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Nach der Katastrophe

Großes Lob hatte der norwegische Schriftsteller Per Petterson für seinen Roman "Pferde stehlen" bekommen: die Geschichte eines alten Mannes, der sich am Ende seines Lebens in eine einsame Hütte zurückzieht und von der Vergangenheit eingeholt wird. Auch in Per Pettersons neuem Roman "Im Kielwasser" geht es um den Verlust des Vaters und den Versuch, nach einer Katastrophe weiter zu leben.

Von Maike Albath | 25.02.2007
    Ein Mann schlingert durch den norwegischen Frühling, verzweifelt und rastlos. Als er eines Morgens nach einem Alkoholrausch zur Besinnung kommt, steht er vor einem Osloer Buchladen, in dem er früher gearbeitet hat, und weiß nicht mehr, wie er dort hingekommen ist. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Er hat seine Brille verloren, seine Hände sind aufgeschürft, das Hemd hängt aus der Hose. Der Mann ist dreiundvierzig Jahre alt und Schriftsteller von Beruf. Seine Frau hat ihn vor einiger Zeit verlassen, die beiden Töchter leben bei ihr. Nicht das macht ihm zu schaffen. Sein Vater treibt ihn um.

    " Ich spüre die Sonne im Nacken, sie brennt, oder etwas anderes brennt, und vielleicht ist heute Sonntag. Ich weiß es nicht. Ich sehe nur meine Augen in der Scheibe vor mir und die Bücher dahinter, und erinnere mich nicht daran, welcher Tag heute ist. "Sieh mal nach, wie das Wetter ist", sagte mein Bruder jeden Sonntagmorgen im Winter, und dann musste ich aus dem unteren Etagenbett steigen, quer durch das Zimmer gehen, bis zum Fenster, um die dicken Vorhänge zur Seite zu ziehen und durch die Eisblumen zu schauen. "Sonne", sagte ich, "Sonne und schönes Wetter". "Sonne", sagte er, "verdammt". "Verdammt", sagte ich, und der Schnee war so weiß, dass es in den Augen brannte, und wir rochen den Duft von gebratenem Speck, der vom Erdgeschoß die Treppe heraufzog, und wussten, dass er seit mehreren Stunden wach war, die Skier kontrolliert und die Rucksäcke gepackt hatte. Diese standen jetzt unten im Flur bereit, mit Thermosflasche und Stullen in den Seitentaschen, einem Ersatzpullover, Socken, einem Wachskratzeisen und drei Sorten Skiwachs für den Fall, dass plötzlich Tauwetter einsetzen oder das Quecksilber sinken sollte, und es gab zwei Apfelsinen und vielleicht einen Schokoriegel, wenn wir Glück hatten, und die Rucksäcke wogen sicher jeder zwanzig Kilo. Aber das ist Ewigkeiten her, und er ist seit fast sechs Jahren tot. Ich erinnere mich an ein Büro im Drammensvei mit einem roten Kreuz an der Tür, ein Feuerwehrmann zeigt ein Video aus einem Schiffsinnern, eine Landschaft aus halbnackt daliegenden Körpern. "Der Todeskorridor" stand auf der Titelseite der Zeitung VG, auf der Innenseite meiner Augen lief dieses Video. Haut, ich sehe Haut, samtene Haut im flackernden Licht einer Lampe, die sich vorwärts bewegt, unruhige Schatten zwischen Ellbogen und Hüftknochen, Schulterblättern und Nacken, ein Meer, ruhig und weich, in dem sich nur das Licht bewegt und zum Leben erweckt, was nicht lebt. "

