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Nachdenken über Selbstmord

Berühmt geworden ist der britische Bestsellerautor Nick Hornby als Chronist einer männlichen Nach-68er-Generation, die sich bis heute schwer tut mit dem Erwachsenwerden – und darum allzu gern bis ins hohe Alter an den Symbolen ihrer Jugend festhält: vorrangig an den Symbolen des Fußballs und der Popmusik.

Von Gisa Funck | 26.06.2005
    Fever Pitch, Hornbys erster Roman, gilt bis heute als das ultimative Buch für große Jungs über 30, die immer noch alle Fan-Embleme ihrer Lieblingskicker sammeln und – Fanschal-schwenkend – im Stadion stehen. Der Nachfolger High Fidelity wird von den gleichen, großen Jungs als Bekenntnisschrift verehrt, derzufolge manche Männer auch jenseits der Pubertät ihre Freunde und Freundinnen immer noch nach deren Musikgeschmack aussuchen. Und spätestens seit beide Romane auch noch fürs Mainstream-Kino erfolgreich verfilmt wurden, steht Hornby im Ruf eines humoristischen Verteidigers jener hedonistischen Berufsjugendlichkeit, die die Spaßgesellschaft der 90er Jahre maßgeblich prägte.

    Doch die Zeiten ändern sich. Und nicht nur die Spaßgesellschaft ist mit dem Börsencrash der New Economy in einen zumindest finanziellen Erklärungsnotstand geraten. Auch Hornby, der munter vor sich hin schnoddernde Spätpubertierende, will nun schon seit längerem literarisch erwachsen werden. Bereits bei seinem dritten Roman About a boy von 1998 war diese Absicht spürbar, den Sprung vom Unterhaltungskolumnisten hinüber zum ernsthaften Schriftsteller zu schaffen.

    Zwar legte Hornbys damaliger Held Will Freeman hier immer noch ähnlich pubertäre Marotten an den Tag wie seine beiden Vorgänger aus High Fidelity und Fever Pitch: Doch Freeman machte in About a boy – ganz anders als Hornbys erste beiden Helden – dabei die für einen Berufsjugendlichen geradezu traumatische Erfahrung, dass es manchmal eben auch Probleme im Leben gibt, die sich beim besten Willen nicht durch das Zitieren von Pop-Charts, Fußball-Tabellen oder Zeitschriften-Tests lösen lassen. Freeman - ein alter ego Hornbys wie alle seine Hauptfiguren - lernte eine depressive, allein erziehende Mutter samt ihres überforderten Sohnes "Marcus" kennen. Womit Hornby 1998 erstmals in ein von ihm bislang literarisch gemiedenes Terrain vorstieß: das Terrain mitmenschlicher Verantwortung, in dem für egozentrische Launen großer Jungs plötzlich einfach kein Platz mehr war.

    Diesen Schritt hinein in eine Erwachsenen-Welt inklusive erwachsener, existenzieller Krisen, hat der englische Romanautor nach About a boy thematisch nicht wieder zurückgenommen. Ausgerechnet Hornby, den man Mitte der 90er Jahre als "Vater der Popliteratur" gefeiert hatte, fand beim Schreiben plötzlich Geschmack an Fragen nach dem Sinn des Lebens. Ausgerechnet er, der als die literarische Stimme jugendlich-oberflächlicher Leichtlebigkeit bejubelt wurde, widmete sich auf einmal jenen moralischen Tugendthemen, die innerhalb einer ironisch geschulten Pop-Gemeinde eigentlich als pure Spaßbremsen galten.

    Während Hornby in seinem letzten Roman How to be good der grundlegend ethischen Frage nachging, wie man in der schnelllebigen Medien-Demokratie überhaupt noch ein "guter Mensch" bleiben könne, steht in seinem aktuellen Buch A long Way Down nun nichts Geringeres als gleich die philosophische Gretchenfrage per se im Mittelpunkt: die Frage nach dem Selbstmord nämlich.

