Sonntag, 28. April 2024

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Nach den Terroranschlägen in Brüssel
"Belgien ist mehr als Molenbeek"

Der Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien hat mit Blick auf die Terroranschläge von Brüssel vor einem "Belgien-bashing" gewarnt. In vielen Medien werde zu Unrecht das gesamte Land an den Pranger gestellt, sagte Oliver Paasch im Interview der Woche im DLF. Belgien sei kein "gescheiterter Staat". Problemgemeinden wie Molenbeek gebe es auch in anderen Ländern in Europa.

Oliver Paasch im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 03.04.2016
    Oliver Paasch, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien.
    Oliver Paasch, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    Jörg Münchenberg: Herr Paasch, zum Einstieg eine Einordnung. Sie sind Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Die Gemeinschaft, muss man sagen, gehört aber nicht zu den Regionen in Belgien. Das sind nämlich Flandern - also das Gebiet, in dem Niederländisch gesprochen wird -, Wallonien, das ist der französischsprachige Teil sowie Brüssel, Hauptstadt. Klingt alles sehr kompliziert, sehr belgisch. Deshalb die erste Frage mit der Bitte um eine nicht zu lange Antwort: Welche Rolle hat der Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft im belgischen Staatsgefüge? Und welche Kompetenzen haben Sie eigentlich, hat die deutsche Gemeinschaft?
    Oliver Paasch: Man muss in der Tat unterscheiden zwischen zwei Formen von Bundesländern in Belgien – die Gemeinschaften und die Regionen. Alle sind sich, verfassungsrechtlich betrachtet, gegenüber gleichgestellt. Das heißt, die deutschsprachige Gemeinschaft ist beispielsweise keine Unterbehörde einer anderen Region, auch nicht der wallonischen Region. Wir üben unsere sachpolitischen Zuständigkeiten in Autonomie und Eigenständigkeit, natürlich in einem gesetzlichen, festgelegten Rahmen aus. Die deutschsprachige Gemeinschaft beispielsweise ist zuständig für das Bildungswesen, für die Tourismuspolitik, die Kulturpolitik, mittlerweile auch für große Teile der Sozial-, der Gesundheits- und der Beschäftigungs-, also der Arbeitsmarktpolitik. Und diese Zuständigkeiten sind im Laufe von sechs Staatsreformen immer größer geworden. Damit steigt auch unsere Verantwortung. Wir sind zwar ein sehr kleines Bundesland. Wir sind den anderen gegenüber aber gleichberechtigt. Und wenn wir uns jetzt mit der Frage beschäftigen sollten, warum gibt es diesen Unterschied auf gliedstaatlicher Ebene zwischen Regionen und Gemeinschaften, können wir das gerne tun, aber dann ist die Sendezeit schnell vorbei.
    Münchenberg: Das glaube ich auch. Kommen wir auf unser Hauptthema zu sprechen, das sind die Attentate von Brüssel. Es ist knapp zwei Wochen her. Es gab über 30 Todesopfer, an die 340 Verletzte. Wie sehr haben oder werden diese Anschläge Belgien verändern? Wie ist da Ihre Einschätzung?
    "Wir sind bestürzt über die Pannen bei der Fahndung"
    Paasch: Ich glaube, dass diese Anschläge Belgien nachhaltig verändern werden. Wir erleben seit fast zwei Wochen eine große Trauer, ein aber auf der anderen Seite auch durchaus vorhandenes Zusammengehörigkeitsgefühl, sprachgrenzübergreifend. Ich habe den Eindruck, dass Teile Belgiens auch immer noch unter Schock stehen und wir stellen uns als Bevölkerung, aber auch als Länder, als Bundesländer in Belgien natürlich die Frage: wie es dazu hat kommen können? Und wir sind bestürzt zur Kenntnis nehmen zu müssen, welche Pannen es bei Fahndungen und Ermittlungen im Vorfeld und sogar im Nachhinein noch gegeben hat. Das bestürzt und in gewisser Weise beschämt uns das auch.
