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Nächtliche Offenbarung

Ihre Tochter Sophie arbeitet an ihrer ersten CD ...

Von Denis Scheck |
    Ja, wir haben hier in Brooklyn einige junge Musiker kennengerlernt - sie nennen sich One Ring Zero. Sie hatten mich für ein früheres Projekt angesprochen, Romanciers sollten Songtexte für sie schreiben, was ich auch getan habe. Jedenfalls bekamen sie mit, dass Sophie eine schöne Singstimme hat und gern in einer Band singen würde. Und so kamen wir auf die Idee, gemeinsam eine Platte zu machen. Fünf Songs haben wir schon aufgenommen, fünf weitere sollen noch folgen.

    Sie haben sich ja schon immer für andere Kunstformen interessiert: Sie haben Drehbücher geschrieben und auch selbst Regie geführt, ihre Filme waren auch ungewöhnlich erfolgreich. Jetzt aber wollen sie mit der Filmemacherei aufhören - warum?

    Aus dem einfachen Grund, weil Filme zu drehen enorm zeitaufwendig ist und ich mich während der letzten Jahre ganz aufs Romaneschreiben konzentrieren wollte. Ich habe bereits wieder einen neuen Roman angefangen, stecke im Moment also bis zum Hals in Arbeit. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob man sein Leben wirklich zwischen Schreiben und Film aufteilen kann. Als ich an Filmen arbeitete, habe ich keine einzige Zeile geschrieben. Die drei Filme, mit denen ich zu tun hatte, kosteten mich fast fünf Jahre meines Lebens. Es war ein bizarres und spannendes Zwischenspiel, aber nun habe ich das Gefühl, wieder das zu tun wofür ich auf der Welt bin.

    Warum ist es für Sie befriedigender, am Ende des kreativen Prozesses ein Buch in Händen zu halten als einen Spielfilm?

    Ich halte sie schon für gleichwertig. Ein Spiefilm ist eine viel öffentlichere Angelegenheit, man führt ihn quasi live einem Publikum vor, man kann sich selbst dazu setzen und zusehen, wie das Publikum reagiert. Das ist schon sehr spannend, wie ich zugeben muß. Man sieht ja den Lesern seines Buchs nicht beim Lesen zu. Erst später erhält man dann ein Feedback, so in der Art: Hat mir gefallen, hat mir nicht gefallen. Viel mehr ist da nicht. Das Filmemachen ist also spannender, weil unmittelbarer, aber auf lange Sicht ist Bücherschreiben befriedigender.

    "Nacht des Orakels" lässt sich auch als Liebesgeschichte lesen: Warum haben Sie eine Liebesgeschichte geschrieben?

    Die Frage nach dem Warum kann ich nie beantworten. Eine Geschichte wächst im Inneren, nach gewisser Zeit muss sie einfach geschrieben werden - aber warum, das weiß ich auch nicht. In gewisser Hinsicht ist dies wohl das intimste Buch, das ich bislang geschrieben habe, das Buch, das sich am stärksten mit dem häuslichen Leben und den Alltag einer Ehe befasst. Ich habe das in meinen anderen Büchern bislang nur gestreift und nicht so stark zum Thema gemacht wie in diesem.

    "Nacht des Orakels" ist ein sehr komplexer Roman, was die Handlung angeht, die ich für unsere Hörer deshalb auch nicht einmal andeutungsweise zusammenfassen will: Immerhin soviel: der Roman spielt zum größten Teil 1982, es gibt verschiedene Handlungsebenen, eine der Figuren schreibt unter anderem ein Drehbuch für eine Verfilmung des Romans "Die Zeitmaschine" von H. G,. Wells. Das führt mich zu der Frage: Falls Ihnen, Paul Auster, eine Zeitmaschine zur Verfügung stünde, würden Sie in die Vergangenheit oder in die Zukunft reisen?