    Es ist eine leise und diskrete Art, mit der der Ich-Erzähler Arvid in Per Pettersons packendem Roman Im Kielwasser das Unglück auf der Ostsee schildert. Das Ausmaß ist ungeheuerlich. Die Eltern und die beiden jüngeren Brüder des Ich-Erzählers sind auf der Überfahrt nach Dänemark bei lebendigem Leibe verbrannt. Außer Arvid ist nur noch sein älterer Bruder von der Familie übrig geblieben. Ohne jeden Voyeurismus kommt der Unfall zur Sprache: wie die Spitze eines Eisbergs ragt er aus den Erinnerungen hervor, bildet den Bezugspunkt allen Handelns, bestimmt sämtliche Beziehungen, lagert sich in Träumen ab und taucht fetzenweise in der Gegenwart auf. Petterson, dessen Familie tatsächlich bei dem furchtbaren Brand der Scandinavian Star 1990, der 158 Menschenleben kostete, umkam, verzichtet auf pompöse Inszenierungen oder drastische Beschreibungen. Es gibt keine mimetische Annäherung an das Unglück - es wird lediglich angedeutet, aus der Ferne in den Blick genommen. Einzelheiten blitzen auf, wie die samtige Haut eines Ellbogens oder das Licht eines Scheinwerfers auf dem tintenschwarzen Meer. Gerade die Aussparungen machen den Horror spürbar, und die Motive der winterlichen Kälte und des Schnees auf den unzähligen Skiwanderungen der Kindheit, von denen kurz vor dem ersten Hinweis auf den Schiffsbrand die Rede ist, bilden einen markanten Gegensatz zu dem tödlichen Feuer und deuten die inneren Verheerungen des Helden an. Durch das tastende Umkreisen der Geschehnisse entsteht ein komplexes Muster aus Vergangenheitsszenen, Déjà-vus und Ereignissen der Gegenwart. Dieser Rhythmus spiegelt auch formal den seelischen Zustand eines traumatisierten Menschen. Arvid fällt aus sämtlichen Zusammenhängen heraus, immer wieder wird er von ohnmachtsähnlichen Schlafanfällen heimgesucht. Er pendelt zwischen Bewusstlosigkeit und einer neuen Hyperwachheit hin und her, die ihn manchmal mitten in der Nacht aufstehen lässt. Den Schiffsbrand chronologisch aufzurollen, dem Unglück damit eine Kohärenz zu verleihen und es auf eindimensionale Weise erzählbar zu machen, wäre undenkbar. Aber die Entscheidung für das immer wieder bestürzende Ineinanderblenden der Ebenen und die zersplitterte Bauweise macht das Bezwingende von Pettersons Geschichte aus. Der Erzähler selbst befindet sich "im Kielwasser", wie es der Titel des Romans schon benennt, in dem Wasser, das vom Schiffsrumpf beiseite gedrängt wird und nicht seinen eigenen Strömungen folgt, sondern durch den Fremdkörper getrieben ist. Genau das ist der Zustand von Arvid zu Beginn des Buches, und man folgt seiner Selbstanalyse mit angehaltenem Atem. Der Fokus richtet sich vor allem auf seine Beziehung zu dem verlorenen Vater. Der erbärmliche Tod des Vaters steht im Gegensatz zu dessen übermächtiger Physis, mit der er seine vier Söhne über Jahre in Schach gehalten hatte.

    " Als ich auf die Welt kam, war er über vierzig, aber er war anders als alle anderen Kerle dort, wo ich wohnte. Er war ein Athlet. Ein richtiger. Er hatte seinen Körper trainiert und mit einer Kraft gefüllt, von der man meinen sollte, der Körper würde sie nicht aushalten, und das war zu erkennen an der Art, wie er ging, an der Art, wie er lachte, und es war eine Glut in ihm, an der niemand vorbei kam, und es war zu erkennen an der Art, wie er angeschaut wurde, dass er Körper und Energie war, dass er nach Höherem strebte und auf dem Weg dorthin war, er hatte etwas. Alle sagten es. Er hatte nach Höherem gestrebt, solange sich jemand erinnern konnte. Er hatte trainiert und trainiert, um den Körper zu einer Brechstange zu machen, an der er sich hochziehen konnte. Er hatte Spuren in die Berge gegraben auf dem Weg nach oben, auf dem Weg nach unten, um die Beinmuskulatur zu stärken, die er brauchte für einen besseren Abstoß auf dem Fußballplatz, in der Loipe und im Boxring und auf dem Weg durch die Stadt zur Fabrik, von Galgeberg und Vålerenga, wo er wohnte, und kein Mensch hatte einen Abstoß wie er. "