    Münchenberg: Da wollen wir gleich darauf einsteigen, Herr Paasch. Es gibt ja sehr viel Kritik an der Arbeit der Sicherheitsbehörden, gerade auch aus dem Ausland. Manche reden ja schon vom "Belgien-bashing". Informationen wurden verschlampt oder gar nicht weitergegeben. Hinweisen auch über die Gefährlichkeit der späteren Attentäter wurde nicht nachgegangen, mit den bekannten Folgen. Halten Sie diese Kritik, erst mal im Grundsatz, für berechtigt?
    "Es hat Probleme bei der Integration gegeben"
    Paasch: Sie ist teilweise absolut berechtigt. Die weiteren Einzelheiten werden hoffentlich im Rahmen eines einzusetzenden Untersuchungsausschusses auf parlamentarischer Ebene aufgeklärt werden. Aber vieles ist jetzt schon erkennbar und darf auch nicht bestritten werden. Wir wissen, dass es Informationsdefizite gegeben hat, dass nicht ausreichend kommuniziert wurde zwischen den verschiedenen Bundesbehörden, die dort eine Rolle spielen, beispielsweise zwischen Polizei, Justiz und Terrorbekämpfung beziehungsweise Geheimdienst. Das ist sträflich und darf nicht noch mal in Zukunft vorkommen. Wir glauben auch zu erkennen, aus unserer Warte, dass es vor allem in Brüssel große Probleme, vor allem in den 90er-Jahren gegeben hat bei der Integration von Menschen mit einem Migrationshintergrund rund um Brüssel und auch in einzelnen Gemeinden Brüssels. Wie in Molenbeek oder Skarbek hat es offensichtlich Parallelgesellschaften gegeben, die sich radikalisiert haben. Es gibt auch soziale Brennpunkte im Umfeld der Region Brüssel, Arbeitslosigkeit, in Teilen bis zu 50 Prozent. Das betrifft vor allem die Jugendlichen und führt natürlich auch zwangsläufig zu Perspektivlosigkeit, die die Menschen dann auch vor Ort so empfinden. Also ich glaube, dass es an der Zeit ist, Reformen in Belgien einzuleiten, um solche Schlampereien, würde ich mal sagen, in Zukunft zu vermeiden. Auf der anderen Seite, Stichwort "Belgien-bashing", ärgere ich mich auch darüber, dass man bei aller berechtigten Kritik an diesen sicherheitspolitischen Fehlern versucht ist, das gesamte Land an den Pranger zu stellen. Belgien ist zwar klein, aber doch größer als Molenbeek. Belgien bedeutet mehr als Molenbeek. Belgien darf auch nicht auf diese sicherheitspolitischen Fehler reduziert werden. Es wäre falsch, die große Geschichte, die vielen Erfolge, die kulturelle Vielfalt, den Reichtum in vielerlei Hinsicht unseres Landes auf diese Ermittlungspannen zu konzentrieren. Nur habe ich den Eindruck, dass das geschieht.
    Münchenberg: Lassen Sie mich mal einen Punkt herausgreifen. Salah Abdeslam gilt ja als einer der Hauptdrahtzieher der Anschläge von Paris. Er konnte dann im November 2015, also im letzten Jahr nach Belgien reisen, ist da untergetaucht. Und er lebte dann relativ ungestört mehrere Monate in Brüssel, und man hat ihn dann ausgerechnet in Molenbeek, was ja trotzdem mittlerweile einen berühmt-berüchtigten Ruf hat - Sie haben das auch erwähnt - ausgerechnet in Molenbeek wurde dann Abdeslam festgenommen. Hat die Polizei hier nicht doch ziemlich versagt?