    Diese Frage spielt ja im Buch selbst eine Rolle, als Sidney an diesem Projekt arbeitet. Wenn ich vor dieser Wahl stünde, würde ich in die Vergangenheit reisen. Ich bin so neugierig, sowohl privat als auch historisch, dass ich dieser Versuchung nicht widerstehen könnte. Was würde man nicht darum geben, seine Großeltern als kleine Kinder zu sehen, was würde man nicht unternehmen, um das erste Kennenlernen der eigenen Eltern mitzuerleben.Wir tragen die Vergangenheit ja nun einmal in unserem Inneren, und dieser Vergangenheit nun einen Besuch abzustatten, wäre doch ein großartiges Abenteuer. Reisten wir in die Zukunft, würden wir wohl nicht verstehen, was wir dort sähen, also besäße es nicht dieselbe emotionale Wucht.

    Als Schriftsteller haben Sie ja sozusagen Zugang zu einer Art Zeitmaschine, eben der Schriftstellerei. Setzen Sie das Schreiben so ein?

    Manchmal habe ich das getan. Ich bin in einigen meiner Bücher in die Vergangenheit zurückgegangen, in "Das Buch der Illusionen" etwa spielen viele Szenen in den 20er Jahren, auch in "Mr. Vertigo" oder in "Mond über Manhattan" findet sich viel über die USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

    Auch in "Die Erfindung der Einsamkeit"

    Stimmt, aber das ist kein Roman. Aber natürlich zählt es zu meinem Werk. Ich setze mich in meinen Geschichten also durchaus mit der Vergangenheit auseinander, nicht aber mit der Zukunft, einfach weil ich nichts über sie weiß.

    Dass "Nacht des Orakels" überaus vielschichtig ist, habe ich angesprochen, ich möchte diesen Roman wirklich nicht auf einen Handlungsstrang reduzieren: aber soviel lässt sich doch sagen, dass es in diesem Buch um Sprache geht, um Sprache als Möglichkeit, die Vergangenheit aufzuzeichnen, Dingen Unsterblichkeit zu verleihen, und darum, wie Sprache die Zukunft beeinflusst, wie man durch das Schreiben die Zukunft gestaltet. Wie sehen Sie Ihre Verantwortung als Schriftsteller gegenüber die Zukunft?

    Man weiß ja nie, was geschehen wird. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als in der Gegenwart zu leben. Aber ich glaube, dass der Schriftsteller die Pflicht hat, so ehrlich und wahrhaftig zu schreiben wie er nur kann. Das erfordert enorme Anstrengungen, die Seele ist dabei großen Belastungen ausgesetzt. Man muß den Mut haben, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Man muß Sätze schreiben, die so klar und wahrhaftig wie nur möglich sind. Ein Schriftsteller kann nicht mehr leisten als die Verantwortung zu übernehmen für die Sätze, die er schreibt, und die Geschichten, die er erzählt.

    Literatur ist ja nun aber mal eine Form des Lügenerzählens. Was heißt in diesem Zusammenhang denn Wahrheit und Wahrhaftigkeit?

    Da haben Sie recht. Aber diese Lügen eröffnen uns Einblicke in Wahrheiten über die Welt, und zwar vielleicht direktere Einblicke als alles andere. Romane können uns etwas über das menschliche Herz lehren, über das Verhalten von Menschen und die Erfahrung des Menschseins, was Sachbücher einfach nicht zu leisten in der Lage sind. Einerseits stimmt es also - das alles ist erfunden, erstunken und erlogen ist, und doch ist es letztlich wahr.

    Ihr Roman lebt sehr stark von der Erzählerstimme Sidney Orrs - andere Texte sind in den Roman integriert, aber mich würde interessieren, wie Sie eine solche Erzählerstimme entwickeln.

