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Nachgefragt
Wohnungskonzerne enteignen - geht das?

In Berlin will eine Initiative mit Hilfe eines Volksbegehrens große Wohnungskonzerne wie die "Deutsche Wohnen" enteignen und beruft sich auf das Grundgesetz. Aber was ist Enteignung? Was sagt das Grundgesetz? Wir haben den Staatsrechtler und Finanzexperten Prof. Christian Waldhoff von der Humboldt-Universität Berlin gefragt.

21.01.2019
    Das Foto zeigt ein Wohngebäude am Alexanderplatz.
    Das Foto zeigt ein Wohngebäude am Alexanderplatz. (dpa-Bildfunk / Lisa Ducret)
    Herr Waldhoff, was genau ist Enteignung?
    Das ist die Wegnahme eines konkreten Eigentumsgegenstandes, zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe gegen Entschädigung. Das kann ein Grundstück sein, das der Staat benötigt, aber auch ein Patent. Die Idee stammt aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit des Eisenbahnbaus - etwa wenn ein Bauer seine Wiese nicht hergeben wollte und die Streckenführung daran zu scheitern drohte. Wichtig ist heute: Eine Enteignung erfolgt nicht aus beliebigen Zwecken, und sie erfolgt nur gegen eine Entschädigung. Die Entschädigung kann finanziell sein, aber es kann auch ein Austauschgrundstück sein, zum Beispiel beim Bau einer Autobahn.
    Geregelt ist das in Artikel 14, Absatz 3 und Artikel 15 Grundgesetz. Im Artikel 15 geht es sogar um "Vergesellschaftung", also dass Grund und Boden zu "Gemeineigentum" gemacht werden. Wie hat es so ein Artikel ins Grundgesetz geschafft?
    Sie dürfen nicht unterschätzen, wie offen die Verfassung 1949 noch war. Damals konnte man sich im parlamentarischen Rat nicht auf eine Wirtschaftsverfassung für das Land einigen. Die SPD von 1948/49 war im Kern noch eine marxistische Partei. Die CDU strebte 1947 im Ahlener Programm noch die Sozialisierung der Schwerindustrie an und stünde damit heute weit links von der SPD. Weil man sich nicht einigen konnte, wendete man - im positiven Sinne - einen Trick an, einen "dilatorischen Formelkompromiss". Das heißt: Der Verfassungstext ließ die Frage offen. Die Entscheidung wurde in den politischen Prozess verschoben.
    Artikel 15 Grundgesetz

    Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.
    Artikel 15 ist aber bis heute noch nie angewendet worden. Warum?
    In der Frühzeit der Bundesrepublik waren inklusive einiger Kleinparteien schwarz-gelbe Bündnisse an der Macht. Und Adenauer bewegte die CDU weg vom Ahlener Programm, in eine andere Richtung. Hätte damals die SPD in einem Bündnis die Mehrheit gehabt, wäre es denkbar gewesen, dass Artikel 15 zur Anwendung kommt. Seither hat sich der politische Prozess nicht in diese Richtung bewegt.
    Welche Voraussetzungen hat eine Anwendung von Artikel 15 des Grundgesetzes?
    Die Sozialisierung ist nicht eine Verstaatlichung, sondern die Überführung in Gemeinwirtschaft, die nicht gewinnorientiert ist. Nicht völlig klar ist zudem, ob es sich bei den ins Blickfeld geratenen Unternehmen überhaupt um "Produktionsmittel" handelt.
    Großdemonstration gegen steigende Mieten und soziale Verdrängung am 14.4.2018 in Berlin.
    Viele Berliner wollen die explodierenden Mietpreise nicht mehr hinnehmen. (imago / Christian Mang)
    Worum es in Berlin geht

    Die Berliner Initiative nennt sich "Deutsche Wohnen & Co. enteignen". Ihr Ziel ist es, den Berliner Senat zur Vorlage eines Gesetzes zu zwingen, Zitat, "das den Wohnungsbestand von Großvermietern wie Deutsche Wohnen & Co. in Gemeineigentum umwandelt". Dafür beruft sich die Initiative auf Artikel 15 Grundgesetz. Für ihr Ziel strebt die Initiative zunächst ein Volksbegehren an und muss dafür als erstes 20.000 Unterschriften sammeln.

    Die Initiative kritisiert vor allem die "Profitmaximierung" der großen, börsennotierten Wohnungsunternehmen. Die "Deutsche Wohnen" und andere werden als "treibender Motor für die Preisspirale auf dem Berliner Wohnungsmarkt" beschrieben. Zugleich sei die Politik machtlos. Auch die Mietpreisbremse habe nicht gewirkt.

    Darum sollen Konzerne, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, enteignet werden. Neben "Deutsche Wohnen" zählen dazu auch Vonovia, Akelius, ADO Properties und Grand City Property. Doch die Entschädigung würde zweistellige Milliardenbeträge kosten.

    Die Linkspartei in Berlin unterstützt den Vorstoß. Die Landesvorsitzende Schubert sagte jüngst im Dlf, man betrete zwar juristisch durchaus Neuland, weil Artikel 15 noch nie angewendet worden sei. Aber: "Wohnen ist ein Grundrecht. Jeder Mensch muss ein Recht auf sein Zuhause haben. Und wenn man das nicht mehr bezahlen kann, dann ist spätestens der Punkt gekommen, wo auch ein Staat, wo auch eine Regierung eingreifen muss."

    Auch der Bundesvorsitzende der Linken, Riexinger, hält die Initiative ein legitimes Anliegen. Wohnen sei eine zentrale soziale Frage, damit dürfe nicht spekuliert werden, sagte er ebenfalls im Deutschlandfunk.