    "Wir stehen vor einer europäischen Herausforderung"
    Paasch: Selbstverständlich, ich habe es ja eben schon erwähnt, muss man die Ermittlungspannen, die es in diesem Zusammenhang und sogar darüber hinaus gegeben hat, nicht nur beklagen, man muss sie auch aufarbeiten, um daraus zu lernen. Übrigens muss nicht nur Belgien als Einzelstaat das tun. Ich glaube, wir stehen hier vor einer europäischen Herausforderung. Wenn ich das Beispiel Abdeslam noch einmal aufgreifen darf, so steht ja mittlerweile fest, dass er während Monaten durch ganz Europa gereist ist. Der ist unter anderem auch in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, nicht zuletzt auch in Italien. Und wie so etwas möglich sein kann, muss man sich heute fragen.
    Münchenberg: Lassen Sie uns auf Belgien konzentrieren. Es gab ja nach den ersten Ermittlungspannen Rücktrittsangebote durch den Innenminister, auch durch den Justizminister. Ministerpräsident Charles Michel hat das dann abgelehnt. Halten Sie das für eine kluge, eine richtige Entscheidung?
    Paasch: Wir werden abwarten müssen, ob nicht am Ende doch noch Rücktrittsgesuche angenommen werden. Wir müssen auch abwarten, welches die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses in diesem Zusammenhang sein werden. Ich habe auf der anderen Seite aber auch Verständnis dafür, dass ein Premierminister Rücktrittsangesuche in einer solchen sehr schwierigen Situation für das Land ablehnt. Man stelle sich vor, dass gerade jetzt, wo auf diese Ebene sehr viel Arbeit ansteht, ein neuer Innenminister und gleichzeitig auch noch ein neuer Justizminister sich hätte einarbeiten müssen. Das wird aber die Betroffenen nicht dauerhaft vor politischer Verantwortung schützen. Ich warne aber auch jetzt vor parteipolitischem Krieg in diesem Zusammenhang. Manchmal tendieren Politiker ja dazu, verschiedene Ereignisse auch parteipolitisch auszuschlachten. Wenn jetzt zum Beispiel auf föderaler Ebene die Opposition, die aktuell Regierenden an den Pranger stellt, muss berücksichtigt werden, dass die Ursachen für die viel diskutierten Probleme sehr viel tiefer sind und auch schon in der Vergangenheit bestanden haben. Wir sollten parteiübergreifend ehrlich sein.
    Münchenberg: Trotzdem, Sie haben da ja schon auch eine kritische Haltung jetzt zum Innenminister und dem Justizminister durchklingen lassen. Haben die beiden, Ihrer Meinung nach, bislang einen guten Job gemacht?
    "Ich warne davor, das Thema parteipolitisch auszuschlachten"
    Paasch: Ich kann aus Belgien aus nicht beurteilen, wie die Arbeit in diesen Krisenzeiten des Innenministers oder des Justizministers war. Wir wissen ja auch nicht im Detail, welche Instanzen wann, unter welcher Verantwortung Fehler begangen haben. Sicher ist nur, es hat Fehler gegeben, und das unter einer noch zu definierenden politischen Verantwortung. Und ich glaube, dass jeder, der am Ende der Erkenntnis Fehler einräumen muss, dazu auch stehen und die entsprechende politische Verantwortung übernehmen muss. Ich warne nur davor, das Thema jetzt auf föderaler, also auf Bundesebene, parteipolitisch ausschlachten zu wollen. Das wäre zum Teil scheinheilig, denn diejenigen, die heute anklagen, haben auch in der Vergangenheit Fehler gemacht. Und ich sage das als jemand, der von keiner dieser Bundesparteien wirklich abhängt. Ich bin in diesen Fragen völlig unabhängig und parteilos.
    Münchenberg: Sie sind Ministerpräsident. Wie weit sind Sie eigentlich dann in das Krisenmanagement eingebunden? Also wie gut läuft der Informationsfluss zwischen Brüssel und Eupen?
