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Nach den Übergriffen in Köln
Pressekodex - ändern oder nicht ändern?

"Deutsche Medien haben bei der Berichterstattung über die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht verschwiegen, dass es sich bei vielen der Täter um Migranten handelte" - dieser Vorwurf wird immer wieder laut. Deswegen berät der Presserat morgen über eine Anpassung des entsprechenden Passus im Pressekodex. Medienwissenschaftler und Publizisten sehen eine mögliche Änderung kritisch.

Von Charlotte Voß | 08.03.2016
    Ausgaben der Zeitung "Express" laufen beim DuMont-Verlag in Köln durch eine Druckstraße.
    Nach den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht waren viele Medien in die Kritik geraten. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Nach den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht wurde von vielen Seiten kritisiert, dass deutsche Medien die Herkunft der Täter nicht oder erst spät genannt hätten. Rufe von Zensur wurden laut. Viele Redaktionen hätten sich bewusst dafür entschieden, die Herkunft nicht zu nennen, um die Täter zu schützen. Das sei Verschleierung relevanter Tatsachen, so der Vorwurf.
    Unter anderem verantwortlich für diese Berichterstattung soll ein Passus des Pressekodexes sein. Die Richtlinie 12.1, über die jetzt bei einer Sitzung des Presserates beraten werden soll. Sie lautet:
    Berichterstattung über Straftaten: In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
    Der Chefredakteur der "Nord-West-Zeitung", Rolf Seelheim, bemängelt, der Text der Richtlinie sei so unscharf formuliert, dass er eher zu Missverständnissen führe, als dass er den Redaktionen bei der Entscheidung helfe. Das sieht der Geschäftsführer des Deutschen Presserates, Lutz Tillmanns, anders. Der Pressekodex sei eine "berufsethische Verpflichtung, keine Handlungsanweisung", so Tillmanns. Er will an der jetzigen Fassung der Richtlinie festhalten.
    Medienwissenschaftler: Pressekodex zielt auf Qualitätsdebatte
    Ähnlich sieht es auch der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Er forscht an der Universität Tübingen unter anderem zu Inszenierungsstilen in Politik und Medien, der Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten sowie dem Medienwandel im digitalen Zeitalter. "Es handelt sich [beim Pressekodex] nicht um eine Sammlung fixer, unbedingt einzuhaltender und vollkommen eindeutig ausbuchstabierter Gebote, sondern um entschiedene Empfehlungen und Anstöße zur medienethischen Reflexion, um dann von Fall zu Fall entscheiden," so Pörksen gegenüber deutschlandfunk.de. Der Pressekodex ziele nicht auf die Bevormundung des Publikums, sondern auf die Qualitätsdebatte im Journalismus. Eine Änderung der Richtlinie sei nicht konstruktiv: "Eigentlich ist der Presserat eine Ethik-Institution. Und Ethik ist immer Abwägungsarbeit in einem Feld widersprüchlicher Anforderungen, Arbeit in einem Feld von Zielkonflikten, die Einzelfall-Erörterungen brauchen," so Pörksen. "Wenn man die Richtlinie allzu leicht und in direkter Reaktion auf die Ereignisse in Köln ändert, würde man die nötige Debatte meines Erachtens vorschnell beenden, die aber doch geführt werden muss: Wann schüren Journalisten Vorurteile mit ihrer Berichterstattung?"
    "Bild": Leser werden bevormundet
    Auf die Relevanz einer Debatte verweist auch der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV), Frank Überall. Er sagte der Nachrichtenagentur dpa: "Wenn ich die Richtlinie streiche, streiche ich auch die Notwendigkeit, darüber zu reden." Er hält auch nichts von dem Vorschlag, die gängige Praxis umzukehren, also in jedem Fall auf die Nationalität hinzuweisen: "Sie immer zu nennen, halte ich nicht für hilfreich. Das hat keinen Informationswert."
    Kritiker wie Rolf Seelheim sehen in der Richtlinie außerdem eine Bevormundung der Leser: "Man sollte die Leser nicht für so dumm halten, dass sie von der Herkunft einzelner Täter auf die Gesinnung einer ganzen Nation schließen." Das meint auch "Bild"-Chefredakteurin Tanit Koch. Sie sagte dem "medium magazin": "Die Richtlinie steht für ungerechtfertigte Selbstzensur und belegt, wie unmündig Leser in den Augen des Presserates sind. Schlimmer noch: Ihre Anwendung schürt das Misstrauen gegenüber der journalistischen Arbeit - Menschen merken, wenn ihnen relevante Informationen vorenthalten werden."
    Niggemeier: Relevante Informationen werden nicht vorenthalten
    Ein Argument, das für den Medienjournalisten Stefan Niggemeier, der als sachverständiger Gast an den Beratungen des Presserates teilnehmen wird, nicht zählt: Denn die Richtlinie wolle den Menschen gar keine relevanten Informationen vorenthalten, schreibt er auf dem Blog Übermedien: "Wenn die Religion, Nationalität, Sexualität von Verdächtigen eine Rolle spielt, darf sie selbstverständlich genannt werden." Er sieht bei der Debatte über die Richtlinie ein ganz anderes Problem: Nämlich die Annahme, dass die Nationalität oder ethnische Herkunft eines Verdächtigen quasi immer relevant sei: "Als würde sie erklären, warum jemand eine Straftat begeht."
    Laut der Richtlinie braucht es einen "begründbaren Sachbezug" zwischen der Nationalität und der Straftat. Niggemeier räumt ein, dass die Abwägung, wann die Information über die Nationalität relevant ist, nicht einfach sei. Doch die Richtlinie ermahne Journalisten, sie zumindst vorzunehmen. Die sorgfältige Abwägung hält auch Medienwissenschaftler Pörksen für wichtig: "Diese Abwägungsarbeit in einem Feld von widersprüchlichen Anforderungen ist ein Qualitätsmerkmal von gutem Journalismus; man sollte sie nicht diskreditieren."
    Zahlreiche Beschwerden beim Presserat über Silvester-Berichterstattung
    Die Berichterstattung über die Kölner Silvester-Übergriffe hatte zu zahlreichen Beschwerden beim Presserat geführt. Am häufigsten kritisierten Leser dabei Artikel in regionalen und lokalen Tageszeitungen. Grundsätzlich richten sich die Beschwerden beim Presserat mittlerweile zum großen Teil gegen Online-Artikel. Im Jahr 2015 gingen 708 Beschwerden über Online-Publikationen ein, aber nur 394 zu Print-Artikeln.