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Nachsitzen vor dem Richter

Erst sehen sie sich im Klassenzimmer, dann im Gerichtssaal: Immer häufiger kommt es vor, dass vor allem Eltern die Lehrer ihrer Kinder verklagen, wenn sie ihre Sprösslinge ungerecht behandelt fühlen. Umgekehrt gab es allerdings auch schon Fälle.

Von Thomas Wagner | 03.10.2012
    Wenn Roland Hepting das Fax ausbreitet, schlängelt sich das Papier durch das Ganze Büro. Roland Hepting ist Reaktor der Realschule am Bildungszentrum Markdorf im Bodenseekreis.
    "Hier beispielsweise ... das ist der Vorzeigefall: Da ist also hier von einem Rechtsanwalt im Auftrag des Vaters eines Jungen, eine sieben Meter lange Fax-Rolle, wo der Rechtsanwalt Stellung bezieht und versucht, den Jungen von der Strafe zu befreien. Der Junge war gewalttätig, hat die anderen vom Lernen abgehalten. Den haben wir damals ganz ausgeschlossen."

    Der Vater klagte gegen den Schulausschluss – und scheiterte vor dem Verwaltungsgericht – kein Einzelfall. Roland Hepting zeigt auf sieben Aktenordner in seinem Büro – Unterlagen über die Klagen von Eltern gegen Disziplinarmaßnahmen, die die Schule gegen auffällige Schüler angeordnet hat. Dass Eltern gegen Schulstrafen vor Gericht ziehen, kommt bis zum heutigen Tag immer wieder vor – nicht nur im Bodenseekreis.

    Josef Kraus, Gymnasialrektor in Landshut und Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes, nennt die häufigsten Fallkategorien:

    "Also erstens einmal Anfechtung gegen Noten oder Nicht-Versetzen oder Sitzenbleiben, möglicherweise auch Klagen gegen Abschluss-Zeugnisse. Das ist der eine Komplex. Und der andere Komplex: Klagen gegen Disziplinarmaßnahmen."

    Doch gibt es auch ganz verzwickte, manchmal sogar skurrile Fälle aus dem Schulalltag, die vor Gericht landen:

    "Elmshorn – Ein 14-jähriger Schüler verklagte vor dem Verwaltungsgericht sein Gymnasium. Er wollte juristisch ein Berufspraktikum bei der Wasserschutzpolizei Helgoland absolvieren. Die Klage ist gescheitert."

    "Düsseldorf – Eine Lehrerin wollte ihren Schüler auf Schadenersatz verklagen. Der Anlass: Der Schüler hatte eine Brötchentüte zum Platzen gebracht. Dies habe, argumentierte die Lehrerin, bei ihr einen dauerhaften Pfeifton im Ohr, einen sogenannten Tinnitus, ausgelöst. Das Amtsgericht stellte jedoch das Verfahren gegen den Schüler ein."

    "Neu-Ulm – Die taubstumme Erstklässlerin Melissa in Neu-Ulm hat die Bezirksregierung von Bayerisch Schwaben verklagt. Sie will die Betreuung durch einen Gebärdendolmetscher erwirken, der ihr den regulären Schulbesuch ermöglichen konnte. Der Fall ist noch nicht entschieden."

    Die Liste der anhängenden Fälle, bei der sich Eltern, Schülern und Lehrer im Gerichtssaal wiedersehen, ist lang. Und noch eines ist, so Josef Kraus, bemerkenswert:

    "Also es gibt keine Statistik. Aber tendenziell nimmt die Klagebereitschaft deutlich zu."

    Dies hat auch damit zu tun, wie das Internet den Schulaltag verändert: Kaum ein Schüler, der nicht in sozialen Netzwerken wie Facebook Mitglied ist. Das birgt Konfliktpotenzial, das immer häufiger vor Gericht ausgetragen wird, weiß Werner Schenk, Jurist in der Schulabteilung des Regierungspräsidiums Tübingen:

    "Das spüren wir schon, dass sich dieser Wandel auch auf die Fälle der schulischen Praxis auswirkt. Beispiel Cybermobbing – da geht es um die Frage des Fehlverhaltens eines Schülers gegenüber anderen Schülern im Internet, die sich gegenseitig mobben. Oder auch Lehrer können entsprechend beleidigt werden übers Internet. Oder Stichwort Täuschungsversuche: Da taucht das auch immer wieder mal auf: bei Arbeiten werden ganze Passagen übernommen. Und dann die Frage: Wie reagiert die Schule drauf."

    Häufig mit Strafen, gegen die die Eltern klagen. Dass die Klagefreudigkeit der Eltern steigt, ist für Josef Kraus vom Deutschen Lehrerverband erklärbar:

    "Wir haben eindeutig den Trend zur Einkindfamilie, 1,36 Kinder pro Familie, pro Ehepaar ganz genau. Und da projiziert sich natürlich der geballte elterliche Ehrgeiz in dieses eine Kind hinein. Und da muss alles stimmen. Da muss alles bestens sein."

    "Bremen – Eine Elterninitiative wollte vor dem Oberverwaltungsgericht die Einrichtung einer sogenannten ‘freien Schule’ ohne Notengebung erstreiten. Das Gericht hat die Klage aber abgewiesen."

    "Bonn – Ehemalige Schüler des Aloisius-Kollegs Bonn klagten vor dem Verwaltungsgericht auf Schließung der Schule. Sie seien während ihrer eigenen Schulzeit sexuell missbraucht worden. Und dies könne sich, so die Begründung, auch bei den Schülern der Gegenwart wiederholen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen."

    Längst sinnen vor allem die Lehrerverbände auf Strategien, um solche Rechtsstreitigkeiten zukünftig zu verhindern. Matthias Schneider vom Landesverband Baden-Württemberg der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft stellt ein solches Projekt vor:

    "Die GEW hat bewusst vor einigen Jahren ein sogenanntes Elternjahrbuch aufgelegt. Da bekommen Elternbeiräte Tipps, wie sie in der Schule agieren können. Da bekommen sie rechtliche Hinweise. Und das hat zum Beispiel dazu geführt, dass da eine viel größere Offenheit zwischen Lehrern und Eltern. Und das ist ja auch unser Ziel, dass man es auch schafft, das in Konfliktfällen gemeinsam zu lösen. Das gelingt auch in den meisten Fällen. Es kommt im Vergleich doch relativ selten vor, dass Rechtsanwälte oder gar Gerichte in Anspruch genommen werden müssen."

    Roland Hepting, Realschul-Rektor am Bildungszentrum Markdorf, möchte sich darauf lieber nicht verlassen: Er plant in genau einer Woche einen Lehrerausflug der besonderen Art:

    "In einer Woche haben wir nachmittags beim Verwaltungsgericht Sigmaringen eine Fortbildung. Ich habe da einen persönlichen Kontakt zu einem Richter. Und er wird uns an diesem Nachmittag über Fälle aufklären, Hintergründe aufzeigen, die bei ihm am Verwaltungsgericht landen. Das ist auch für uns immer sehr interessant. Im Grunde genommen werden wir da auch in unserem Alltagsverhalten gestärkt, dass wir da vor bestimmten Eltern, die uns mit dem Rechtsanwalt drohen und entsprechend agieren, auch nicht einknicken sollten."