    "Terrorbekämpfung ist eine reine Bundesangelegenheit"
    Paasch Wir sind in das eigentliche Krisenmanagement und auch in die Sicherheitspolitik ganz grundsätzlich als Gemeinschaft beziehungsweise als Bundesland nicht eingebunden. Wir nehmen allerdings an Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates teil. Die dienen vor allem dazu, die Gemeinschaften zu informieren über den aktuellen Stand der Dinge, auch über die Terrorwarnstufe und die daraus resultierenden Gefahren, auch mit dem Ziel, die Präventionsarbeit, die in der Verantwortung der Länder liegt, zu verbessern. Man muss wissen, dass Terrorbekämpfung, Sicherheitspolitik auf dieser Ebene in Belgien eine reine Bundesangelegenheit ist. Es kann also auch nicht zu fehlenden Absprachen diesbezüglich kommen zwischen einzelnen Ländern oder zwischen den Ländern auf der einen Seite und dem Bund auf der anderen Seite.
    Münchenberg: Ich würde da gerne einen kleinen Schlenker machen. Es gab ja auch eine potenzielle Terrorgefahr bei den Atomkraftwerken Tihange und Doel. Die sind auch nicht so schrecklich weit weg von der deutschsprachigen Gemeinschaft. Sie wissen, das sorgt im Grenzgebiet für sehr viel Unruhe, weil man die Sicherheit insgesamt dieser beiden AKWs bezweifelt. Aber: Haben Sie irgendwelche Informationen gehabt über eine mögliche Gefährdung dieser Atomkraftwerke – sie wurden ja dann auch kurz nach den Attentaten evakuiert?
    Terrorgefahr im Umfeld von AKWs
    Paasch: Die Reaktoren in Tihange-2 und Doel-3, bei denen vor einigen Jahren schon Haarrisse beziehungsweise Wasserstoffflocken entdeckt wurden, sind aus unserer Sicht ganz grundsätzlich ein sicherheitspolitisches Problem. Und deswegen hat das Bundesland deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien ja auch glasklar gefordert, dass diese beiden Reaktoren unmittelbar, sofort abgeschaltet werden müssen, und dass sie nicht wieder ans Netz dürfen, solange es Zweifel an ihrer Sicherheit gibt. Da befinden wir uns eigentlich auf derselben Wellenlänge wie die Städteregion Aachen, auch wenn wir andere Instrumente gewählt haben, aufgrund unserer besonderen Position in Belgien. Und was Terrorgefahr im Umfeld von AKWs angeht, macht mir dieses Thema schon seit sehr vielen Jahren Sorgen. Ich fürchte, dass Atomkraftwerke ganz grundsätzlich ein attraktives Ziel für Terroristen sein könnten. Und wenn man sich auch nur vorzustellen wagt, welchen Schaden ein Terroranschlag in einem dieser AKW anrichten könnte, dann muss man sogar Angst haben. Ich weiß auf der anderen Seite aber auch, dass erhöhte Warnstufen für die Atomkraftwerke in Belgien gelten. Und ich reduziere meine Angst diesbezüglich auch nicht auf Tihange oder Doel, sondern beziehe da auch verschiedene Reaktoren in Frankreich und in anderen Ländern mit ein.
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks heute Oliver Paasch, Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Herr Paasch, es gibt ja immer wieder auch den Vorwurf oder die Vermutung oder die Feststellung, Belgien sei ein "gescheiterter Staat". Das hört man sehr oft, gerade auch, im Ausland, weil zum Beispiel die bestmöglichen Strukturen nicht für die Menschen geschaffen werden, sondern vielleicht um die Interessen jetzt von Flamen und Wallonen zu bedienen. Aus Ihrer Sicht, was ist dran an diesem Vorwurf? Ist Belgien ein "gescheiterter Staat"?
