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Nach Europawahl
Grüne in Brandenburg auf Höhenflug

20,5 Prozent haben die Grünen bundesweit bei der Europawahl bekommen - fast doppelt so viel wie vor fünf Jahren. Im Osten tut man sich noch etwas schwer mit der Partei. Einzig in Brandenburg ändert sich das gerade mit vielen Neumitgliedern. Ganz oben auf deren Motivationsliste: Der Kampf gegen die Erderwärmung.

Von Vanja Budde | 29.05.2019
In einem Restaurant in Potsdam sitzen am 26. Mai Mitglieder der Brandenburger Grünen und feiern das Wahlergebnis.
Freude bei den Grünen im Osten: Bei der Europawahl bekamen sie in Brandenburg zwölf Prozent. Die Klimakrise sei einer der Gründe, sagt die Spitzenfrau der Grünen für Brandenburg, Ursula Nonnemacher (rechts am Tisch). (picture alliance/dpa/Manfred Thomas TSP)
In Brandenburg galten die Grünen bislang als eine Partei des Westens, etwas für Großstädter, die Sojamilch im Bio-Latte trinken und die taz lesen. Doch zurzeit können die Grünen ihr Stammklientel ausweiten. Auch dort, wo es bislang weit und breit keine Grünen gab, werden neue Ortsgruppen gegründet. Bei der Kommunalwahl am vergangenen Sonntag kamen sie auf elf Prozent, ein Plus von fast fünf Prozentpunkten. Die Ursachen dieses Aufschwungs seien vielfältig, sagt die Grüne-Spitzenfrau Ursula Nonnemacher. Da ist einmal die Klimakrise:
"Wir haben die Fridays-for-Future-Bewegung, die auch in Brandenburg, was sehr kleinstädtisch geprägt ist, angekommen ist. In allen möglichen Städtchen und Städten waren Schülerdemonstrationen und sind sie immer noch. Unsere Themen sind spürbar geworden und sie sind bei den Menschen am Abendbrottisch angekommen und werden diskutiert."
Wenn man neu eingetretene Mitglieder nach ihren Motiven fragt, steht tatsächlich der Kampf gegen die bedrohliche Erderwärmung ganz oben auf der Liste. Bei Janine Nyuken zum Beispiel, Vizepräsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
"Das ganze Thema Klima liegt mir natürlich sowieso schon lange am Herzen, aber meine Kinder kommen gerade in das Fridays-for-Future-Alter (lacht) und da kommen noch mal ganz neue Diskussionen und für mich noch mal so der Anstoß, mich stärker zu engagieren."
ÖPNV-Ausbau und Braunkohleausstieg als Motivation
Ingenieur Peter Hauptmann ging zu den Grünen, weil er im Fahrradclub aktiv ist und den ÖPNV ausgebaut sehen will, ebenfalls mit Blick auf das Klima. Da boten sich die Grünen an: Sie waren im Braunkohleland Brandenburg schon für einen schnellen Ausstieg, als im Bund davon noch keine Rede war und die hiesigen Sozialdemokaten sich offensiv dafür einsetzten, die Braunkohlekraftwerke so lange wie möglich am Netz zu lassen. Allen voran Ministerpräsident Dietmar Woidke. Die SPD kam darum für Peter Hauptmann nicht infrage, Anfang des Jahres wurde er Mitglied bei den Grünen
"Der letzte Anlass war, dass die Direktkandidaten für die Landtagswahl, die ersten beiden Listenplätze , von der Basis gewählt werden konnten. Und das fand ich eine gute Idee als basisdemokratisch bewegter Mensch."
Frisch gebackene Mitglieder von Bündnis90/Die Grünen: Viadrina-Vizepräsidentin Janine Nyuken und Ingenieur und Radfahrer Peter Hauptmann in Frankfurt (Oder)
Die Neumitglieder der Grünen, Ingenieur Peter Hauptmann und Viadrina-Vizepräsidentin Janine Nyuken, in Frankfurt (Oder) (Deutschlandradio/Vanja Budde)
Jochen Franzke ist Politikwissenschaftler an der Universität Potsdam, er beobachtet den kleinen Landesverband der Grünen schon seit Jahren. In diesem Super-Wahljahr in Brandenburg biete sich die Partei nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Landesebene als Sammelbecken an für Gegner der Rechtspopulisten, erklärt er. Die AfD liegt in Brandenburg in den Umfragen für die Landtagswahl bei um die 20 Prozent, teils gleichauf mit der Regierungspartei SPD. Bei der Europawahl wurden die Rechtspopulisten mit knapp 20 Prozent gar stärkste Kraft im Land.
Außerdem, sagt Politikwissenschaftler Jochen Franzke, könnten die Grünen im rot-rot regierten Brandenburg auch in Konkurrenz zur Partei Die Linke treten, weil sie ihr politisches Profil erfolgreich um soziale Themen erweitert hätten.
"Wie verbindet man diese sozialen Herausforderungen, die im Osten Deutschlands ja ganz spezifische Herausforderungen sind, mit diesen langfristigen politischen Veränderungsprozessen? Das haben sie besser verstanden und da punkten sie gerade im Augenblick ganz besonders."
Grüne Sozialarbeiterin: "Die Umweltpolitik wird immer wichtiger"
Neu-Mitglied Maria Gottschalk ist Sozialarbeiterin in einer Unterkunft für Geflüchtete in Bad Saarow. Sie ist bei den Grünen eingetreten, nachdem sie sich diesen Schritt wochenlang überlegt hatte.
"Da ist meine Entscheidung für die Grünen gefallen, weil die sich sozial gut aufstellen. Bildung, Bezahlung von Pflegekräften, Ausbildung von Pflegekräften: sich da Gedanken zu machen und Ideen zu entwickeln und Vorschläge zu machen. Die Umweltpolitik wird immer wichtiger, und da ist es für mich momentan die einzige Partei, die sich in beiden Bereichen gut aufstellt."
Ein Sonntagabend im Mai in Potsdam: Annalena Baerbock, Robert Habecks weibliches Pendant an der Parteispitze, hat zum - Neudeutsch - "Townhall Meeting" geladen. Etwa 150 Leute sind gekommen: Das Realo-Führungsduo ist auch in Brandenburg beliebt, und Annalena Baerbock war hier Landesvorsitzende, hat in der Mark ihren Bundestags-Wahlkreis. Immer wieder werden besonders die Frauen aufgefordert, ihr Fragen zu stellen. Warum viele Menschen gar nicht mehr wählen gingen, zum Beispiel. Die Politikverdrossenheit habe viele Ursachen, meint Baerbock. Politiker müssten darum auch auf dem Lande präsent sein.
"Weil, wenn all das nicht mehr da ist, wenn da kein Bus mehr fährt, keine Bahn mehr fährt, in Ostbrandenburg zwei Drittel der Frauen keine Hebamme mehr haben und beim Wochenbett noch nicht mal betreut werden, dann fühlt man sich nicht abgehängt, man ist abgehängt. Und wenn wir da nichts gegen tun, dann haben wir ein sehr, sehr großes Problem."
Derzeit aber setzen die Grünen erst einmal ihren Höhenflug auch im ostdeutschen Brandenburg fort. Nach der Landtagswahl am 1. September ist eine Regierung ohne sie angesichts der neuen Kräfteverhältnisse kaum vorstellbar. Bündnis 90/Die Grünen haben schon angekündigt, für alle Koalitionen offen zu sein, auch für ein Bündnis mit der CDU. Mit einer Ausnahme: der AfD.