    Allerdings hat die inhaltliche Kehrtwende vom Pop- zum Moral-Guru bei Nick Hornby keineswegs dazu geführt, dass er formal nun weniger schnoddern und Witzchen reißen würde als früher. Im Gegenteil: Je ernster die Botschaft, umso frotzeliger ihre Verpackung. So könnte das Motto des eingefleischten Humoristen in A Long Way Down lauten. Nichts scheint der ehemalige Englischlehrer aus Cambridge hier tatsächlich mehr zu fürchten, als allzu ernst oder gar literarisch abgehoben auf seine Leser zu wirken. Erst recht, nachdem sein Vorgängerroman How to be Good von der Kritik fast ausnahmslos als zu moralinsauer verrissen wurde.

    In A Long Way Down schickt Hornby deswegen nicht nur einen Selbstmord-Kandidaten auf das Dach eines Londoner Hochhauses. Er lässt vielmehr gleich vier lebensmüde Menschen dort oben zufällig aufeinander treffen, die verblüfft feststellen müssen, dass sie nicht die einzigen sind, die sich hier an Sylvester zu Tode stürzen wollen. Der Letzte von Hornbys Selbstmord-Quartett, der aufs Hochhaus-Dach stürmt, ist ein verzweifelter Pizzabote namens "JJ", der sich umbringen möchte, weil er eigentlich lieber Rockstar geworden wäre:

    " Nachdem es meine Rockband nicht mehr gab, war meine einzige Möglichkeit, mich noch auszudrücken, aus meinem unwahren Leben auszuchecken. Ich würde von diesem Scheißdach fliegen wie Superman. Nur wurde natürlich nichts draus. (…) Die Entdeckung, dass Maureen, Jess und Martin Sharp ebenfalls im Begriff waren, den Jackson-Pollock-Weg aus der dieser Welt zu nehmen (jaja – schon gut, ich weiß, dass Jackson Pollock nicht vom Dach eines Hochhauses im Londoner Norden gesprungen ist), war ein echter Schock. Da stand eine nicht mehr ganz junge Frau, die aussah wie irgendjemands Putzfrau. Daneben ein kreischendes Mädchen – und dann noch ein Fernsehmoderator mit orangeroter Birne. Das passte nicht ins Bild. Für solche Leute, dachte ich, ist der Selbstmord nicht erfunden worden. Er wurde für Leute wie Vincent van Gogh, Virginia Woolf und Nick Drake erfunden. Und für mich. Selbstmord hat etwas Cooles zu sein. Und der Sylvesterabend war eine Nacht für sentimentale Loser. Es war mein eigener dummer Fehler. (…) Ich hätte einen schickeren Termin wählen sollen – den 28. März beispielsweise, als Virginia Woolf ins Wasser ging. Oder den 25. November, den Todestag von Nick Drake. "

    Die Idee, dass sogar Selbstmörder einem unbewussten Herdentrieb, ja – vielleicht sogar Lemming-Instinkt folgen – und deswegen plötzlich zur selben Zeit am selben Ort regelrecht in eine Art "Suizid-Stau" geraten könnten, ist natürlich ein brillant-skurriler Einfall.
    Er ist allerdings keineswegs so originell, wie man vielleicht zunächst annehmen könnte. So kamen sich etwa auch schon in dem 2004 auf Deutsch erschienen Roman Der wunderbare Massenselbstmord des finnischen Autors Arto Paassalinna zwei Selbstmordkandidaten just an derselben Stelle einer Klippe in die Quere, die beide zufällig für ihren Todessprung ausgewählt hatten. In Hornbys Roman A Long Way Down sind es nun vier statt zwei Todesspringer.

    Was dem Londoner Autor eigentlich die dankbare Gelegenheit bieten würde, auch vier – statt nur eine oder zwei - Perspektiven auf den Selbstmord gegeneinander halten zu können. Vier Selbstmörder, vier Lebens-Schicksale, vier verschiedene Stimmen. Doch leider ist Hornby viel zu sehr damit beschäftigt, seinen bewährt-witzelnden "Hornby-Sound" im Roman wieder neu zu beleben, als dass er sich ernsthaft Mühe geben würde, jede seiner Figuren tatsächlich mit einer eigenen, unverwechselbaren Stimme auszustatten.