    "Der Staat könnte sicher noch effizienter gemacht werden"
    Paasch: Nein, das ist Belgien mit Sicherheit nicht. Man darf das ganze Land, seine Erfolge, seine Strukturen nicht auf die Ermittlungspannen, so bedauerlich sie sind, und so ärgerlich sie sind, reduzieren. Belgien ist ein komplexer Staat, der setzt sich aus sehr unterschiedlichen Kulturgemeinschaften zusammen, insbesondere den Flamen, den Frankophonen und den Deutschsprachigen. Und es ist Belgien mit einer sehr komplizierten Staatsstruktur über mehrere Föderalismusreformen zumindest gelungen, diese sehr unterschiedlichen Kulturgemeinschaften mit einem sehr innovativen Föderalismusmodell auf eine friedliche Art und Weise unter einem Dach zu vereinen, auch wenn es da gelegentlich immer wiederkehrende Konflikte heute noch gibt. Ich glaube nicht, dass es zum föderalistischen Staatsaufbau für Belgien eine wirkliche Alternative gegeben hätte, weil insbesondere die Flamen, die Bevölkerungsmehrheit immerhin in Belgien, das nicht akzeptiert hätte, weil insbesondere die Flamen von Anfang an gefordert haben, eine gewisse kulturelle Autonomie und später auch in anderen Fragen politische Eigenständigkeit ausüben zu können. Und ich bin der festen Überzeugung und auch der frohen Hoffnung, dass diese sehr komplizierte Staatsstruktur, die viel auch mit der Situation in Brüssel zu tun hat, weiter vereinfacht werden kann. Ich glaube persönlich daran, dass wir in den nächsten Jahren erleben werden, dass dieses Mehrebenenmodell auf gliedstaatlicher Ebene, also der Unterschied zwischen Region und Gemeinschaft, aufgehoben wird, dass dieses System vereinfacht werden kann, dass es beispielsweise in Zukunft noch vier Gliedstaaten, vier Bundesländer, würde man in Deutschland sagen, geben wird – Brüssel, Flandern, Wallonie und Deutschsprachige. Und damit wäre sehr viel Bürokratie eingespart. Dadurch könnten die Absprachen, über die wir eben schon diskutiert haben, verbessert werden. Dadurch könnte der Staat noch effizienter gemacht werden. Aber zu behaupten, dass in der heutigen Situation in Belgien also alles schieflaufe, dass wir ein "Failed State", ein gescheiterter Staat wären, ist weit übertrieben und zeugt im Grunde davon – dafür habe ich Verständnis -, dass man Belgien, von außen betrachtet, nicht wirklich versteht.
    Münchenberg: Trotzdem gibt es ja auch ein paar Tatsachen. Eine Tatsache ist, dass Belgien zum Beispiel die größte Rate hat - im Vergleich zu den anderen westlichen Staaten - an Syrienkämpfern. Wie ist das zu erklären?
    "Wir müssen sehr viel mehr in Integration investieren"
    Paasch: Damit beschäftigt man sich in Belgien schon seit vielen Jahren. Man hat vor allem in den 90er-Jahren auf eine, ich glaube, naive Art und Weise geglaubt, dass sich diese Integration von selbst organisieren ließe und hat dabei in Kauf genommen, dass sich Parallelgesellschaften gebildet haben, die besonders anfällig sind für islamistische, radikalisierte Tendenzen. Und auf der zweiten Ebene ist es auch so, dass Brüssel nicht nur die Hauptstadt Belgiens, sondern auch die Hauptstadt der Europäischen Union und Sitz vieler internationaler Einrichtungen ist. Das macht Belgien auch schon geografisch betrachtet attraktiv. Und ich glaube, dass wir in der Lage sein sollten, wenn wir die Fehler, die in der Vergangenheit, schon in den 90er-Jahren gemacht wurden, eingestehen, vieles besser zu machen. Ich habe zum Beispiel vorgeschlagen, dass wir uns auch in anderen Staaten anschauen, wie Integration funktionieren kann. Wie verhindert werden kann, dass ganze Generationen von jungen Menschen verloren gehen oder durchs Netz fallen. Ich glaube, dass wir auch sehr viel mehr investieren müssen in diese Integration. Und vor allem müssen wir uns mehr mit den sozialen Brennpunkten in Brüssel beschäftigen. Wenn man das mal im Detail analysiert, dann ist nicht nur eine religiöse Radikalisierung das Problem, sondern auch die Tatsache, dass es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit gibt, dass sich Armut in gewisser Weise von einer Generation zur nächsten vererbt.
