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Nachholbedarf in puncto Etikette

Elf Jahre lang war Ladislav Spacek Pressechef des tschechischen Präsidenten Vaclav Havel. Danach wurde er mit einer witzigen Benimmserie zum Fernsehstar. Heute ist Spacek Tschechiens unangefochtener Knigge-Papst.

Von Christina Janssen |
    Ladislav Spacek irgendwo im stillen Kämmerlein anzutreffen, ist praktisch unmöglich. Der 60-Jährige mit dem gepflegten Silberhaar ist immer unterwegs – meistens im Dienste der guten Sitten. Heute muss er allerdings zugeben, dass zu viel Höflichkeit auch schaden kann: Er streckt seinen dick verbundenen Zeigefinger in die Luft und grinst.

    "Vor drei Wochen bin ich zwei netten Studentinnen begegnet, die mich aus einer Vorlesung kennen. Ich wollte ihnen auf der Treppe Platz machen. Dabei bin ich gestürzt – und habe mir den Finger gebrochen. Da war ich zu höflich: Gehen Sie nur, meine Damen! - Und schon lag ich am Boden."

    An Selbstironie mangelt es dem studierten Philologen nicht. Am engagierten Einsatz für die Etikette auch nicht. Das heißt für die Tschechen: Nirgendwo sind sie vor Ladislav Spacek sicher.

    "In der Straßenbahn zum Beispiel. Wenn eine junge Frau für eine ältere Dame aufsteht – und die den Platz nicht annimmt, dann schreite ich ein und erkläre der alten Dame: Sie müssen sich setzen! Denn es ist inakzeptabel, ein so freundliches Angebot abzulehnen. Sonst stehen beide neben dem leeren Sitzplatz herum, dem jungen Mädchen ist es furchtbar peinlich. Und an der nächsten Haltestelle steigt dann ein junger Typ ein, quetscht sich zwischen den beiden durch und setzt sich hin. Das ist dann das Ergebnis."

    Die postkommunistischen Länder, meint Spacek, hätten in puncto Etikette noch immer Nachholbedarf - das Erbe von 40 Jahren Kommunismus. Am schlimmsten sei es noch um die Tischmanieren bestellt:

    "Das ist der größte Schwachpunkt der tschechischen Etikette. Viele Leute essen mit den Ellbogen auf dem Tisch. Und der Umgang mit Messer und Gabel ist furchtbar. Beim Essen gibt es so viele Regeln – da sehe ich die meisten Fehler."

    Ladislav Spacek ist selbst durch eine harte Schule gegangen. Sein Großvater, erzählt er, habe ihm einmal eine schallende Ohrfeige verpasst, die er nie vergessen habe: Da war der kleine Ladislav acht Jahre alt und sprang nicht schnell genug auf, als im Café eine Dame an den Tisch kam. Nach der Wende war Spacek elf Jahre lang Berater von Präsident Vaclav Havel. Der wäre am liebsten in Jeans und Pulli auf der Prager Burg erschienen.

    "Ich konnte Havel nicht belehren – er war ja der Präsident. Ich musste ihm die Sachen also immer irgendwie schmackhaft machen, ohne dass er es bemerkte. Denn wenn ich ihm sagte, Herr Präsident, Sie sollten das so oder so machen, dann antwortete er normalerweise: Das mache ich nicht. Dafür findet ihr bestimmt einen anderen Präsidenten. Also, Vaclav Havel hatte, glaube ich, nie Probleme mit mir. Ich mit ihm aber schon!"

    Tschechiens Dichter-Präsident und Ex-Dissident wurde unter Spaceks Fittichen zum Mann von Welt. Trotzdem passierten selbst ihm gelegentlich kuriose Missgeschicke:

    "Ich erinnere mich an ein Treffen mit 51 Staats- und Regierungschefs in Helsinki Mitte der 90er-Jahre. Beim Abschlussempfang standen alle 50 Staatsmänner schon im schwarzen Anzug im Saal. Und dann kam Havel. Er trug einen schwarzen Smoking genau wie die Kellner. Es war schrecklich! Nachdem er alle begrüßt hatte, versteckte er sich in der Toilette und rauchte zwei Stunden lang, bis alles vorbei war."

    Ladislav Spacek ist in Tschechien eine unumstrittene Autorität. Wenn man mit ihm ein Restaurant betritt, werden die Kellner ein wenig bleich um die Nase. Aber auch der Sittenlehrer selbst hat es nicht immer leicht.

    "Manchmal macht meine Anwesenheit die Leute nervös – auch meine Freunde. Vor kurzem rief mich ein Bekannter an und sagte: Wir wollten Dich eigentlich zum Essen bei uns zu Hause einladen, aber jetzt haben wir es uns anders überlegt. Das wäre uns irgendwie zu stressig."

    Das war natürlich ein Witz. Und genau diesen Tipp gibt Ladislav Spacek auch den Politikern seines Landes: Ein Fünkchen Selbstironie würde ihnen nicht schaden. Das trifft wohl nicht nur auf die tschechische Politik zu.