So entstand in den siebziger Jahren an der Universität Tübingen der Plan einer elektronischen Nachlaßedition. Eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Michael Nedo verschlang nicht nur immense Summen, ohne Nennenswertes zu veröffentlichen, sondern implodierte wenige Jahre später in einem saftigen Streit. Ergebnis dieses Zwistes sind nun zwei miteinander konkurrierende Editionsprojekte: die seit einigen Jahren erscheinenden voluminösen Bände der von Michael Nedo herausgegebenen sogenannten "Wiener Ausgabe" und die am Wittgenstein-Archiv im norwegischen Bergen entstehende CD-ROM Edition. Anstatt also Buch und CD-ROM zu koordinieren und den Nachlaß einheitlich zu erfassen, ist nun das Chaos perfekt: Eine streckenweise veraltete Volksausgabe und - welch ein Quatsch! - zwei ehrgeizige Nachlaßeditionen, das alles verteilt auf drei Verlage. Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Hahnenkampf und Profilierungsposse, flankiert von einer vergleichsweise schwachen, an Verträge gebundenen Crew der Nachlaßverwalter. Soweit zum Nachlaß, nun zur CD-ROM.
So eine Text-CD-ROM betrachtet man noch immer mit einer Mischung aus Respekt vor den technischen Möglichkeiten und bibliophiler Geringschätzung. Denn eigentlich mag man lieber handfest gebundene Bücher, die alsbald von einer Patina aus Unterstreichungen und Notizen überzogen sind, die sinnlich erfahrbar sind, bis hin zum Geruch des Papiers, die man mitnehmen kann ins Café und auch ins Bett. Ein Laptop ist dort irgendwie deplaziert, Wittgensteinlektüre nicht immer. Daß der elektronischen Bergener Nachlaßedition die Sympathien des Rezensenten trotzdem zufliegen, hat nicht so sehr mit der zustande gebrachten Qualität der Transkription der Handschrift zu tun. Hier findet man schnell einige Transkriptionsfehler. Das ist aber kein Wunder, denn Wittgenstein hat mit seinen Texten gerungen, durchgestrichen, eingefügt, Textvarianten unter und über die Zeile geschmiert, sogar in Geheimschrift hat er geschrieben. So gesehen verdienen beide Editionen Respekt, die Bergener und die Wiener Ausgabe. Doch die von Oxford-University-Press betreute Bergener Ausgabe verspricht riesige Vorteile. Der Nachlaß ist nicht nur in zwei Textvarianten zugänglich, einer einfachen Lesefassung und einer Fassung, die versucht, die Manuskripte so genau wie möglich wiederzugeben. Die CD-ROM spielt vielmehr auch den technischen Trumpf aus, jederzeit auf das faksimilierte Originalmanuskript zurückgreifen zu können. Zudem kann man Lesezeichen einfügen oder auch Notizen an den Rand schreiben. Ein weiterer entscheidender Vorteil sind die beinahe unbegrenzten Suchmöglichkeiten, die das klassische Register mehr als ersetzen. Wie sieht das aber in der Praxis aus? Kaum zu glauben, es klappt wirklich: Man liest den Fließtext der Lesefassung, erkennt an der Farbe der Schrift, daß die Herausgeber hier eine von vielleicht vielen Varianten ausgewählt haben, und mit einem Mausklick gelangt man zur detailgenauen sogenannten diplomatischen Textfassung mit allen Varianten, Durchstreichungen und Einfügungen. Von da aus geht es weiter, wieder ein Mausklick und einige Sekunden später erscheint ikonenhaft die entsprechende Manuskriptseite als Photographie von recht guter Qualität auf dem Bildschirm. Und dann geht es los: Man vergleicht Original und Transkription oder blättert einfach im Manuskript weiter und kann sich Textstellen bis an die Grenzen der Erkennbarkeit wie mit einem Fernglas heranzoomen.
Ähnlich perfekt geht es mit dem Suchen von Textstellen: Man kann bestimmte Begriffe, Namen, oder Formeln suchen; kann die ganze CD-ROM abgrasen lassen oder nur einzelne Manuskripte oder bestimmte Zeiträume der Niederschrift. Das Ergebnis der Recherche erscheint dann als eine Art kommentiertes Inhaltsverzeichnis. Man kann sehen, in welchem der Texte, auf welchen Seiten die gesuchte Kombination vorkommt, und zwar im Satzzusammenhang. So sieht man gleich, welche Textstellen wirklich gebraucht werden können. Mit einem Mausklick ist man dann sofort an der ausgewählten Textstelle. So surft man lustvoll lesend, suchend, entziffernd nun nicht zuletzt erkennend durch das ausgebreitete Textmaterial.
In vier Abteilungen soll der gesamte Nachlaß Wittgensteins in den nächsten zwei Jahren erscheinen. Die erste Abteilung umfaßt den Text von gut dreieinhalb Tausend Nachlaßseiten. Das hört sich vergleichsweise wenig an für eine CD-ROM, ist aber wohl der Tatsache geschuldet, daß die Reproduktion der Faksimile viel Platz verbrauchen. Die Textauswahl dieser CD-ROM ist eher heterogen, betrifft aber insgesamt die Zeit, in der Wittgenstein seine frühe Philosophie bereits einer tiefgreifenden Selbstkritik unterzogen hatte und sich der Beginn der reifen Spätphilosophie abzeichnete. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zu seinem Hauptwerk, den "Philosophischen Untersuchungen", stellt das sogenannte ‘Big Typeskript’ dar, wo Wittgenstein u.a. ausführlich seinen neu gewonnenen Philosophiebegriff erläutert. ‘Big Typeskript’, der Titel ist ganz wörtlich zu verstehen angesichts der seinerzeit über 700 Seiten starke Schwarte. Dieses wichtige Typoskript, das in Suhrkampausgabe sonderbarerweise fehlt, ist nun endlich auf dem kleinen Silberscheibchen erstmalig allgemein zugänglich.
Bei aller Faszination für das technisch Erreichte und hinwegsehend über das völlig verrückte Editionsgezänk, hat die Bergener Edition - wie alle anderen Wittgenstein-Ausgaben - einen entscheidenden Nachteil: es gibt keinen Kommentar, keine biographischen oder philosophiehistorischen Erläuterungen und Einordnungen, kaum Werks- und Editionsgeschichte. Gar nicht auszudenken, welche Möglichkeiten hier vergeben wurden, wie hier der Text hätte erschlossen werden können mit Hintergrundwissen, das unaufdringlich in den Tiefen digitaler Bits und Bytes ruht, bis es mit einem Mausklick zu multimedialem Leben erweckt wird. Weil diese Möglichkeiten nicht genutzt werden, stellt die Bergener Nachlaßedition - abgesehen vom Preis - nur ein Vergnügen für diejenigen dar, die schon einiges über Wittgenstein, seine Philosophie und Schreibweise wissen.