    Münchenberg: Liegt das auch am Geld? Hat man zu wenig Geld investiert?
    Paasch: Sicherlich liegt das auch am Geld. Aber es liegt auf der anderen Seite auch an den richtigen Konzepten und der Einstellung zu dieser Thematik. Ich glaube, dass man in den letzten Jahren da sehr naiv an die Dinge herangegangen ist. Ich glaube aber auch sagen zu müssen, dass es Molenbeek, oder Situationen wie in Molenbeek nicht nur im Königreich Belgien gibt. Wenn man sich in Europa umschaut, und ich tue das schon von Amtswegen her schon sehr regelmäßig, dann sehe ich, dass es auch soziale Brennpunkte in anderen europäischen Ländern gibt, dass es auch anderswo Probleme mit Integration von Migranten gegeben hat. Ich verstehe ja, dass Sie ...
    Münchenberg: Lassen Sie uns vielleicht trotzdem bei Belgien bleiben.
    "Die Belgier sollten auch voneinander lernen"
    Paasch: Ich verstehe ja, dass Sie ausschließlich Belgien kritisieren wollen. Aber ich sage, man muss Belgien in einen internationalen, europäischen Zusammenhang einordnen. Wenn Sie mich das noch hinzufügen lassen, ganz kurz: Der französische, für Städtebau zuständige Minister hat vor Kurzem gesagt – und wenn es ein Franzose sagt, klingt es in diesen Fragen besonders glaubwürdig, dass nach seiner Einschätzung "es in Frankreich mindestens 100 Quartiere, Quartiers, also Städteviertel gibt, die das Potenzial und auch das Profil von Molenbeek aufweisen". Und wenn das in Frankreich so ist, dann ist das auch anderswo so.
    Münchenberg: Jetzt will man ja gegensteuern, zugezogene Ausländer, neu zugezogene Ausländer sollen ja den Beweis erbringen, dass sie sich integrieren wollen. Ist das, aus Ihrer Sicht, ein sinnvoller, ein nachhaltiger Schritt?
    Paasch: Ja, wir haben ja auch als Bundesland in diesem Zusammenhang eine Verantwortung, wenn es um die Integration von Menschen mit einem Migrationshintergrund geht. Wir glauben, dass beispielsweise die flämische Gemeinschaft da auch auf europäischer Ebene durchaus als ein Best-Practice-Modell sogar angesehen werden kann. Dort hat man einen Integrationsparcours entwickelt, der aus vier verschiedenen Stufen besteht. Dazu zählt natürlich ein vernünftiger Erstempfang. Dazu zählen aber auch beispielsweise verpflichtende Sprach- und Bürgerkurse. Dazu zählt natürlich auch eine angemessene und zielführende, ergebnisorientierte sozioprofessionelle Begleitung. Daran ist vieles gescheitert, dass das nicht der Fall war rund um Brüssel. Und noch einmal: Belgien ist ein heterogenes Land. Belgien besteht aus mehreren Bundesländern. Ich rufe dazu auf, dass man sich innerhalb Belgiens auch mal am Beispiel des jeweils anderen Bundeslandes orientiert und versucht, vom anderen zu lernen. Daran mangelt es in Belgien. Frankophonen und Flamen sind sich oftmals spinnefeind und würden gut daran tun, im Sinne einer größtmöglichen Solidarität, voneinander zu lernen, statt sich permanent zu bekriegen.
    Münchenberg: Ein sicherlich frommer Wunsch. Noch mal zum belgischen Selbstverständnis. Würden Sie sagen, als Belgier definiert man sich aber am ehesten, über die Sprache, dass man sagt, man ist Flame, man ist Wallone, oder am Ende eben doch, dass man sich als Belgier empfindet? Was gibt da mehr den Ausschlag?
