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"Nackt durch die Gasse rennen"

Bratislava, die Hauptstadt der Slowakischen Republik, eine boomende Stadt unweit von Wien, jubelte dem amerikanischen Präsidenten in dieser Woche zu. George Bush nahm ein Bad in der Menge. In Mainz waren die Straßen hingegen leergefegt. Ein Sprecher einer Straßenmeisterei merkte an: "Bis der Herr Präsident im Flugzeug sitzt, werden die Straßen so leer sein, dass man nackt durch die Gasse rennen könnte". Diese und zahlreiche andere Stimmen sammelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter den Mainzer Bürgern ein, und herausgekommen ist - von Ausnahmen abgesehen- ein gespenstisches Bild über einen Staatsbesuch, der der Freundschaft, den deutsch-amerikanischen Beziehungen gewidmet sein sollte. Zwei weitere Stimmen aus der FAZ-Sammlung seinen an dieser Stelle noch zitiert. Ein Bankangestellter: "Der Staat macht sowieso, was er will" und eine Hausfrau: "Ich fühle mich, als sei ich in einem Ghetto. Am Mittwoch darf man nur noch mit Passierschein das Haus verlassen und muss sagen, wohin man warum will. Schrecklich sind diese ganzen Auflagen! Für mich und meinen Mann wird das ein Fernsehtag, und morgen kaufe ich die nötigen Lebensmittel dafür ein".

Zusammengestellt von Jochen Thies |
    Harry Nutt notiert anlässlich des Bush-Besuchs im Rhein-Main-Gebiet in der Frankfurter Rundschau scharfsinnig: "Der Staatsbesuch wird zur reinen Repräsentation, der allenfalls eine begrenzte Handlung - politische Gespräche, symbolischer Schulterschluss - zugrunde liegt. Zwar hat es schon viele bedeutende Besuche, auch ungeliebter, amerikanischer Präsidenten gegeben, aber wohl keiner ist so umfassend mit filmischer Schauplatzinszenierung vorbereitet worden". Weiter heißt es bei Nutt: "Man wird das, was heute zu sehen sein wird, mit politischer und medienkritischer Distanz begleiten und kommt dennoch den beachtlichen Aufwendungen zum Präsidentenbesuch nicht wirklich nahe. Die Erzeugung eines Verkehrschaos jenseits der Szene und die Herstellung einer bis in letzte Detail bearbeiteten Bildfläche korrespondieren mit einer mentalen Beunruhigung, die dieser Präsident hierzulande seit geraumer Zeit auslöst. George W. Bush zieht unseren Blick an wie eine blank geputzte Projektionsfläche und zugleich scheint sich, wo immer er in Erscheinung tritt, unser politisches Gefühlsleben zu stauen. Das werden …auch die Mainzer Sicherheitsbeamten nicht regulieren können".

    Bernhard Bueb, der Direktor der Schule Schloss Salem am Bodensee befasst sich in der Frankfurter Allgemeinen mit Fragen der Pädagogik, mit Verzicht, Disziplin und dem damit verbundenen Gefühl von Glück. Bei ihm heißt es: "Wir sind in Deutschland immer noch auf der Suche nach dem rechten Maß. Der Nationalsozialismus hat Autorität und Disziplin exzessiv gefeiert, die Generation der späten Nachkriegszeit hat mit exzessiver Verweigerung von Autorität und Disziplin geantwortet. Wir stehen heute vor dem Scherbenhaufen dieser Bewegungen und reagieren rat- und hilflos. Ein einfaches Zurück zu Disziplin und Gehorsam ist ebenso wenig möglich wie das Verharren im Zustand der Ratlosigkeit. Dass der antiautoritäre Weg ein Irrweg war, hat auch der letzte Romantiker begriffen".

