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Krieg in Syrien und Flüchtlinge an den Grenzen - die türkische Sicht auf die Ereignisse

Die Situation der Flüchtlinge im "Niemandsland" zwischen den Grenzen ist in Politik und Medien derzeit stark präsent. In der Türkei jedoch spielt dagegen der Syrienkrieg eine größere Rolle. Immer mehr Oppositionelle trauen sich, Staatspräsident Erdogan deswegen offen zu kritisieren. Seine Rolle als "Staatsheld" wackelt. Ein Blick auf die aktuelle Lage aus türkischer Perspektive.

Von Cengiz Ünal | 03.03.2020
    Hinter den unscharf abgebildeten Fahnen und den Köpfen von Menschen zeichnet sich scharf das Bild des lächelnden Erdogan ab.
    Erdogans Rolle als "Staatsheld" in der Türkei wackelt (Emrah Gurel / AP / dpa)
    In der Türkei spielt die Situation der Flüchtlinge an der griechischen Grenze zwar durchaus eine Rolle, aber nicht die Hauptrolle. Vor allem in den Sozialen Medien kritisieren viele eine Auflösung des Abkommens mit der EU, die Menschen von der Grenze fernzuhalten. Der türkische Sänger Haluk Levent etwa forderte via Twitter auf, an die Grenze zu fahren, um den gestrandeten Flüchtlingen zu helfen.
    Die Moderatorin Cagla Sikel kritisierte auf Instagram, dass kaum jemand etwas gegen das Elend unternehme, das sich an der Grenze abspiele.
    Regierungsnahe Medien wie die "Sabah" schreiben indes, dass die Türkei nun am längeren Hebel sitze. Endlich könne sie Druck auf die EU machen – nicht wie sonst immer die EU auf die Türkei.
    Erdogan: EU soll aufhören, die Türkei hereinzulegen
    In einer Pressekonferenz sagte Staatspräsident Erdogan, dass die EU eine Milliarde Euro versprochen habe. Dieser Betrag decke aber lange nicht die Kosten, die die Türkei für die mehr als vier Millionen Flüchtlinge in ihrem Land aufgewendet habe. Die EU solle endlich aufhören, die Türkei hereinzulegen. Sein Land könne die Last nicht mehr tragen, sagte Erdogan. In einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Merkel forderte er eine faire Aufgabenteilung. Alle müssten ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen und die Türken nicht im Stich lassen. Das stoße bei vielen Türkinnen und Türken auf Zustimmung.
    Zwischen Flüchtlingen und Einheimischen ist es in den vergangenen Monaten vermehrt zu Spannungen gekommen. Lebensmittelpreise in der Türkei stiegen zuletzt stark und die Arbeitslosigkeit nahm zu. Viele Menschen im Land glauben, dass die Flüchtlinge daran schuld seien. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Abschwungs und der Anti-Flüchtlingsstimmung nutzte Erdogan zuletzt die Gelegenheit und schickte Zehntausende zurück nach Syrien.
    Konflikt in Idlib wird diskutiert
    Derweil warten nach Angaben aus Ankara 1,5 Millionen Flüchtlinge im türkisch-syrischen Grenzgebiet, um in die Türkei zu gelangen. Die Truppen des syrischen Präsidenten Assad rücken mit Hilfe Russlands immer weiter an die Grenze vor und treiben diese Menschen weiter in die Enge. Dass Erdogan aber diese Flüchtlinge auch noch ins Land hineinlässt, scheint derzeit unwahrscheinlich. Seine aktuellen Militäroperationen in der Provinz Idlib zielen auch darauf ab, diese Geflüchteten in Syrien zu halten.
    Oppositionelle werfen Erdogan jedoch vor, in Aktionismus zu verfallen. Mit der Öffnung der Grenzen lenke er von den getöteten Soldaten in Idlib sowie von der Wirtschaftskrise ab. So schreibt die regierungskritische Zeitung "Cumhuriyet", dass in Syrien inzwischen ein "Sumpf" entstanden sei. Die türkische Regierung trage ganz allein die Schuld daran. Statt jetzt Heldenmut zu zeigen, sollten die türkischen Soldaten aus diesem Sumpf herausgeführt werden.
    Erdogan nach aktuellen Analysen ohne Mehrheit im Parlament
    Allein in den vergangenen vier Wochen wurden nach Angaben aus Ankara bei den Gefechten zwischen syrischen und türkischen Truppen insgesamt 55 türkische Soldaten getötet. Der Tod von Soldaten wird im Land von vielen mit vergleichseweise starken Emotionen aufgenommen. Die Gefallenen treffen die Türkei ins Herz. Die Beisetzungen stehen im öffentlichen Fokus und werden von Tausenden begleitet.
    Erdogans AKP verliert auch deshalb immer mehr in der Wählergunst. Nach aktuellen Analysen würde die Koalition mit der ultra-nationalistischen MHP keine Mehrheit mehr im Parlament erreichen. Auch andere Umfragen bescheinigten seiner Partei zuletzt Verluste:
    In der Vergangenheit haben ihm zudem viele ehemalige Vertraute und Anhänger den Rücken gekehrt - darunter der frühere Parteichef und Ministerpräsident Davutoglu, der ehemalige Wirtschafts- und Außenminister und AKP-Mitbegründer Babacan sowie Ex-Präsident Gül.
    Der deutsch-türkische Abgeordnete Yeneroglu, der Erdogans Politik hierzulande lange Zeit verteidigt hatte, trat Ende Oktober aus der AKP aus. Yeneroglu sagte im Deutschlandfunk, auch an der türkisch-syrischen Grenze würden eine Million Menschen hungernd und frierend ausharren. Hier müsse Europa helfen, statt nur auf die griechische Grenze zu schauen. Das Flüchtlingsabkommen müsse überarbeitet werden.