    Das ist ein sehr eigenartiger Prozess. Am Anfang hat man die Stimme im Kopf, sie ist eine Art Musik oder Rhythmus. Bei jedem Buch, das ich geschrieben habe, hörte ich eine andere Art von Musik, jeder Erzähler ist anders. Selbst wenn in der dritten Person erzählt wird. Jede Figur denkt anders, spricht anders, lebt anders in ihrem Körper. Ich habe es oft mit der Schauspielerei verglichen: man agiert im Körper eines anderen, es kommt zu einer seltsamen Symbiose, während man sich im Kopf eines erfundenen Wesens einnistet. Ich glaube, genau das machen auch Schauspieler, wenn sie sich in erfundene Figuren auf der Bühne oder im Film verwandeln: man wird zu jemand anderem. Das ist wirklich spannend und merkwürdig, und oft habe ich das Gefühl, diese Menschen genauso gut oder vielleicht noch besser zu kennen als die Menschen aus Fleisch und Blut, mit denen ich in der wirklichen Welt Umgang habe.

    Ihr jüngster Roman zeigt etwas, was in geringerem Umfang für Ihr Gesamtwerk gilt: "Nacht des Orakels" ist eine Fundgrube von Ideen, manchmal ziemlich schrägen, mitunter sogar bizarren Ideen. Zum Beispiel die Figur, die Telefonbücher aus aller Welt sammelt und aufbewahren möchte. Was lässt Ihnen solche Ideen so interessant erscheinen?

    Sie stammen aus meinem Unbewussten, deshalb kann ich das nicht genau sagen. Ich habe allerdings Vermutungen. Es begann wohl mit einem Telefonbuch, das ich tatsächlich besitze und hier in meinem Haus aufbewahre. Ein Telefonbuch aus Warschau aus dem Jahr 1937/ 38. Mein polnischer Verleger hat es mir geschenkt, als ich Warschau zum ersten Mal vor fünf Jahren besuchte. Er hatte das Buch entdeckt und einen Eintrag für "Auster" darin gefunden. Da lag es nahe, sich die Menschen dieses Namens vorzustellen, die damals am Leben waren, und sich auszumalen, was einige Jahre später mit ihnen geschah - die ganze Welt veränderte sich auf einen Schlag, die meisten werden wohl im Zweiten Weltkrieg umgekommen sein. Mir bedeutet dieser Gegenstand sehr viel, ich nenne es mein "Buch der Geister". Wahrscheinlich löste dieses Telefonbuch die Inspiration für eine Figur in meinem Roman aus, Ed Victory heißt er, der in einem unterirdischen Bunker alte und neue Telefonbücher aus der ganzen Welt hortet. Er versteht seine Sammlung als Gedenkstätte der Menschheit, er will sozusagen die ganze Menschheit in einem riesigen Raum versammeln. Die Namen aller Menschen der Welt ...

    Die Motivation dazu stammt aus seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg, er war einer die GIs, die das Konzentrationslager Dachau befreiten. Als ich diese Schilderung des Konzentrationslagers zum ersten Mal las, fragte ich mich, ob der Schriftsteller Paul Auster an die Existenz des absoluten Bösen glaubt.

    O ja. Es ist selten, denn die meisten Menschen sind nicht hundertprozentig böse oder gut, wir sind alle Mischwesen. Aber es gibt psychopathische Persönlichkeiten, die vor nichts zurückschrecken, man kann sie Menschen ohne Gewissen nennen, Menschen, die keine Beziehungen zu ihren Mitmenschen haben. Und die gibt es leider wirklich, überall auf der Welt, in jedem Land. Hin und wieder kommt es vor, dass ein politisches Regime auf diese Weise pathologisch wird. Es passiert wirklich sehr selten, aber es kommt eben vor. Wir haben das während unserer Lebenszeit selbst schon erlebt, und im 20. Jahrhundert geschah es in einem Furcht erregenden Übermaß. Deshalb glaube ich an die Existenz des Bösen, des absoluten Bösen in der Welt.

    Sie haben Ihren Roman mit einer komplizierten Spiegelstruktur versehen, Geschehnisse spiegeln sich in anderen Geschehnissen. Die Szenen im Konzentrationslager und mit den Telefonbüchern spiegeln sich in einer Geschichte um eine cracksüchtige Prostituierte in der Bronx - wieder ein Hinweis auf das absolute Böse. Erahne ich da eine philosophische Lektion?

