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Nachtwanderung im Taunus

Eine Nachtwanderung – die gehört zum Programm fast jeder Jugendfreizeit. Im Taunus gibt es das Grusel-Event auch für Erwachsene. Hier kann man nächtliche Entdeckungswanderungen buchen. Dahinter steckt ein Theaterprojekt im dunklen Wald.

Von Susanne von Schenck |
    Um elf Uhr abends steigen sie an einem Waldstück im Taunus aus dem Auto: Katja, Steffi, Daniel und Richard.
    "Gut. Herzlich willkommen im Wald","

    sagt Jörg Thums, der sie aus der Stadt dorthin gefahren hat. Er zückt eine Landkarte aus einer Tasche.

    ""Wir sind jetzt hier am Startpunkt, und die Route führt euch hier hoch, und das blau markierte ist der Exit-Weg aus dem Wald raus, da geht man dann im Streuwiesengebiet und läuft dann langsam wieder ins belebte Gebiet zurück, bis man an der Grundschule ist, der Ort, bei dem bei Aktenzeichen XY die Leute zuletzt gesehen wurden. Das ist der offizielle Endpunkt."

    Außerdem in der braunen Ledertasche: Etwas zu trinken, Traubenzucker, ein Kompass, Taschenlampen mit Ersatzbatterien. Gut 1,5 Stunden hat die Gruppe Zeit, um mitten durch den nächtlichen Wald zu einem allen unbekannten Ziel zu gelangen. Eine schlichte Nachtwanderung ist die Tour allerdings nicht, sondern ein Theaterprojekt. Jörg Thums und die Künstlergruppe redpark haben es sich ausgedacht. "Night Thrill" heißt es. Der Wald soll dabei für das Spiel mit Ängsten und Spannungen herhalten.

    "Wir gehen davon aus, wenn Leute von uns zum Night Thrill in den Wald gebracht werden, erwarten sie auch, dass etwas passiert. Genau damit spielen wir, dass das dann nicht passiert, und das steigert die Spannung noch um so stärker, und letztlich haben alle eigentlich sich bisher nonstop überwacht gefühlt, weil jedes Rascheln und jedes Knacken auf uns zurückgeführt wird, weil wir sozusagen die Situation inszeniert haben."

    Die Kulisse ist ungemütlich. Es regnet, der Wind rauscht durch die Bäume, kein Stern ist am Himmel zu sehen. Jörg Thums gibt noch ein paar Anweisungen, steigt dann in sein Auto und entschwindet in die Nacht.
    Gleich rechts vom Parkplatz führt ein Weg in den Wald hinein: abschüssig, glitschig. Die Sicht mit den Stirnlampen ist minimal.

    Erwachsene Menschen zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig im dunklen Wald. Sie sprechen viel, lachen laut - und studieren immer wieder die Karte.

    "Ist das der Parkplatz? Ja, die sind wir losgelaufen, dann hat man hier diese Kurve, dann sind wir jetzt irgendwo hier."

    Schnell sind die Rollen verteilt: Daniel hat die Karte, Richard geht voraus, Steffi hält nach Zeichen Ausschau.

    "Ich hab überhaupt keinen Orientierungssinn, um das gleich zu sagen."

    sagt Katja und bildet das Schlusslicht. Langsam steigt die Spannung. Immerhin sind ja alle Teilnehmer eines Theaterstücks.

    ""Wir erwarten jetzt, dass noch irgendwas, was wir nicht erahnen können, passieren wird. Aber wir wissen es nicht, ein unheimliches Tier, eine andere Gestalt?"

    Ist das, was da auf dem Boden aus Ästen und Grashalmen zusammengelegt wurde, tatsächlich ein Richtungspfeil? Oder eher ein Zufallsprodukt? Und ist das der Weg, der auf der Karte als Linksabbiegung markiert ist? Kartenleser Daniel versucht, Zuversicht zu verbreiten.

    "Verlaufen nicht, wir suchen nur den Weg. Wir suchen nur in diesem Abschnitt, den wir zu weit gelaufen sind, die Markierung, die uns in Richtung Picknick führt."

    Picknick - damit hatte Jörg Thums alle gelockt – mit einem "Tischlein deck dich" mitten im Wald – die Gebrüder Grimm lassen grüßen. Inzwischen sind die Stimmen leiser geworden – ob das Ziel erreicht wird? Eine Stunde laufen sie nun schon umher. Steffi registriert ihre Stimmungen genau:

    "…einen anfänglichen Grusel vielleicht, auch ein bestimmtes Gespür für die Rhythmen, die Klänge und Geräusche. Momentan ist das, was wir machen, eine klare Route, ein gewisser Plan und die Gewissheit, am Ende wieder abgeholt zu werden. Das ist am Ende schon ne stark zivilisierte Form von Naturerleben."

    Eine halbe Stunde nach Mitternacht ist der Traubenzucker aufgegessen und die Flasche fast leer. Nachtfalter umschwirren die Stirnlampen. Sonst nichts. Keine Pfeile auf dem Waldboden, kein wildes Tier, kein Monster, kein Theaterdonner – und auch kein "Tischlein deck dich" auf der Waldlichtung. Das Stück "Nachtwanderung" wird zur "Geschichte der Verirrung".

    " Was ist los? Wir sind im Kreis gegangen, wir sind wieder genau da, wo wir losgegangen sind. Es ist derselbe Parkplatz."

    Schließlich stehen alle wieder auf dem Parkplatz, dem Ausgangspunkt des Abenteuers.

    "Ja, bis gleich – grandios gescheitert, würde ich das mal nennen."

    Jörg Thums am anderen Ende des Telefons kann es nicht fassen. Das sei noch nie passiert – er hole alle am Parkplatz ab, sagt er.

    Inzwischen ist es ein Uhr – zwei Stunden sind sie im Wald im Kreis herumgelaufen. Jörg Thums bringt die müden Nachtwanderer zu einer Lichtung. Von Lampen angestrahlt steht dort ein gedecktes Tischchen.

    "Das ist ja toll gemacht"

    freut sich Katja

    "Es ist ein grüner Picknicktisch, der hier auf einer Waldeslichtung steht mit einem sehr nett angerichteten Käseteller mit aufgeschnittenem Baguette und einer Flasche, Wodka. Obstler und grüne eingelegte Oliven, eingelegte Pilze, entzückend. Und kleine Wodkastamperl."


    Jörg Thums hat auch noch einen Koffer dabei. Er öffnet ihn ein wenig, etwas Schwarzes, Pelziges quillt heraus. Was ist das? Der nächste Night Thrill wird die Frage beantworten – wenn sich keiner verirrt.