    Alle seine vier potentiellen Selbstmörder sprechen in A Long Way Down von daher mehr oder weniger gleich. Sie sprechen wie Kneipenkumpels, die auf einer Bühne stehen: direkt an den Leser gewandt. Viel in Dialogen. Mal flapsig, mal derb. Stellenweise auch zotig. Und immer, wie im Kabarett, auf eine Schluss-Pointe bedacht.

    Was dann nicht nur den Nachteil hat, dass man als Leser den Eindruck gewinnt, im neuen Roman träte letztlich nur eine einzige Person gewissermaßen in vier verschiedenen Verkleidungen auf. Der lapidare Tonfall klingt darüber hinaus stellenweise auch schlichtweg unglaubwürdig. Vor allem dort, wo "Maureen" zu Wort kommt: eine 51-jährige, gutgläubige Katholikin, die in ihrem Leben angeblich keinen Sinn mehr sieht, weil sie ihren erwachsenen Sohn "Matty" pflegen muss. Matty liegt seit seiner Geburt nämlich im Wachkoma und bekommt deshalb von der Pflege seiner Mutter so gut wie nichts mit:

    "Ich habe nur mit einem einzigen Mann intim verkehrt, und auch mit diesem Mann nur ein einziges Mal, und bei dem einen Mal in meinem Leben, wo ich intim mit jemandem war, wurde Matty gezeugt. Wie sind da die Chancen, hm? Eins zu eine Million? Eins zu zehn Millionen? Keine Ahnung….Aber mit Fairness hat das wohl nicht viel zu tun, was? Nur ein einziges Mal intim zu sein und dann ein Kind zu bekommen, das weder laufen noch sprechen noch seine Mutter erkennen kann. "
    Sicher, amüsant liest sich eine solche Stelle schon. Aber, mal ehrlich: Spricht so eine ältere, einsame - und dazu noch todtraurige Katholikin, die seit dreißig Jahren außer zur Kirche und zum Einkaufen nicht mehr aus dem Haus gekommen ist? Wohl kaum. Schließlich kennen wir diese Stimme nur allzu gut. Es ist dieselbe Stimme, mit der auch schon der Plattenladen-Besitzer Rob Fleming aus High Fidelity zu uns sprach. Oder der Millionärssohn Will Freeman aus About a Boy.

    Kurzum: Es ist die bewährte Nick-Hornby-Stimme poppiger Berufsjugendlichkeit, die in A Long Way Down einmal mehr neu erschallt. Tatsächlich wirken alle seine vier Selbstmordkandidaten nicht nur vom Sprechen her, sondern auch in ihrem Verhalten wie gute alte Bekannte. Man kennt diese Figuren alle schon aus früheren Hornby-Büchern.

    Etwa die verklemmt-lebensferne "Maureen", die auffällig dem ebenso verklemmt-lebensfernen, zwölfjährigen "Marcus" aus About a boy gleicht. Wie "Marcus" ist auch "Maureen" völlig schuldlos an ihrer Misere. Wie "Marcus" musste auch sie – ungewollt schwanger – viel zu früh erwachsen werden. Und wie der Zwölfjährige aus About a Boy weiß auch sie weder, was das Internet ist - noch, wer sich hinter dem Namen "Kurt Cobain" verbirgt.

    Maureen gibt in A Long Way Down den Humorpart des kindlich-naiven Tölpels, der für Boulevard-Komödien genretypisch ist – und bislang noch in keinem Hornby-Roman gefehlt hat.

    Ebenso wenig wie die Gegenrolle eines ewig nörgelnden, stets verneinenden Quergeistes. Diesen Part übernimmt diesmal eine 18-jährige Rotzgöre namens "Jess", die political Incorrectness in Reinkultur. Mit ihren permanent provokanten Sprüchen sorgt Jess ständig für Ärger an allen Fronten: mit ihrem Vater, der im Bildungsministerium arbeitet. Mit ihren Lehrern. Und natürlich mit ihrem ersten Liebhaber, der ihr, der allzeit Unverschämten, verständlicherweise den Laufpass gegeben hat.