    Bueb meint weiter: "Der Rückkehr zu einer maßvollen Einübung von Verzicht und Gewöhnung an Arbeit steht unser Wohlstand im Wege. Die Nachkriegszeit war eine pädagogische Glückszeit, und wir damals Erzogenen waren privilegiert, weil die Not den Verzicht diktierte und nicht Eltern und Lehrer Askese predigen mussten. Das Glück der Anstrengung verliert im Wettstreit mit dem Glück, das in der Wohlstandsgesellschaft passiv erlebt werden kann. Reichtum und Wohlstand sind Feinde des Aufwachsens".

    Der Schulleiter von Salem fährt fort: "Man pflegte in früheren Jahrhunderten in den wohlhabenden Familien die Kinder so zu erziehen, als ob sie nicht wohlhabend wären. Askese als Lebensmaxime sowie die dürftige und nur durch Warten oder moralisches Verdienst gewährte Erfüllung von Wünschen beherrschten den kindlichen und jugendlichen Alltag".

    Bueb folgert daraus: "Wir versündigen uns an den Jugendlichen, wenn wir ihnen die Erfahrung von Askese, Arbeitsethos und rationaler Lebensführung vorenthalten. Es muss wieder ein gesellschaftlicher Konsens entstehen, dass wir ein Klima der strengen Erziehung brauchen, und dass wir trotz Wohlstands Jugendliche erziehen müssen, als ob der Wohlstand für Jugendliche nicht bestünde".

    Bueb verlangt Ganztagsschulen und fordert: "Wir Lehrer müssen die Vorreiter einer neuen Erziehungs- und Bildungsbewegung werden. Es gibt viele, sehr viele Lehrer in diesem Land, die das leisten könnten und wollen, man muss ihnen nur die Bedingungen schaffen, um ihre pädagogischen Vorstellungen zur Tat werden zu lassen".

    Dazu gehören für Bueb ein Tabak- und Alkoholverbot für unter 18jährige, eine Reglementierung des Discobesuchs, weniger Fernsehen, Internet, Handy und Computerspiele, für ihn die "größten Feinde des Aufwachsens der Jugendlichen und die größten Verführer zum passiv erlebten Glück". Der Gesetzgeber ist also auch gefragt.

    Karl Amadeus Hartmann, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr zu feiern ist, begann mit der Komposition der zweiten Klaviersonate im April 1945, als er den Evakuierungsmarsch der Dachauer KZ-Insassen vom Hause seiner Schwiegereltern am Starnberger See verfolgte. Im zweiten Satz verarbeitete der erklärte Hitler-Gegner die Internationale. Hans-Jürgen Linke geht in der Frankfurter Rundschau dem Schicksal des Stückes nach, das Hartmann 1961 verbrannte, so dass die Sonate jahrzehntelang unaufgeführt blieb. In diesem Jahr sind fünf Aufführungen geplant, drei davon in München, eine in Nürnberg, eine weitere in Tel Aviv. Der Pianist Peter Geisselbrecht spielte die Sonate unlängst in der Giessener Universität. Linke zufolge "berichtete er, dass er bei den Vorbereitungen seine Arbeit habe dosieren müssen; er habe die Gefahr gespürt, in eine depressive Stimmung gezogen zu werden. Und das traditionelle Abschlusslied sozialdemokratischer Parteitage könne er nicht mehr hören, ohne an den 27. April 1945 zu denken".

    Oliver Tepel berichtet in der Welt über das neue Album der französischen Sängerin Francoise Hardy: Tant des belles choses - so viele schöne Dinge. Tepel meint: "Sie hat es stets ausgekostet: das Recht cool zu sein. In den nun 43 Jahren, die sie Musik macht, hat Francoise Hardy immer versucht, das eigene Spiel zu spielen. Nicht in jede Kamera zu lächeln, sondern den eigenen Stil zu wahren und weiter zu entwickeln. Nun ist sie nach knapp fünf Jahren des Schweigens zurück und präsentiert eine Platte, deren wohlkomponierte Musik in melancholischer Pracht nochmals eines nachdrücklich bestätigt: Ja, sie hat es! Die Deutschen haben es nicht, nicht auf diese Art, da hilft keine Radioquote".