefredakteur hat abgewunken und gesagt: "Naja, das verstehst du sicher". Genau das hat man uns zu sowjetischen Zeiten schon gesagt: "Das verstehst du ja sicher!". Und damals haben wir es wirklich verstanden: "Das geht nicht" heißt "Das geht nicht", mit dem Kopf kommst du nicht durch die Wand. Aber die Zeiten haben sich doch verändert! Ich habe also meine Kündigung geschrieben und sie ihm auf den Tisch gelegt, und er hat nichts gesagt und einfach unterschrieben.
Es ist eine erprobte Methode sowjetisch geprägter Medienlenkung, die dafür sorgt, dass die Weißrussen von den zweifelhaften Methoden ihres Präsidenten nichts erfahren - das "Telefonrecht". Das ist, wenn Regierungsbeamte einem Chefredakteur in einem unbelauschten Moment telefonisch mitteilen, dass ein Artikel nicht gedruckt werden darf.
Der Journalist Oljég Gruzdelóvitsch war nach seiner Kündigung bei der Parlamentszeitung zu der unabhängigen und extrem regierungskritischen Zeitung Svabóda gewechselt - ein Blatt, das immer wieder vor der unbegrenzten Macht des Präsidenten warnte. Es wurde der Prügelknabe der unabhängigen Presse. Mehrmals wurde die Zeitung von weißrussischen Gerichten geschlossen, mehrmals erschien sie kurze Zeit später unter neuem Namen.
Oljég Gruzdelóvitsch: Das Ganze hat ein einziges Ziel: Uns das Überleben schwer zu machen. Und es erreicht dieses Ziel. Die Svabóda ist gerade herausgekommen, da wird sie schon zu Navíny, und Navíny dann zu Náscha Svabóda. Sobald die Zeitung eine Auflage von 20 000 oder 30 000 überschreitet, kommt - schwupp - eine Rüge wegen Verletzung irgendeiner Formalität, und die Zeitung wird wieder geschlossen. Dann müssen alle Abonnements umgeschrieben werden, und es gibt einen Haufen Probleme.
So schlimm wie die Zeitung Svabóda hat es bislang keine andere nicht-staatliche Zeitung getroffen. Aber jeder unabhängige Journalist weiß, dass das Damoklesschwert einer Rüge ständig über ihm hängt. Zwei davon innerhalb eines Jahres reichen, und seine Zeitung kann geschlossen werden - so will es das Presserecht.
Am Stadtrand von Minsk hat die Redaktion der weißrussischen Komsomólskaja Právda ihren Sitz. Von der renommierten russischen Zeitung bezieht die weißrussische Ausgabe nur den Mantelteil. Die Journalisten, die hier in modernen Großraumbüros arbeiten, sind Weißrussen. Chefredakteurin Julja Slútskaja achtet peinlich genau darauf, dass ihre Mitarbeiter in ihrer Regierungskritik immer einen gemäßigten Ton bewahren. Doch auch ihre Zeitung führt einen täglichen Kampf mit der staatlichen Übermacht.
Während des Wahlkampfes hat die Regierung Lukaschenka die unabhängigen Zeitungen einmal mehr spüren lassen, wie abhängig sie von den staatlichen Strukturen sind: Die einzige nicht-staatliche Druckerei hat sie ein paar Tage vor den Wahlen geschlossen. Auch die Preise für den Vertrieb wurden noch einmal kräftig erhöht - allein die staatlichen Zeitungen können weiterhin billig vertreiben. Die offizielle Erklärung für die Ausnahmeregelung war: Die staatlichen Medien müssten subventioniert werden, weil sie ja die Wahlberichterstattung übernähmen. Julja Slútskaja findet das fadenscheinig: Immerhin schreiben die unabhängigen Zeitungen ebenso über die Parlamentswahlen, wenn auch vor allem über die oppositionellen Kandidaten. Und das wiederum liegt nicht allein an ihrer politischen Orientierung, sondern auch daran, dass ihnen viele Kanäle zu tagespolitischen Informationen verschlossen sind.
Julja Slútskaja: Wenn man sich mit einer Nachfrage an einen Beamten wendet, dann ist der entweder nicht da, oder im Urlaub, oder es heißt: Schicken sie uns eine schriftliche Anfrage. Und die wird dann ein oder zwei Wochen lang bearbeitet, bis sie nicht mehr aktuell ist.
Die Staatsbeamten, das kam vor einiger Zeit heraus, haben die Anweisung, keine Informationen an die nicht-staatliche Presse weiterzugeben. Und so sind inzwischen auch gemäßigte Zeitungen wie die Komsomólskaja Právda gegen ihren Willen in die gefährdete oppositionelle Ecke geraten. Ein Teufelskreis.
Und doch haben die unabhängigen Zeitungen das ihrige dazu beigetragen, dass die Version von der heilen Welt demokratischer Wahlen, wie sie das weißrussische Staatsfernsehen erzählt, nicht unwidersprochen geblieben ist. Von den russischen Fernsehsendern und Auslandsradiostationen haben die Weißrussen erfahren, dass der Großteil der oppositionellen Kandidaten gar nicht erst zugelassen war, und dass viele andere zum Wahlboykott aufgerufen haben. So sind gerade die Wähler zuhause geblieben, die ihre Stimme eigentlich der Opposition geben wollten. Hans-Georg Wieck von der OSZE hat die Meinungsumfragen vor den Wahlen aufmerksam verfolgt.
Hans-Georg Wieck: Rund 80 Prozent derjenigen, die teilnehmen wollten, wollen mit diesen Wahlen Wechsel herbeiführen. Wechsel in der Orientierung, vielleicht auch in der Regierung, aber auch in der Orientierung. Und von diesen, die diesen Wechsel wünschen, haben sich dann wohl letzten Endes viele nicht an der Wahl beteiligt. Weil eben ihre Kandidaten nicht unter den aufgestellen Kandidaten mehr erschienen. Das weiß der Bürger hier im Lande, vor allem in den Städten, sehr genau, wer ihm da als Kandidat gegenüber steht. Und wenn er da eben seine Präferenzen nicht widergespiegelt sieht, und vorhanden sieht, dann geht er eben nicht zur Wahl.
So ist auch nach den Wahlen aus Weißrussland kein Durchbruch zu vermelden. Wieder einmal hat sich alle westliche Diplomatie als wirkungslos erwiesen. Wieder einmal hat die eine Hälfte der Bevölkerung ihrem Präsidenten Unterstützung gewährt, während der anderen nichts blieb als sich ins Privatleben zurückzuziehen und von einem demokratischeren, europäischen Weißrussland zu träumen. Und Präsident Lukaschenka darf sich eines willfährigen Parlaments sicher sein, wenn er sich auf das Wahljahr 2001 vorbereitet. Dann werden Präsidentschaftswahlen sein.