    Das Verhältnis von Arvid zu seinem toten Vater ist von tiefer Ambivalenz geprägt. In rhythmisierten, parataktischen Satzreihen, oft verbunden durch die Konjunktion und, brechen die Erinnerungen aus dem Ich-Erzähler hervor. Dem kleinen Jungen kam der Vater wie eine Art Herkules vor, ein göttergleicher Mann. Mit seinen enormen Kräften, der Unerbittlichkeit und dem Zwang zur körperlichen Ertüchtigung, mit dem der leidenschaftliche Sportler seine Söhne von klein auf quälte, provoziert er einen trotzigen Widerstand. Nie hatte sich zwischen Arvid und dem strengen Patriarchen eine spontane, zärtliche Beziehung entwickeln können. Für den Beruf des Schriftstellers hatte der Vater, traditionsbewusster Arbeiter in einer Schuhfabrik und kämpferischer Sozialist, ohnehin nur Verachtung übrig. Der Sohn glaube wohl, "Hemningway" zu sein, wirft er ihm einmal im betrunkenen Zustand vor, verlässt die kleine Familiengeburtstagsfeier, fällt über einen Stacheldraht, reißt sich die Hände auf und kehrt mit blutenden Händen in das Wohnzimmer zurück. Ein anderes Mal zwingt er seinen achtjährigen Sohn, ihn in die Sauna zu begleiten und sich dem Wechsel von Hitze und Kälte auszusetzen, und wieder strahlt die Figur des Vaters eine archaische Gewalt aus. Eine dritte Erinnerung ist die an eine querfeldein unternommene Skiwanderung, bei der der Vater verunglückt und Arvid allein die Loipe finden muss, um Hilfe zu holen. Beiläufig flechtet Per Petterson diese bedrängenden Szenen in das Mosaik ein, verzichtet auf jedes Pathos oder übermäßige rhetorische Instrumentierung und arbeitet stattdessen mit dem Stilmittel der Plötzlichkeit. Arvid wird ganz plötzlich von seinen Kindheitsbildern heimgesucht, sie überfallen ihn. Es sind regelrechte Schübe, denen er wehrlos ausgesetzt ist. Oft besitzen diese Erinnerungen einen Kern, ein Bild, in dem alles gerinnt: die blutigen Hände, der nackte Vater, ein verkrüppelter Elch im Wald. Gleichzeitig schälen sich nach und nach auch unbekannte, anrührende Seiten des Vaters hervor: dass er vor der Mutter eine dänische Verlobte gehabt hatte, die ihm das Herz brach. Dass er ein aufrechter, geschätzter Mann war mit einem politischen Bewusstsein. Dass er eines Tages, als Arvid und sein älterer Bruder auf einer Eisscholle den Fjord hinunter trieben, die Kleider auszog und ins Wasser sprang. Erst als Arvid die widerstreitenden Facetten seiner Gefühle durchdringt, die von Wut, Hass und Erleichterung bis hin zu Schuld, Bewunderung und Sehnsucht reichen, erkennt er, wie tief er um den verlorenen Vater trauert. Im Kielwasser ist ein bedrängender Vater-Sohn-Roman. Anders als in den Vater-Romanen der deutschen Literaturgeschichte wie Nachgetragene Liebe von Peter Härtling oder Suchbild über meinen Vater von Christoph Meckel hat Per Pettersons Im Kielwasser nichts mit politischen Verstrickungen oder Abrechnungen zwischen den Generationen zu tun. Aber ähnlich wie bei Meckel und Härtling herrscht auch hier eine große Sprachlosigkeit, ein tiefes Schweigen. Nur ein einziges Mal ruft der Vater bei Arvid an. Er bittet ihn, über die Ostertage gemeinsam mit der Mutter und den jüngeren Brüdern nach Dänemark zu reisen, um die Hütte in Ordnung zu bringen: es ist jener Ausflug, der die Familie das Leben kosten sollte. Der Vater ist verwirrt, weil im letzten Moment die Fährgesellschaft gewechselt hat und fragt den Sohn um Rat wegen der Fahrkarten. Erst ganz am Ende von Im Kielwasser hat der Held die Kraft, sich an dieses Gespräch zu erinnern.

