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Nachdenken über die multikulturelle Gesellschaft

Die Franzosen stehen vor der Frage, ob ihre Integrationspolitik gescheitert ist. Seit fast zwei Wochen halten die Unruhen unter Jugendlichen, zumeist Kinder von Zuwanderern, im ganzen Land an. Auch in Großbritannien leben viele Einwanderer in ähnlich schlechten Verhältnissen. Doch ein Chaos wie in Frankreich blieb bisher aus. Haben die Briten einfach nur Glück gehabt oder machen sie etwas besser? Ruth Rach berichtet aus London.

    "Was hätten Sie lieber", fragte die Zeitung Sunday Telegraph am Sonntag seine britischen Leser: "Ausschreitungen wie in Paris oder einen Terroranschlag wie in London?" Sowohl Frankreich als auch Großbritannien hätten mit ethnischen Minderheiten, sprich Muslimen, das gleiche Problem.

    "Ganz und gar nicht", sagt Khalid Mahmood, parlamentarischer Vertreter von Birmingham: zwar kam es auch in Birmingham vor zwei Wochen zu blutigen Zusammenstößen zwischen afrokaribischen und pakistanischen Jugendlichen - aber die Polizei habe ganz anders reagiert.

    "Die Polizei ging sensibel vor, sie isolierte die Rädelsführer, sie arbeitete mit der "Community" und lokalen Organisationen zusammen. Wir haben die Gemeinde eingeschaltet, um den Konflikt zu lösen. Natürlich gibt es auch in Großbritannien junge Menschen, die sich der Gesellschaft entfremdet fühlen. Aber weil wir es gelernt haben, auf kulturelle und religiöse Bedürfnisse von Minderheiten einzugehen, können wir mit solchen Problemen wesentlich besser umgehen."

    Auch die Zeitung Observer unterstreicht die Unterschiede zwischen Frankreich und Großbritannien. Das französische Staatsbürgerschaftskonzept ignoriere die kulturelle und religiöse Herkunft der Bürger. Das bedeute für ethnische Minderheiten, dass sie quasi gar nicht existierte, bemerkt der Observer. Und weiter: Frankreich habe keine Gesetze gegen Rassendiskriminierung und keine Statistiken über die Benachteiligung von Minderheiten. Es sei also äußerst schwierig, die bestehenden Rassenschranken und die Zersplitterung der französischen Gesellschaft aufzuzeigen.

    Aber auch in Großbritannien hört man Warnungen vor immer größeren Gräben in der Gesellschaft. Der Integrationsbeauftragte Trevor Philips - selbst afrokaribischer Herkunft - erklärte vor kurzem, Großbritannien bewege sich wie ein Schlafwandler hinein in die Rassentrennung.

    "Die Kluften zwischen bestimmten ethnischen Gruppen werden immer tiefer, sagt Trevor Philips. Unter dem Banner eines falsch verstandenen multikulturellen Ideals würden Minderheiten geradezu ermutigt, sich in ihre eigene Sprache und Kultur zurückzuziehen."

    Auch Ted Cantle, der die Unruhen im nordenglischen Bradford vor drei Jahren analysierte, spricht bereits von Parallelwelten.

    "Es ist schockierend dass wir in einer multikulturellen Gemeinde weiße Kinder haben, die noch nie Kontakt zu schwarzen Kindern hatten und umgekehrt. Das führt zwangsläufig dazu, dass eine Gemeinde vor der anderen Angst hat und sie verteufelt."

    Kein Zweifel, die Vorgänge in Frankreich haben die Debatte über eine multikulturelle Gesellschaft in Großbritannien neu aufgeheizt. Dass es zu landesweiten Ausschreitungen wie in Frankreich kommt, diese Befürchtung scheint derzeit nicht zu bestehen. Die Stimmen ergeben zwar kein klares Bild. Aber ein Punkt wird immer wieder betont: ethnische Minderheiten sind im öffentlichen Leben in Großbritannien nicht so unsichtbar wie in Frankreich. Weder in der Politik, noch in den Medien – und schon gar nicht auf Londons Straßen.

    "Als meine karibisch-französische Freundin von Paris nach London kam, war sie erst mal völlig außer sich, erzählte ein Anrufer bei einer BBC-Sendung mit Hörerbeteiligung: sie konnte es gar nicht fassen, so viele schwarze Gesichter im Fernsehen zu sehen. Wer ist dieser Schwarze, fragte sie am ersten Abend bei den Nachrichten. Ist das etwa ein Verbrecher? Nein, sagte ich, das ist Trevor Macdonald, einer der angesehensten Nachrichrichtensprecher im britischen Fernsehen. Da war sie richtig schockiert."