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Nadelöhr gen Westen

Vor dem Jahr 2004 sicherten noch Deutschland und Österreich Außengrenzen der Europäischen Union. Mit der Erweiterungsrunde verlagerte sich die Grenze Richtung Osten. Rund 1500 Kilometer lang ist der Teilabschnitt, den allein Rumänien zu kontrollieren hat. Annett Müller hat an einem rumänisch-moldauischen Grenzübergang beobachtet, was das für die Menschen bedeutet.

    Aurica und Nina sind auf der Suche nach Glück. Die beiden Frauen sitzen in einem moldauischen Reisebus, der täglich den rumänischen Grenzübergang Sculeni passiert.

    Reine Routine für die rumänischen Grenzbeamten, die die Pässe der rund 50 moldauischen Reisenden prüfen. Die meisten von ihnen sind Gastarbeiter oder Studenten. Aurica und Nina wollen eine Woche Urlaub in Bukarest machen - mit 80 Euro. Mit 80 Euro? Der Chef der Grenzpolizei von Sculeni, Leonardo Melinte, wird stutzig, dass sich die beiden Frauen mit so wenig Geld gerade die teure Hauptstadt ausgesucht haben.

    "Wo übernachten Sie in Bukarest?", fragt der Grenzchef auf Rumänisch. Die Moldauer sprechen eine ähnliche Sprache, das macht das Kommunizieren einfach. "Bei einer Bekannten", antworten die Frauen und müssen die Adresse zeigen. Vielleicht hätte eine Visitenkarte jetzt professionell gewirkt, doch die beiden Frauen ziehen einen zerknautschen Zettel hervor, auf dem eine handschriftlich notierte Telefonnummer steht.

    "Diese Nummer werde ich gleich überprüfen", sagt der Grenzchef. Er wirkt wie ein Kriminalkommissar, der glaubt, eine Spur gefunden zu haben. Leonardo Melinte hat Berufserfahrung darin. Seit fünf Jahren arbeitet er an der Grenze zur Republik Moldau, die als Route für illegale Einwanderer gilt, die aus Armutsgebieten von Osteuropa, Asien und Afrika kommen. Der Kontrollpunkt Sculeni ist seit Jahresanfang auch ein Nadelöhr zur EU, durch das noch viele schlüpfen wollen, sagt Leonardo Melinte.

    "Wir haben es hier mit den verschiedensten Methoden zu tun, mit denen Kriminelle versuchen, die Grenze zu passieren. Sie wollen uns mit gefälschten Papieren hinters Licht führen, oder sie verstecken sich in Autos. Das sind Sachen, die, glaube ich, im Westen, beispielsweise an der Grenze zu den Niederlanden oder zu Tschechien nicht mehr vorkommen."

    Der rumänische Chefkommissar Dumitru Scutelnicu ist stolz auf jeden gelösten Fall. Zu seinem Amtsbereich gehören 13 Grenzübergänge, wie beispielsweise Sculeni. An diesen Kontrollpunkten hat man im vergangenen Jahr geschmuggelte Drogen, Waffen und gestohlene Autos sichergestellt und knapp 100 illegale Einwanderer aufgegriffen. Wie viele Verbrechen an der Grenze jedoch unentdeckt blieben, kann Scutelnicu nicht sagen.

    "Wissen Sie, alle Grenzbehörden dieser Welt gehen davon aus, das ihnen rund ein Viertel aller illegalen Grenzgänger entkommen. Dieser Prozentsatz wird weltweit akzeptiert. Wir hoffen aber, dass wir weit darunter liegen."

    Die EU-Kommission in Brüssel hat sich im vergangenen Jahr nicht mit Hoffnungen zufrieden gegeben, sondern verlangte, dass Rumänien 4000 neue Grenzpolizisten einstellt. Sie sollen die Außengrenze der Europäischen Union sicherer machen, wenngleich sie unerfahrene Berufsanfänger sind. Grenzpolizeichef Leonardo Melinte spricht dennoch von guten Fortschritten, schließlich wurde auch die Grenztechnik komplett überholt.

    "Wir haben die nötige Technik, um gefälschte Pässe oder gestohlene Autos zu entdecken oder andere illegale Vorfälle. Als ich in Deutschland war, habe ich jedoch gesehen, mit welcher Technik die Kollegen dort arbeiten, die vieles einfacher macht. Es gibt dort Apparate, die uns hier noch mehr helfen würden."

    Der Grenzpolizeichef von Sculeni nutzt die Mittel, über die er schon jetzt verfügt. Der Grenzbeamte spricht am Telefon mit der vermeintlichen Bekannte, zur der die beiden moldauischen Frauen reisen wollen. Leonardo Melinte ist clever, er stellt der Bukaresterin am Telefon Fangfragen, so dass sie eine völlig gegensätzliche Geschichte erzählt. Aurica und Nina ahnen längst, dass ihre Reise ohne Happy End bleiben wird. Die eine ist Mitte 20, die andere Anfang 40, beide sind arbeitslos. Wenn das Glück nicht in der Heimat zu finden ist, dann ist es vielleicht anderswo?

    Hartnäckig fordert Melinte die beiden Frauen auf, doch endlich die Wahrheit zu sagen. Nach einem halbstündigen Verhör folgt ein trauriges Geständnis: Von Bukarest aus wären die Frauen illegal nach Italien gebracht worden, um als Dienstmagd zu arbeiten, Jahresgehalt 3500 Euro, die Kosten für den Schmuggel ebenso hoch. Die beiden moldauischen Frauen Aurica und Nina kehren am Abend in ihre Heimat zurück, ihr Betrugsversuch ist im Pass registriert. Grenzchef Leonardo Melinte sagt, sie werden wieder versuchen, über die Grenze zu kommen - vielleicht so lange, bis sie Erfolg haben.