    In ihrer überbordenden Streitsucht hat Jess starke Ähnlichkeit mit dem Berufspolemiker "David" aus How to be good. Bevorzugt sie doch wie jener Kraftausdrücke wie "Fuck", um quasi ohne Unterlass vor sich hinzufluchen. Wie David treibt auch Jess ihre Mitmenschen regelmäßig so zur Weißglut, dass diese sich mitunter – wie schon Davids Ehefrau Katie - gleich für Stunden allein auf der Toilette einschließen. Das stille Örtchen als letzter Zufluchtsort vor einer Schimpfkanonade: Auch das ist nur eines von vielen Zitaten in A Long Way Down.

    Und spätestens beim Blick auf die beiden männlichen Hauptfiguren ahnt man endgültig, dass Hornbys neuer Roman eher ein Aufguss alter Geschichten als eine wirklich neue Geschichte ist. Denn sowohl der abgehalfterte Fernsehmoderator Martin als auch der gescheiterte Rockmusiker JJ - eigentlich: John Julius - haben viel mit dem sympathischen Schlawiner Rob Fleming aus High Fidelity gemeinsam. Wie jener sind auch sie beide publicity-hörige Hallodris und nie einem Flirt abgeneigt.

    Nur hat Martin, Mitte 40, dabei einmal den dummen Fehler begangen, eine Minderjährige zu verführen. Weswegen er nicht nur für drei Monate ins Gefängnis musste, sondern auch noch seinen Job, seine Frau und seine beiden Töchter verloren hat. Der Gitarrist "JJ" hat sein Lebensglück ähnlich leichtfertig verpfuscht: Nur deshalb, weil er keinen Charterfolg landen konnte, hat er seine geliebte Gitarre an den Nagel gehängt.

    Wer indes bereits aus solch’ kindisch-gekränktem Narzissmus gewillt ist, sein ganzes Leben hinzuwerfen, der vermag natürlich auch noch in Selbstmord-Laune das zu tun, was nun einmal alle Pop-sozialisierten Helden Hornbys am allerliebsten tun: Hitlisten aufstellen. Oder, wie JJ erzählt:

    "Oh, Mann, jeder verstand, warum Maureens Lebens nicht lebenswert war. Und klar, Martin hatte sich irgendwie selbst sein eigenes Grab geschaufelt. Und Jess war sehr unglücklich und sehr durchgeknallt. Also, es war jetzt nicht so, dass die Leute direkt miteinander konkurrierten, aber wir – wie soll ich sagen: markierten irgendwie schon unser Territorium…Tja, und was konnte ich schon gegen die anderen aufbringen? Ich hatte gerade mal von einem Mädchen den Laufpass gekriegt und meine Band hatte es nicht weit gebracht. (…)
    "Und?", fragte mich Jess, "Hast du etwa vergessen, warum du dich umbringen wolltest?"
    "Natürlich nicht", sagte ich.
    "Na, dann spuck’s endlich aus!"
    "Ich bin unheilbar krank" sagte ich.
    Versteht ihr? Ich dachte ja, ich würde die Typen nie wieder sehen. (…)
    'Was hast du?’, fragte Jess.
    'Ich habe da so etwas in meinem Gehirn’, antwortete ich. 'Es nennt sich CCR.’ Was natürlich für 'Creedence Clearwater Revival’ steht, eine meiner Lieblingsbands. 'Das steht für Craniale Corno-Dingenskirchen’, behauptete ich.
    'Du musst dir wie der letzte Spacken vorkommen’, meinte Jess, 'aber egal, du hast gewonnen!’
    'Ehrlich?’. Ich fühlte mich geschmeichelt.
    'Aber klar! Sterben? Scheiße, nee. Das ist wie Karo oder Pik…das ist Trumpf! Du bist Trumpf, Mann!’"
    Ganz oben, auf Platz Eins von Hornbys "Wer-ist-das-ärmste-Schwein?"-Freitod-Rangliste, wie Martin sie im Buch nennt, steht also jemand mit einer tödlichen Krankheit. Ganz unten: ein Rockmusiker, der sich wegen Erfolglosigkeit umbringen möchte. Darf man derart despektierliche Ranking-Scherze über den Selbstmord machen? Natürlich darf man. Nur klammert diese Art von Scherzen jede existentielle Dimension des Selbstmords von vorneherein aus.