    " "Hallo, bist du noch dran?", fragte ich. "Ja, ich bin noch dran", sagte er. "Mir ist etwas dazwischen gekommen", sagte ich, "ich kann erst am Montag fahren". Das war eine glatte Lüge, und während ich sprach, merkte ich, dass ich sie gern ungesagt gemacht hätte, denn die Tatsache, dass er mich anrief, berührte mich seltsam. Ich weiß nicht warum, er hatte mich nie zuvor gerührt, nicht in meiner Erinnerung. Aber ich hatte keine Möglichkeit, mir innerhalb von zwei Tagen eine Fahrkarte zu besorgen, nicht für eine Fahrt am Hauptreisetag wie dem Tag vor Palmsonntag. Und nun wollte ich plötzlich mit. Ich spürte es. Ich wusste nicht, was mit mir los war. "Gut, ich komme dann nach", sagte ich. "Ich habe mir ein Auto geliehen und fahre über Göteborg. Das mit den Fahrkarten ist sicher in Ordnung. Irgendeine Fähre wird schon gehen, wenn du nichts anderes gehört hast." "Tja, das wird schon so sein", sagte er und hatte immer noch diese brüchige Stimme, wie alte Männer sie haben, wenn sie die Orientierung verlieren, aber das Gespräch war zu Ende, das war uns beiden klar. Ich war mir sicher, er wusste, dass ich log, und in dem Moment war das kein gutes Gefühl. "

    Zwei Tage später wird Arvid frühmorgens vom Telefonklingeln aus dem Schlaf gerissen: er solle den Fernseher einschalten, sagt jemand. Ein weißer Schiffsrumpf taucht auf dem Bildschirm auf, aus der Luft gefilmt, und es dauert einen Moment, bis der Erzähler die Rauchsäule erkennt, die zum Himmel aufsteigt und begreift, was er dort sieht. Wieder schafft es Per Petterson, vom Grauen zu erzählen, ohne sensationsheischend zu sein. Schaudernd versteht man, warum Arvids Leben in Einzelteile zerfiel, wie die Ehen beider Brüder zerbrechen konnten, was es mit den besinnungslosen Autofahrten auf sich hat und warum er seine Töchter nur noch sporadisch sieht. Doch mit dieser Rückblende ist der Fluchtpunkt erreicht - die Katastrophe hat eine Form angenommen, auch in seinem Inneren, und etwas Neues beginnt. Es deutet sich zaghaft an: die Begegnung mit einer Frau, ein Gespräch mit einem kurdischen Nachbarn, ein erster Satz für ein neues Buch. Der äußere Handlungsrahmen des Romans umfasst wenige Wochen zwischen Mitte März und Anfang April, dieselbe Jahreszeit, zu der sechs Jahre zuvor der Unfall passiert war. Es gibt noch einen Einschnitt. Als Arvid den Filmriss, mit dem Im Kielwasser beginnt, einigermaßen überwunden hat, erhält er einen Anruf seiner Schwägerin. Sein Bruder liege nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus.
    " Hinter mir gehen Leute über den Flur, es ist auch für andere Besuchszeit, sie lachen und unterhalten sich laut, und ich drehe mich um und sehe, dass sie korrekt gekleidet sind, in frischgebügelter Freizeitkleidung mit Blumen und Konfekt in den Händen und sogar schlechten Groschenromanen unter den Armen. Ich bleibe halb verdreht auf dem Stuhl sitzen und starre hinter ihnen her und habe keine Lust, mich wieder umzudrehen. Ich habe nichts zu sagen. Und dann sage ich: "Du hattest dir wohl vorgenommen, mich allein zurückzulassen?" Die Konfektmenschen unterhalten sich ganz hinten im Flur. Jemand öffnet die Tür zu einem Zimmer und schließt sie wieder. Drinnen in dem Zimmer weint jemand. Ansonsten ist es still. Vielleicht ist mein Bruder eingeschlafen. Ich hoffe es. Ich sehe ihn an. "Du bist nicht genug", sagt er. Seine Stimme ist ganz leer, darin ist nichts zu holen. "Ach so", sage ich. "Ich will schlafen", sagt er und dreht sich mit dem Gesicht zur Wand. "In Ordnung." Ich sitze auf dem Stuhl und betrachte seinen Rücken und seinen Hinterkopf mit den Locken, die dünner geworden sind. Er hat eine Halbglatze bekommen. Ich weiß nicht, ob mir das schon mal aufgefallen ist. "
    Es liegt an der Sparsamkeit der Mittel, der nüchternen Sprache und der unterkühlten und dennoch durchkomponierten Gestaltung der Szene, dass der Selbstmordversuch des Bruders nichts Überzogenes hat, sondern im Gegenteil wie eine normale Reaktion auf die Tragödie wirkt. Von Angst, Wut oder Vorwürfen ist auch jetzt nicht die Rede, die geschäftige Atmosphäre auf den Krankenhausgängen übertönt das, was zwischen den Brüdern passiert. Wie sehr es den Erzähler aber mitnimmt, lässt sich nur an seinem Blick auf die sich lichtenden Haare des Älteren ablesen. Im Kielwasser ist nicht nur ein Vaterroman, sondern gleichzeitig eine Geschichte über Bruderschaft. Tiefe Verbundenheit und Solidarität, aber auch Rivalität und Aggression spielen hinein. Der äußere Rahmen des Romans hat etwas von einem Miniatur-Roadmovie: immerzu ist Arvid im Auto oder zu Fuß unterwegs und bewegt sich planlos von hier nach dort. Die überwältigende Leere nach dem Tod der Familie, von der die beiden übrig gebliebenen Brüder ergriffen werden, findet ihren Widerhall in der weiten, unbelebten Landschaft, den kaum befahrenen Schnellstraßen und den gesichtslosen Wohnblocks am Stadtrand. Mehrfach versuchen die Brüder, das Haus der Eltern auszuräumen und scheitern jedes Mal. Sie gehen stumm zwischen den halb gepackten Kisten umher, blättern in alten Zeitschriften und starren auf die überflüssig gewordenen Gegenstände. Es gibt kaum ein eindringlicheres Bild für die Sinnlosigkeit des Todes. Aber inmitten der Verheerungen geschieht etwas. Eines Nachts öffnet Arvid kurdischen Nachbarn, die den Schlüssel vergessen haben, die Haustür. Am nächsten Tag überreicht ihm der Mann mit dem dicken Schnurrbart zum Dank eine Messingschale. Einige Zeit später lädt Arvid ihn zum Kaffee ein.