    Übrigens: Eine repräsentative Umfrage des Instituts Civey im Auftrag des Tagesspiegels hat ergeben: Eine Mehrheit von 54,8 Prozent findet es richtig, "dass es Bestrebungen gibt, Großvermieter gegen Entschädigung zu enteignen".
    Herr Waldhoff, hätten Sie gedacht, dass es nun Bestrebungen gibt, den Artikel 15 zu aktivieren?
    Hätten Sie mich vor ein paar Wochen gefragt, ich hätte nein gesagt. Dennoch ist der Artikel geltendes Verfassungsrecht. Allerdings hat derzeit keine relevante politische Kraft die Absicht, von einer Sozialisierung Gebrauch zu machen. Und die Offenheit der Verfassung ist in gewisser Weise relativ: Es gibt eine Eigentumsgarantie nach Artikel 14, es gibt die Berufsfreiheit nach Artikel 12, die Vertragsfreiheit im Sinne von Artikel 2, Abs. 1. Das sind alles Grundrechte, die für eine privatwirtschaftliche Ordnung stehen.
    Was ist denn mit Artikel 14 Absatz 3 - also einer Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit?
    Er kommt ab und zu zur Anwendung. Man braucht ihn, im Extremfall, etwa im Baurecht. Ich erinnere mich an einen besonderen Fall: das Boxberg-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das Land Baden-Württemberg wollte in den Achtziger Jahren ein Stück Land enteignen - ausgerechnet zugunsten von Daimler-Benz. Der Konzern wollte eine Teststrecke bauen, aber ein schwäbischer Bauer sträubte sich. Am Ende erklärte das Bundesverfassungsgericht die Enteignungen in der geplanten Form für unzulässig und verwies darauf, dass nach Artikel 14 Absatz 3 Grundgesetz als Enteignungszweck das "Wohl der Allgemeinheit" erforderlich sei. Das aber sei nicht ausreichend belegt worden. Anders gesagt: Unter strengen Voraussetzungen wäre eine Enteignung hier möglich gewesen.
    Artikel 14 Grundgesetz

    (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
    (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
    (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.
    Wie sehen denn die Aussichten für ein Volksbegehren in Berlin rechtlich aus?
    Grundsätzlich gibt es bei Volksbegehren und Volksentscheiden auf Landesebene ein verfassungsrechtliches Problem: Wenn die nötige Entschädigung für eine Enteignung oder Sozialisierung sehr kostspielig ist, wenn dadurch der parlamentarisch verantwortete Landeshaushalt durcheinandergerät, dann kann das Volksbegehren unzulässig sein. Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage: Muss die Entschädigung den Marktwert umfassen? Das wären im Fall der "Deutsche Wohnen" in Berlin laut Presseberichten rund 15 Milliarden Euro. Oder könnte das Land Berlin sagen: Wir zahlen einen Abschlag, sagen wir zehn Milliarden Euro? Auch bei einer Enteignung muss man nicht zwingend den vollen Marktpreis zahlen. Ein weiteres verfassungsrechtliches Problem für Berlin ist die ab 2020 voll wirkende Schuldenbremse. Da ist dann erst recht unklar, wie das verfassungskonform finanziert werden könnte.
    Der Regierende Bürgermeister Michael Müller bringt einen Rückkauf ins Spiel.
    Das wäre wiederum ein ganz normaler Vorgang. Solche Rückkäufe sind bei vielen Stadtwerken geschehen. Diese wurden in den 1990er- und 2000er-Jahren privatisiert und werden nun teilweise zurückgekauft, ganz unspekaktulär. Man spricht von Rekommunalisierung. Der Bürgermeister würde das Problem einer Enteignung mit dem Rückkauf umgehen. Aber finanzpolitisch muss man auch hier fragen: Wo kommt das Geld her?
    Was die Landespolitik diskutiert

    Berlins Regierender Bürgermeister Müller (SPD) ist gegen das Volksbegehren. "Ja, ich halte Enteignungsfantasien für falsch", sagte er der Zeitschrift "Super Illu". "Langwierige Auseinandersetzungen vor Verfassungsgerichten schaffen keinen neuen Wohnraum." Müller hat eine andere Idee: Er plant den Rückkauf von rund 50.000 Wohnungen. Dabei geht es um Wohnungen der früheren, landeseigenen Gesellschaft GSW, die 2004 an private Investoren verkauft wurde. Eigentümer heute: Die "Deutsche Wohnen", die in Berlin mehr als 110.000 Wohnungen besitzt.

    Müller hält den damaligen Verkauf für einen Fehler, auch wenn er den Schritt als SPD-Fraktionschef unterstützt hatte. Ein Rückkauf würde Milliarden kosten: Der Börsenwert der Deutsche Wohnen liegt bei mehr als 15 Milliarden Euro. Es wären also wohl mehr als sieben Milliarden Euro fällig, wenn man rund die Hälfte des Bestandes erwerben will.

    Die Deutsche Wohnen zeigt sich grundsätzlich offen für Müllers Pläne: "Das Bemühen, den kommunalen Bestand in Berlin zu stärken, unterstützen wir gerne." Der Konzern macht derzeit wegen der Karl-Marx-Allee Schlagzeilen: Das Land Berlin will verhindern, dass die Deutsche Wohnen dort mehr als 700 Wohnungen kauft. Die Mieter sollen nun von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen und die Wohnungen zunächst selbst kaufen - und sie dann umgehend an die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag verkaufen.
    (jcs)