    Nein, das hat mehr mit der dramatischen Struktur des Buches zu tun, mit den zehn Tagen der eigentlich Handlungszeit. Sidney ist krank und in sehr labilem Zustand. Wenn man selbst wacklig auf den Beinen ist, wird man empfänglich für das ganze Leid der Welt. Er hat sozusagen seine Antennen ausgefahren. Gegen Ende des Buches sagt er einmal, dass er sich fast durchsichtig vorkomme, anfällig für die Stürme der Welt, der kleinste Windstoß könnte ihn umhauen. In diesem hypersensiblen Zustand ist er also sehr offen für alles, was er hört, sieht oder liest, und daran liegt das. Ich will keine philosophischen Lektionen über den Zustand der Welt erteilen - die Welt ist sehr komplex, und in meiner Geschichte passieren gute Dinge zu schlechte Dinge, genau wie in der wirklichen Welt.

    Eine andere Figur ist ein Schriftsteller namens Trause, ein Anagramm von Auster. Dieser Schriftsteller stirbt am Ende des Romans - ich glaube, soviel darf man verraten, ohne dass die Spannung beim Lesen leidet. Inwiefern ist "Nacht des Orakels" eine Meditation über das Thema des Todes?

    Trause ist auch genau so alt wie ich, er ist 56. Er erkrankt an einer Venenentzündung im Bein, und auch das ist etwas, was mir selbst passiert ist. Ich glaube, ich habe mir dieses Problem auf zwei Flügen zugezogen, ich bin binnen 48 Stunden von New York nach Kopenhagen und wieder zurück geflogen, und zwar in der Touristenklasse, wo ich ganz zusammengekauert eingeschlafen bin und ein Blutgerinnsel im Bein bekam. Daran kann man sterben, zum Glück erwies sich diese Thrombose nicht als tödlich. Deshalb machte ich mir Gedanken über diese Krankheit und darüber, wie verrückt es ist, dass man an so einem Gerinnsel sterben kann. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, aber ein 39jähriger Reporter im Irak ist an so einer Thrombose gestorben, weil er mit angewinkeltem Bein in einem Jeep eingeschlafen ist.

    Das kapitalistische Klassensystem fordert also nach wie vor Tote?

    Darauf können Sie Gift nehmen.

    Zuletzt möchte ich noch einen anderen Punkt ansprechen: Wie erklären Sei sich die erstaunliche Blüte der amerikanischen Literatur mit Autoren wie Don DeLillo, Philip Roth, Thomas Pynchon, John Updike, selbst Saul Bellow ist noch am Leben, und dann gibt es jüngere Autoren wie Jeffrey Eugenides, Jonatahn Frantzen , Jonathan Safran Foer, die alle tolle Bücher schreiben, während die amerikanische Öffentlichkeit der Literatur immer weniger Beachtung zu schenken scheint?

    Das ist einer der großen Widersprüche dieser Kultur. Es ist ein sehr großes Land, das künstlerische Größe in jedem Bereich hervorbringt - nicht nur in der Literatur, auch in der Musik, im Theater, Tanz und in der Malerei finden sich erstaunliche Talente. Der Umstand, dass sich die Öffentlichkeit nicht groß darum schert, mag am Ende sogar förderlich sein. Denn ich glaube, wenn Künstler zuviel Lob zuteil wird, wenn sie zusehr in den Mainstream der Kultur integriert werden, dann werden sie ein bißchen faul und korrupt. Und auch wenn einige der Autoren, die Sie erwähnt haben, bekannt, ja sogar berühmt sind, spielen sie in der amerikanischen Alltagskultur so gut wie keine Rolle. Und das ist vielleicht sogar gut für sie.

    Paul Auster
    Nacht des Orakels
    Rowohlt, 272 S., EUR 19,90