    "Es gibt eine Identifizierung mit dem Königreich"
    Paasch: Auch da ist Belgien, wenn wir diese Frage beantworten wollen, sicherlich heterogen. Wenn ich das aus Sicht meines Bundeslandes, hier in Ostbelgien, sagen darf, so würden sich mit Sicherheit 99 Prozent der Einwohner dieses Bundeslandes ganz einfach als deutschsprachige Belgier definieren. Sie definieren sich also teilweise über Sprache und Kultur, sie bringen aber auch zum Ausdruck eine Identifizierung mit dem Königreich, dem man in vielerlei Hinsicht auch dankbar zu sein hat bei uns. In Flandern gibt es viele Menschen, die das ähnlich sehen, und in der Wallonie sicherlich auch. Aber da müssen wir differenzieren. Ich glaube, beispielsweise, dass die Identifikation mit dem Königreich Belgien, beispielsweise in der Wallonie oder im Französisch sprechenden Belgien etwas größer ist als im Flämisch sprechenden Belgien. Da bräuchte man eigentlich Einzelbefragungen, um die Wahrnehmung der eigenen Identität und das Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Land wirklich repräsentativ und umfassend darstellen oder abbilden zu können.
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks heute Oliver Paasch. Er ist Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Herr Paasch, lassen Sie uns nach vorne schauen. Sie haben den Untersuchungsausschuss ja schon angesprochen, der jetzt auch mehr Licht in mögliche Ermittlungspannen bringen soll. Das Problem ist, solche Ausschüsse werden auch von Parteien gerne als politisches Kampfinstrument missbraucht oder genutzt. Gerade Ministerpräsident Charles Michel fürchtet hier auch, dass es sich gegen ihn vor allem richten könnte. Es gibt jetzt schon Streit, was soll dieser Ausschuss klären und was nicht. Was muss, Ihrer Ansicht nach, dieser Ausschuss trotzdem leisten?
    "Der Ausschuss muss lückenlos aufklären"
    Paasch: Der Ausschuss muss lückenlos und für die Bevölkerung nachvollziehbar alle Pannen aufdecken, die es im Umfeld oder vor dem 22. März gegeben hat und er muss, nach meiner Wahrnehmung, auch aufdecken, welche Fehler es im Vorfeld gegeben hat. Wir haben ja eben einige Ursachen von Problemen angesprochen – die unzureichende Integrationspolitik in der Region Brüssel, die fehlenden Absprachen ganz grundsätzlich auch schon in der Vergangenheit zwischen Bundesbehörden, zwischen Justiz, zwischen Staatsanwaltschaft, zwischen Terrorabwehr und Geheimdiensten. Er muss, meiner Meinung nach, oder er wird, meiner Meinung nach, auch zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Sicherheitskräfte, dass die Polizeidienste in Belgien unzureichend ausgestattet sind, um dieser sehr großen Herausforderung als sehr kleines Land im Herzen der Europäischen Union gerecht werden zu können. Und vor allem sollte er auf parteipolitische Spielereien verzichten. Die Bevölkerung, die sich in Trauer und gleichzeitig in Angst befindet, erwartet jetzt parteiübergreifendes Handeln und fordert Klarheit in all den eben erwähnten und einigen mehr Fragen, denn ansonsten wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierenden, in die föderale Politik deutlich sinken.
    Münchenberg: Sie haben die Bevölkerung angesprochen. Damals bei dem Kinderschänderfall Dutroux gab es einen großen öffentlichen Druck auch von der Bevölkerung. Wie würden Sie das jetzt einschätzen? Wie groß ist die Unzufriedenheit der Bürger nach diesen beiden Attentaten?