    " Ich frage: "Lebt Ihr Vater noch?" und dann warte ich ein wenig und sage: "Mein Vater ist tot." Was auch nicht weiter merkwürdig ist, er wäre jetzt über achtzig und vielleicht ohnehin nicht mehr am Leben, unabhängig von dem, was geschehen ist. Es ist ja eigentlich viel schlimmer für die anderen. Aber das Merkwürdige ist, dass ich sechs Jahre gebraucht habe, um zu begreifen, dass es unerträglich ist. "Können Sie das begreifen?" frage ich und schüttele den Kopf, und er zeigt auf mich und sagt: "Problem", und dieses Mal leugne ich es nicht. Wenn du nachts nackt durch die Diele läufst und einen Spiegel zu Pulver zermalmst, einfach so, dann hast du ein kleines Problem, das versteht sich von selbst. Ich nicke und gestehe es offen ein, und er zeigt auf sein eigenes Herz. "Problem" sagt er erneut. Und das kann ich verstehen. "

    Mit seinen drei Wörtern Norwegisch benennt der Kurde, der erst seit wenigen Wochen im Land lebt, die Lebensschmerzen des Erzählers. Sie werden durch nichts beschönigt, sondern stehen in ihrer schroffen Faktizität einfach da, als Teil des menschlichen Daseins. Es liegt ein tiefer Trost in dieser Begegnung. Per Petterson hat die Geschichte eines Mannes geschrieben, der langsam zu sich selbst zurück findet. Die epische Breite von Pettersons letztem auf Deutsch erschienenen Roman Pferde stehlen, der später entstand und literarisch etwas ausgereifter wirkt, besitzt Im Kielwasser nicht. Die Struktur ist episodischer, es hat noch nicht die formale Geschlossenheit von Pferde stehlen und ist an manchen Stellen weniger eindringlich als der großartige spätere Roman. Aber es ist das Unspektakuläre dieses Buches, das einen packt. Die stoische Lebenshaltung und die Erfahrung, dass es jenseits des Schmerzes immer noch etwas anderes gibt, entfaltet eine eigene Intensität.