Archiv


Nacht der einsamen Menschen

Der Erfolg des Theater-Autors und -Regisseurs Falk Richter begann Ende der 90er-Jahre. Dass Falk Richters Erfolg mehr als ein Modephänomen ist, hat sich dann in den vergangenen Jahren gezeigt, in denen er unter anderem am Zürcher Schauspielhaus und an der Berliner Schaubühne gearbeitet hat. Eben dort, an der Schaubühne, hatte jetzt auch Richters neues Stück "Verstörung" seine Uraufführung.

Von Hartmut Krug |
    Großstadtmenschen sind, wie in vielen Dramen aus Vergangenheit und Gegenwart, auch bei Falk Richter Einzelkämpfer im Dschungel der gescheiterten Beziehungen und sozialen Kälte. Der Autor entwirft ein Panorama der verzweifelt Hoffnungslosen, die geprägt sind vom Borderline-Syndrom, dieser emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, die zwar klinisch nicht auffällig ist, aber das Leben des Betroffenen und sein Umfeld durch sein mangelndes Selbstvertrauen, durch Sehnsucht nach Liebe wie Angst vor Bindungen und durch (auto)aggressives Verhalten schwer stört. In Richters "Die Verstörung" suchen 12 Personen (und ein Elternpaar, das mit Jutta Hoffmann und Werner Rehm nur als Videoeinspielung vorkommt) am Weihnachtsabend nach dem, was ihnen fehlt: Nähe, Liebe, Sex und Hoffnung.

    Für Falk Richters Stück der vielen kleinen Konflikt- und Sehnsuchtsszenen hat Bühnenbildnerin Katrin Hoffmann vor dem mächtigen Betonhalbrund der Schaubühnenapsis eine Art multifunktionaler Synchronbühne gebaut. Unten stehen spiegelnde Türen und Raumteiler, die einzelne Wohnungen markieren, aber auch als Abspielfläche für Videoeinspielungen dienen, oben zieht sich ein Gittersteg an der Wand entlang, auf dem manchmal Menschen zu Erklärungen und Erzählungen an Mikrofone treten. Über sie werden immer wieder Bilder von Nachrichtensprechern projiziert, die von eisiger Kälte und unendlich vielen Unfalltoten berichten. Und als schwer symbolischer Weihnachtssound ertönt dazu ein dauerndes Krachen, als knallten Autos gegeneinander.

    Ebenso bedeutungsvoll meinen die Menschen unten, all diese Opfer seien eigentlich nicht tot, sondern wirkten nur so. Weil sie in Kälte und Einsamkeit leben. So öffnet sich hoch oben in der Mitte der Wand ein Zimmer, in dem eine ältere Frau allein unterm Weihnachtsbaum an langer und festlich gedeckter Tafel sitzt. Sie wartet im Heim mit einem aggressiv genervten Pfleger auf ihren Sohn, der währenddessen verzweifelt und vergeblich bei seinem Exlover um Verzeihung und neuerliche Liebe bittet. Worauf er auf eine Anzeige hin einen anderen Mann besucht. Doch dieser eitle Schönling, dessen Schönheits- und XXL-Genitaliengröße-Vorstellungen er nicht entspricht, demütigt ihn so, dass er ihn zusammenschlägt, fesselt und nun mit ihm zusammenbleibt, so den gemeinsamen Wunsch auf pervertierte Weise befriedigend.

    Falk Richter entwickelt keine Figuren, sondern zeigt Situationen mit verzweifelten und entfremdeten Menschen. Ein reicher Mann besucht einen Psychologen, weil er nichts mehr spürt, und will bei diesem bleiben. Ehepaare haben natürlich nicht nur Probleme miteinander, sondern auch mit den Kindern. Ein Vater vergisst seinen Jungen, den seine geschiedene Frau zu ihm geschickt hat, am Flughafen. Worauf der Junge mit der alten Frau aus dem Heim herumzieht. Alle suchen nach Liebe und halten doch Distanz. "Küss mich bitte" oder "halt mich fest" oder "kann ich mich neben dich legen", so lauten die Wünsche, und zum Einverständnis kommt von beiden Seiten stets "Aber es bedeutet nichts." All das jongliert virtuos mit bekannten Klischees und eindeutigen Gefühlen, bleibt dabei aber leider nur psychologischer Magerquark. Weshalb der Autor mehrere mediale Reflektions- und Spiegelebenen einbaut. Mal wird die Geschichte vom vergessenen Jungen wie ein Märchen in ein Mikrofon erzählt, mal demonstriert ein Paar seine Konflikte an zwei Mikrofonen.

    Wenn vier der zuvor in unterschiedlichsten Beziehungsproblemen vorgeführten Personen immer wieder zu einer Theaterprobe zusammenkommen, dann vermischen sich bei dem, was sie proben, ihre wirklichen mit ausgedachten Problemen. Hier schillert die Wirklichkeit plötzlich in ungenauer Deutlichkeit, und all die klischierten gesellschaftlichen Darstellungs-Versatzstücke des Stückes bekommen in dieser medialen, bewusst unscharfen Wiederspiegelungsszene, vor allem durch die Schauspielerin Judith Engel, plötzlich Leben und Spannung. Der kaum zweistündige Uraufführungsabend lebt mehr durch den Einfallsreichtum des Regisseurs Falk Richter, der sein Stück mit einer Fülle szenischer und akustischer Effekte interessant zu machen versteht, wobei er mit seinen Klischees virtuos jongliert, als durch den Autor Falk Richter, dessen viel zu lange Szenenfolge wie eine längst gelöste Rechenaufgabe wirkt. Wobei offene Fragen, innere Spannung und die behauptete Abgründigkeit leider völlig fehlen.