    "Die Polizei muss deutlich aufgestockt werden"
    Paasch: Nach meiner Wahrnehmung sind die Bürger erschrocken über das, was sie in den Medien, auch in den belgischen Medien zurzeit lesen. Im Gegensatz zu dem, was manche im Ausland zu glauben scheinen, setzt man sich ja auch in den belgischen Medien sehr selbstkritisch mit den Fehlern und den Pannen auseinander, die es hier gegeben hat. Das beeinflusst die Bevölkerung. Die Bevölkerung stellt sich Fragen: Hätte man diese schlimmen Attentate vermeiden können? Und auf der anderen Seite: Sind die Fehler vielleicht strukturell und so gravierend, dass weitere Attentate die Konsequenz sein werden? Man kann nachvollziehen, dass sich die belgische Bevölkerung da in großer Sorge befindet. Und sie erwartet von der Politik, dass sie parteiübergreifend Schlampereien aufdeckt, Fehler aufdeckt, um daraus zu lernen und die richtigen Reformen zu beschließen. Zu diesen Reformen – das kann man heute schon vorwegnehmen, gehört eine deutliche Aufstockung der Polizei und Sicherheitskräfte in Belgien. Wir sprechen da von 3.000 bis 5.000 zusätzlichen Personen, die eingestellt, aber auch ausgebildet werden müssten. Eine andere Integrationspolitik in Molenbeek – man darf nicht weiter zulassen – Molenbeek und anderen Gemeinden – man darf nicht weiter zulassen, dass es dort Parallelgesellschaften gibt, die sich unbeobachtet sozusagen radikalisieren können. Und man erwartet gleichzeitig, dass eine weitere Reform, die wir brauchen, eine viel engere Zusammenarbeit, vielleicht sogar eine Zusammenlegung von Bundesbehörden, die in diesem Zusammenhang Verantwortung tragen. Wir haben erlebt, über diese Anschläge, dass es da unterschiedliche Datenbanken gibt, in jedem einzelnen Dienst eine eigene, und dass die noch nicht einmal miteinander vernetzt werden, dass also der eine Dienst über wesentliche Informationen verfügt, die der andere dringend bräuchte, aber nicht bekommt, und das innerhalb eines Landes auf derselben strukturellen Entscheidungsebene, nämlich der Bundesebene. Solche Dinge gehören abgeschaltet, reformiert, und das erwartet der Bürger jetzt.
    Münchenberg: Die Gemeinschaften und Regionen in Belgien haben sich in den letzten Jahren ja mehr und mehr Autonomie erkämpfen können. Das haben Sie auch erwähnt. Könnten jetzt vielleicht als Folge von diesen Attentaten, könnte es da vielleicht auch eine Gegenbewegung geben, sozusagen wieder in Richtung mehr Zuständigkeit für die föderale Regierung?
    "Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird wachsen"
    Paasch: Das glaube ich nicht. Ich glaube allerdings wohl, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl in Belgien wächst. Das ist eigentlich traurig, dass es solche Anlässe bedarf, um Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Nichtsdestotrotz ist das nach meinem Wahrnehmen in Brüssel, nach meiner Empfindung zurzeit der Fall. Ob es nachhaltig sein wird, wissen wir nicht. Auf der anderen Seite kann ich mir, leider Gottes, nicht vorstellen, dass beispielsweise die Flamen auf mehr Eigenständigkeit jetzt verzichten werden. Ich bin sehr oft in Brüssel, höre allerdings wohl auch, und das stimmt mich in gewisser Weise optimistisch, dass auch die Flamen sagen, "dass viel enger zusammengearbeitet werden muss zwischen verschiedenen Behörden auf Bundesebene". Ich glaube dennoch, vorhersehen zu können, dass es in Belgien in absehbarer Zeit eine 7., vielleicht sogar irgendwann eine 8. Staatsreform geben wird. Ich glaube, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl wachsen kann. Ich glaube aber nicht, dass insbesondere die Flamen jetzt auf institutionelle Forderungen deshalb verzichten werden.
    Münchenberg: Herr Paasch, vielen Dank für das Gespräch.
    Paasch: Danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.