    Genau das also, was das Phänomen "Suizid" eigentlich ebenso faszinierend wie beängstigend macht – die Tatsache nämlich, dass es sich hierbei um eine individuelle Entscheidung handelt, die sich rationalen Kriterien auch völlig entziehen kann – genau dieser verstörende Aspekt des Selbstmords spielt in A Long Way Down überhaupt keine Rolle. Der Suizidversuch liefert hier lediglich einen Aufhänger für Hornbys altbekannte Slapsticknummer, selbst noch das Lebensglück in Top-Ten-Manier zu verorten. Damit aber banalisiert der Autor zwangsläufig auch das Leid seiner Helden, das auf eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung zusammenschrumpft. Frei nach dem Pop-Chart-Motto: was sich nicht rentiert, fliegt raus.

    Für jede von Hornbys Figuren lässt sich in A Long Way Down insofern schon bald sagen, was ihr genau zum Glücklichsein fehlt: Maureen braucht schlicht eine Betreuungshilfe für ihren behinderten Sohn. Martin muss sich mit seiner Exfrau versöhnen. Jess sollte sich endlich einmal einen Typen suchen, der nicht sofort aus Angst vor ihr wegläuft. Und JJ, der gescheiterte Musiker? Dem fehlt natürlich nur seine Gitarre.

    Dass es hingegen zwar Anlässe für einen Selbstmord gibt, aber oft genug gerade keinen eindeutig benennbaren Grund: dieser Gedanke kommt in Hornbys hübsch abgezirkelter Suizidkomödie schlichtweg nicht vor. Die existenzielle Abgründigkeit hinter einer solchen Tat, die wahre Verzweiflung interessiert ihn nicht. Denn die lässt sich, ebenso wie umgekehrt das Gefühl von Glück, nun einmal nicht in Chart-Listen aufdröseln. Das Gefühl eines tief greifenden Lebensekels, der durchaus auch erfolgreiche, gesunde und beliebte Menschen packen kann - und der wirklich schwarze Komödien über den Selbstmord wie etwa Aki Kaurismäkis I hired a contract killer erst kennzeichnet: Von diesem Gefühl einer beunruhigend-lächerlichen Absurdität des Lebens haben Hornbys vier kleinkrämerische Existenz-Bilanzierer nicht den Hauch einer Ahnung.

    Noch auf dem Hochhausdach lassen sie sich in A Long Way Down nur allzu bereitwillig umstimmen. Und beschließen, ihre Lebens-Deadline um weitere sechs Wochen zu verlängern. Am Valentinstag wollen sich die Vier dann noch mal an derselben Stelle treffen, um abermals Pros und Contras eines Selbstmords abzuwägen – und sich eventuell doch noch gemeinsam in die Tiefe zu stürzen. Besondere Spannung aber verheißt dieser Pakt nicht. Schließlich nimmt man keinem von Hornbys freimütigen Suizid-Plauderern auch nur für eine Zeile ab, wirklich Selbstmord-gefährdet zu sein.

    Dafür klingt schon sein Buchtitel viel zu erbaulich nach früh absehbarem Happy End. Den kurzen Weg vom Dach zurück auf die Erde kann es für seine Vierertruppe nicht geben. Für die gibt es nur den "langen Weg hinunter". Den lebenslangen, versteht sich.

    Der Selbstmord verkommt bei Hornby entsprechend zur puren Pose. Zur reinen Gedanken-Spielerei. Ja – regelrecht zum letzten Kniff für Aufmerksamkeitssüchtige, es doch noch als Quasi-Popstars in eine Talkshow zu schaffen. Nicht umsonst sprechen JJ und Jess im Roman gleich mehrfach davon, zu viert eine Art "Popband" zu bilden. Also irgendwie "cool" zu sein. Ungefähr so wie einst die "Fab Four", die Beatles, einmal. Als Jess dann auch noch einen "Engel" erfindet, um ihren Fast-Todessprung noch medienwirksamer aufzupeppen, hat Hornby das dräuende Gewässer einer Erwachsenen-Existenz samt heikler Fragen nach Schuld und Verantwortung längst hinter sich gelassen.

