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"Nächte unter Tage"

"Nächte unter Tage" heißt die erste Produktion der Ruhrtriennale in diesem Jahrgang, eine szenische Installation an einem verwunschenen Ort, der Kokerei der Weltkulturerbezeche Zollverein in Essen. Was den Besucher erwartet ist eine Reise ins Herz der Finsternis, in die buchstäblich schwarze Vergangenheit einer untergegangenen Epoche.

Von Karin Fischer |
    Dies ist eine Reise ins Herz der Finsternis, in die Eingeweiden eines Monstrums aus Beton und Stahl, in die buchstäblich schwarze Vergangenheit einer untergegangenen Epoche und es ist eine Reise in die Tiefenschichten und Gefühlswerte von Literatur und Kunst. Denn genauso wie hier, in der ehemaligen Kokerei der Zeche Zollverein, noch Anfang der 70er Jahre bis zu 8000 Tonnen Koks täglich produziert und also der schwarze Stoff aus dem kalten Bauch der Erde zu Feuer und Wärme umgeschmolzen wurde, so haben der Künstler Christian Boltanski, der Lichtdesigner Jean Kalman, der Autor Albert Ostermeier und die Regisseurin Andrea Breth mit ihrem Projekt die Spanne zwischen dieser sehr konkreten Vergangenheit der Bergmannswelt, den dunklen Abgründen kollektiver Erinnerungen und den Wärmespuren der Kulturgeschichte neu vermessen und zu einem mehrdimensionalen strahlenden Kosmos verdichtet.

    Der hand- bzw. fußfest beginnt: als erstes bekommt man wasserdichte Überschuhe aus Gummi verpasst; dann geht die Reise los:

    Mit der Standseilbahn geht es aufwärts. Es windet, es riecht, es ist laut: sinnliche Explorationen, die für die nächste Stunde nicht mehr aufhören werden. Christian Boltanski, der Spezialist für die ungeordneten Spuren des Lebens in präzisester, poetischster Form, hat die dann folgenden riesigen Räume der Schachtanlage mit Installationen bespielt, in die Andrea Breth, jene Regisseurin, die der Kraft des Wortes noch vertraut, sparsame Aktionen setzt. Manchmal auch Nicht-Aktionen. Zuerst hängen hoch oben dunkle Mäntel, die sich auf ein Signal an Transportbändern bewegen wie in einer Reinigung. Ein Stock tiefer schreiben alte Männer auf altmodischen Schreibmaschinen Rechnungen, die sicher keiner mehr bezahlen wird. 10 große Kleiderballen sind dort aufgetürmt, die von Arbeitern immer wieder neu geordnet werden, gezupft, aussortiert, in den großen Schacht geworfen, während ein Schauspieler über den japanischen Volkssport "Patschinko" doziert, ein Automaten-Spiel, mit dem in Japan mehr Geld umgesetzt wird als in der Auto-Industrie. Das Sich-Wiederholende, Serielle ist Ordnungsprinzip der Installation wie des Ortes, den sie so beschreibt, bewahrt und im Hegelschen Sinne "aufhebt". Stimmen wabern durch Treppenschächte, irgendwo ist ein Summen zu hören, anderswo stumme Figuren, eine sitzend, einer lesend.

    "Es gibt nur drei Schmerzen" zitiert Udo Samel aus einem der vielen herumliegenden Schreibhefte: "a) Vergangenheit; b) Gegenwart, c) Zukunft", und so sinister auch manche Texte klingen, wenn sie die Liebe beschwören, die ja aber nur die Angst vor dem Tod mehren kann… so assoziationsreich und so anregend und so offen ist dieses begehbare Kunstwerk aus Ton, Text, Licht und Raum.

    Der wohl spektakulärste Ort ist der Boden der Trichteranlage von "Schacht 12", wo man in gleißendem Licht zur Musik eines Akkordeons über ein Feld von Kleidern läuft. Zeichen vergangener Leben, die unter einem der Trichter zum Berg anwachsen, Schicht um Schicht. Kleiderhaufen sind in Deutschland vermintes Erinnerungsgebiet, auch das eine beabsichtigte Assoziation. Viel mehr aber spricht der Ort von den abgelegten Geschichten, die diese Zeche gesehen hat. - Von solch spektakulären Räumen gibt es viele: ein Wald aus aufgehängten schwarzen Gummischuhen, der aussieht wie eine Vogelvoliere; ein lehmig riechender Gang, an dessen Ende man in einen unendlich hohen Schornsteins blickt; das so genannte "Schwimmbad" außerhalb der Anlage, über dessen vom Regen gekräuseltes Wasser die Klänge eines Pianos dringen. Elisabeth Lejonskaja spielt bekannte Weisen, die wie Sphärenklänge aus einer anderen Welt zu uns dringen. Hier ist die Zeitreise zu Ende, die den Zuschauer auch zu unbekannten Orten seiner selbst geführt hat und lange in ihm nachhallt, wie diese Zeilen, die als Motto für "Nächte unter Tage" gelten dürfen:

    "Überm Abgrund, im farbigen Bogen, strahlt die Stille mit schillerndem Glanz,
    und die jungen verschwiegenen Töne in der Stille, die heimlich entstand,
    rühren die schläfrigen Seiten der Seele welche wie eine Harfe gespannt".