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Nacktheit. Die Ästhetik der Blöße

"Müssen Frauen nackt sein, um ins Metropolitan Museum aufgenommen zu werden?" fragte 1989 eine Gruppe von feministischen Aktivistinnen, die "Guerilla girls". Die provokante Frage sollte darauf aufmerksam machen, dass zu diesem Zeitpunkt im weltbekannten Museum für Kunst nur fünf Prozent der ausgestellten Werke von Künstlerinnen stammten. Zum ‚Ausgleich' aber zeigten 85% der Aktdarstellungen Frauen. Der Katalog "Nackt. Die Ästhetik der Blöße", der anläßlich der gleichnamigen Ausstellung in Hamburg im Prestelverlag erschienen ist, relativiert diesen Befund entschieden. Abgesehen von einem kleinen Ausflug zum erotischen Holzschnitt in Japan verfolgen die rund zwanzig Aufsätze über die Jahrhunderte hinweg den Umgang mit Nacktheit in der abendländischen Kultur. Aus der Summe der Beiträge lässt sich eine kleine Kulturgeschichte der Nacktheit aus der Perspektive ihrer bildlichen Darstellung entwickeln.

Martina Wehlte-Höschele | 29.07.2002
    Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich der Begriff "Akt" als Synonym für den unbekleideten, weiblichen Körper etabliert. Zuvor war die bildliche Darstellung von Nacktheit in einen religiösen oder allegorischen Kontext eingebunden. Und sie blieb, wie am Beispiel der Abbildung des entblößten, leidenden Christus in der mittelalterlichen Kunst erläutert wird, dennoch heftig umstritten. Antike Skulpturen und anatomische Lehrmittel, die sich besonders für die Funktion der herauspräparierten Muskeln interessieren, prägten über Jahrhunderte hinweg das Körperbild des Künstlers. Der männliche Körper ist Gegenstand des Studiums, der weibliche nur ein Sonderfall des männlichen. An den Akademien, die seit dem 16. Jahrhundert zur Ausbildung der Künstler eingerichtet werden, sind weibliche Modelle erst im 19. Jahrhundert zugelassen.

    Das Verhältnis zur Nacktheit hat sich in der Moderne längst von den Schönheitsidealen, den Tabus und Bildtraditonen der christlich abendländischen Kultur gelöst. Nils Jockel stellt in seinem einführenden Beitrag die Frage, ob angesichts ihrer medialen Entwertung Nacktheit überhaupt noch als geheimnisvolle, erregende und inspirierende Kraft erfahren werden kann? Folgt man der Argumentation der Katalogbeiträge, die mitunter im par force Ritt durch die Kulturgeschichte binnen weniger Seiten von der antiken Vasenmalerei zur Benetton-Werbung gelangen, würde man dies nach der Lektüre des Buches eher verneinen. Dies könnte aber durchaus auch ein Problem der Präsentation und der eher kurzatmigen Argumentation sein. Einige Aufsätze springen von Gegenstand zu Gegenstand, um - oft nur assoziativ - große Zeitspannen zu überbrücken. Viele Objekte entstammen den Beständen des gastgebenden Hamburger "Museums für Kunst und Gewerbe": Porzellanfiguren, Terrakotten, Silberpokale, kleine Bronzefiguren, Elfenbein- und Holzschnitzereien. Für das Auge ist diese Vielfalt nicht unbedingt eine Freude: So ist auf einer Doppelseite zum Thema "Nacktheit und Gewalt" links ganzseitig ein Tafelbild von Rubens mit einem Frauenraub zu sehen, rechts sind am Rande des Textes fünf kleine Abbildungen eingestreut: eine Terrakotta mit Kain und Abel, ein kleiner, geschnitzter Heiliger Sebastian aus dem Barock und schließlich aus den sechziger Jahren drei Gewaltdarstellungen in Öl von Francis Bacon. Und mitunter finden sich Beiträge, die sich nicht nur in der Präsentation der Objekte, sondern auch in der theoretischen Reflexion allzu kühn über die Unterschiede zwischen den Medien hinwegsetzen. So kommentiert Nils Jockel, der in der Einleitung ja die schöne Formel von der "inspirierenden Nacktheit" geprägt hat, in einem Aufsatz den Skandal, den 1998 ein Plakat hervorgerufen hat, das für eine Kulturveranstaltung wirbt. Eine Fotomontage zeigt fragmentierte Körperteile, die einem galanten Tafelbild aus dem 17. Jahrhundert entnommen sind. Als Blickfang dient die gleich zweimal einmontierte, entblößte Brustwarze einer jungen Frau, die von einer weiblichen Hand prüfend in Augenschein genommen wird. Die Akzeptanz von Nacktheit im gesellschaftlichen Raum ist von den Umständen ihrer Inszenierung abhängig. Jockel hält für bewiesen, dass "das Gemälde aus der Sammlung des Louvre erst dann für anstößig gehalten wird, wenn es - in Form eines Plakates - in den öffentlichen Raum gerät". Stein des Anstoßes ist aber nicht, wie Jockel schreibt, das Gemälde selbst, sondern die Form seiner ‚Reproduktion': die beanstandete Fotomontage fragmentiert und entstellt Gemälde und Körper zu Werbezwecken.

    Schlüssig hingegen sind die Beiträge, die sich auf einen klar bestimmten historischen Zeitabschnitt oder ein Medium begrenzen. So der Beitrag von Martin Faas, der für Deutschland den Weg von der eher rigiden Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende zur "unbekümmerten Nacktheit" der Brücke-Maler nachzeichnet. Die Aktivisten der Lebensreform fordern die ungezwungene Bewegung des nackten Menschen in freier Natur ein. Die Darstellung von Sexualität bleibt bei den Künstlern der Jugendbewegung allerdings ein Tabu. Nacktheit wird im "Lichtkult" der Freikörperkultur zum ätherischen "Lichtgewand", das die Schamgrenzen aufrechterhält. Erst die Brücke-Maler- so Max Pechstein, Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel - entwerfen in klaren Farben Badeszenen, die Nacktheit, Natur und Eros in inniger Verbindung zeigen. Hier lässt sich nachvollziehen, welche Befreiung das neue Verhältnis zur Nacktheit bedeutet, das die Moderne - unbeschadet ihrer Vermarktung zu Werbezwecken - hervorgebracht hat.