    Spätestens an dieser Stelle ist er dann literarisch wieder dort angekommen, wo er sich offenbar doch immer noch am wohlsten fühlt: im tröstlich-übersichtlichen Geschmacks-Kosmos der Popkultur. Entsprechend existieren auch in A Long Way Down schon bald klare In-und Out-Listen. Am schlechtesten kommen hier – wie so oft bei Hornby und ziemlich risikolos - die Schmierenjournalisten einer herzlosen Schlagzeilenpresse weg. Was natürlich nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Denn, wenn ausgerechnet der englische Bestsellerautor seine Rotzgöre Jess treffsicher bemerken lässt, dass eine Unterhaltungsbranche im Quotenrausch längst eher an irrealen Engeln als an realen Selbstmördern interessiert ist, kann man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Schließlich scheint es doch genau derselbe Quotenrausch zu sein, der auch Hornby veranlasst hat, sich im Roman lieber nicht allzu eingängig mit dem Thema Selbstmord zu beschäftigen. Um seine Popfans in A Long Way Down nicht zu verschrecken, so darf man vermuten, sieht bei ihm sogar noch der von Jess erfundene Engel wie ein Popsänger aus:
    "Sie hieß Linda und war wirklich sehr freundlich. Ich dachte, sie würde das alles ein bisschen schräg finden, aber sie war eigentlich sehr interessiert und ermutigend. Wenn sie als Journalistin einen Fehler hatte, dann den, dass sie zu ermutigend war. (…) Ich hätte ihr alles erzählen können, und sie hätte es mitgeschrieben.
    Sie sagte bloß: "Wie hat dieser Engel denn ausgesehen, Jess?"
    Sie sagte sehr oft "Jess", um zu demonstrieren, dass wir Freundinnen waren.
    "Nicht, wie man es erwartet hätte", sagte ich.
    Und Linda: "Was, keine Flügel und kein Heiligenschein, Jess?" Und sie lachte so in der Art: Wie blöd muss man sein, um zu sagen, man hätte einen Engel mit Flügel und Heiligenschein gesehen! Da wusste ich, dass ich mich richtig entschieden hatte.
    Ich lachte auch und sagte: "Nein, er sah ganz modern aus. Als könnte er auch in einer Band oder so sein."
    "Einer Band? Was für einer Band?"
    "Weiß nicht", meinte ich, "Radiohead oder so." "

    Nick Hornby hat zweifellos ein Talent für witzige Alltagsdialoge. Abgründig oder gar bitterböse aber ist sein Humor in A Long Way Down nicht. Streicht man die gelegentliche Rabauzigkeit der Sprache einmal weg, unterscheidet sich seine Selbstmordtruppe tatsächlich nicht sonderlich von jenen schrecklich-netten Familien, die die Vorabendserien im Fernsehen bevölkern. Jess und JJ sind dabei die ungestümen Kinder, während Maureen und Martin die Eltern-Rolle übernehmen – und hin und wieder entnervt mit den Augen rollen dürfen. Insgesamt aber haben sich alle vier dann natürlich doch irgendwie lieb. Und sie machen ansonsten nicht viel anderes als andere Durchschnittsbürger auch: sie gehen auf Partys und zum Kaffeetrinken. Sie lesen sich Bücher vor und hören sich Platten an. Sie fahren schließlich sogar – ganz spießig oder wie Hornby schreiben würde: "Super-Normalo-mäßig" – zusammen in Urlaub nach Teneriffa. So schleppt sich ihre Geschichte des gepflegten Mittelmaßes knapp 350 lange Seiten dahin. Die Sache mit dem Selbstmord ist schnell vergessen. Zumal es weder weitere Verzweiflungsattacken noch erneute Suizidversuche der Vier gibt. Und wenn etwas überhaupt erschreckend an diesem Family-Value-Plot ist, dann höchstens, wie erschreckend harmlos darin von einem existenziellen Schrecken erzählt wird.


    Nick Hornby: "A Long Way Down". Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 342 Seiten, 19.90 Euro.