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Nähkurs an der Leiche

Schluss mit dem verschulten Medizinstudium, dem bloßen Auswendiglernen, der praxisfernen Ausbildung - so das Versprechen der Berliner Charité bei der Eröffnung des "Reformstudiengangs Medizin" vor sechs Jahren. Nun sind die ersten Absolventen im Praktischen Jahr in verschiedenen Kliniken. Sie sind begeistert von der Vorbereitung durch das Reformstudium.

Von Jens Rosbach | 10.10.2005
    "Bei uns im Studium war das einmalig. Wir hatten einen Anatomie-Chirurgie-Kurs. Wir hatten also an der Leiche einen Freiwilligenkurs von einer Woche, wo wir eben das Nähen an der Leiche üben durften und auch kleinere Operationen oder auch Gallenoperationen an der Leiche simuliert haben."

    Ines Lange und Juliane Barleben haben im Reformstudium viel praktische Chirurgie gelernt. Am menschlichen Körper und - im so genannten Nähkurs - am Kissen.

    "Ist ein Schaumstoffkissen mit einem Bezug gewesen, was der Haut ähnlich sein soll. Und dann wurde eine Wunde in Form von einem Riss halt simuliert und man hat die Nadel und Faden in die Hand bekommen und musste das jetzt zu nähen. Und zwar in Zickzack-Technik oder halt eine durchlaufende Naht, dass alles ganz schick aussieht oder eine, die halt wirklich fest ist, dass sind alles verschiedene Techniken und das mussten wir alles simulieren."

    Nun, im Praktischen Jahr - in der Klinik - konnten die "blutigen Anfänger" ihr erlerntes Handwerk gut gebrauchen. Und zwar von jetzt auf gleich. Normalerweise müssen PJler erst drei Wochen im Operationssaal zugucken, bevor sie selbst zur Nadel greifen dürfen. Die beiden Reformer jedoch zeigten schon nach drei Tagen, was sie drauf hatten.

    "Und ich hab dann gefragt, ob ich denn mal darf, Knoten vor allem erst, und da ich das dann schon konnte, hab ich denn auch gefragt mit Nähen. Und bei Narben, die an Stellen sind, die nicht so offensichtlich zugänglich waren, von außen sichtbar, durfte ich dann auch schon zunähen."

    Ines Lange staunte auf Station über die anderen, normalen Medizinstudenten. Die viel weniger praktischen Übungen hatten im Studium.

    "Gerade dieses Thema Zugänge legen, also wenn man einem Patienten in die Vene dieses kleine Röhrchen einlegt - das fand ich sehr bezeichnend, wir hatten das halt im Studium schon ganz oft geübt. Und ich würde nicht sagen, ich bin perfekt, aber ich trau mir auf jeden Fall zu bei vielen das zu legen und ich hab eben auch Leute kennen gelernt, die also nach sechs Monaten Praktischem Jahr sich quasi jetzt zeigen lassen von den Ärzten, wie das denn funktioniert und ich finde das ist selbstverständlich, dass man das irgendwie - wie Blut abnehmen - dass man das können sollte."

    Problemorientiertes Lernen am Patienten - die Basis des Reformstudiengangs. Rollenspiele, ärztliche Gesprächsführung und die Schaffung einer angemessenen Untersuchungsatmosphäre gehören dazu. Juliane Barleben führte die erlernten Techniken dann auch gleich auf einer ihrer drei PJ-Stationen ein, einer inneren Station.

    "Also bei mir auf der inneren Station war es so, dass man die Aufnahmeuntersuchung eigentlich im Zimmer machen musste, das waren Zwei- bis Vierbettzimmer, weil es keinen Raum dafür gab, keinen Extra-Aufnahmeraum. Das ist für die Anamnese schon mal schlecht, weil man wirklich in der Inneren Medizin wirklich alles fragt zum Sexualkontakt, Geschlechtskrankheiten.

    Und da hab ich denn auch versucht, zu fragen, wo ist denn ein Raum und dann stellte sich heraus, dass es Räume gibt, die bloß halt weit weg waren und dann habe ich meine Patienten halt eingepackt und bin mit ihnen quer übern Flur und hab dann die Aufnahme in dem Raum gemacht, was halt gut war für die Untersuchung."

    Beste Praxisvorbereitung - heißt es überall im Reformstudiengang. Und was ist mit der Theorie, dem Basiswissen? Waltraud Georg vom Prüfungsbüro beteuert, dass sich die Reform-Studenten nicht vor den normalen Regelstudenten verstecken müssen - obwohl die Regelstudenten wesentlich mehr Anatomie und Physiologie büffeln müssen. Bilanz der zweiten Staatsprüfung:

    "Es ist so, dass die Studenten eigentlich genau so abgeschnitten haben im Prinzip wie die Studenten im Regelstudiengang an der Charité bzw. bundesweit und ich denke, mit den Ergebnissen konnten wir da eigentlich ganz gut belegen, dass das Projekt erfolgreich ist."

    Der Reformstudiengang Medizin setzt sich durch. Die Hochschulen in Aachen, Köln, Bochum, Heidelberg, Dresden und München haben mittlerweile die Struktur bzw. einzelne Teile des Charité-Projektes kopiert. Und auch auf den Krankenhausfluren spricht sich die Qualität der Ausbildung offenbar herum. So haben viele Absolventen noch während ihrer PJ-Einsätze Jobangebote bekommen. Ines Lange ist felsenfest überzeugt: Sie würde den Reformstudiengang jederzeit wieder wählen.

    "Irgendwie war die Motivation immer ne ganz andere, fand ich. Man wusste ungefähr, wofür man das alles lernt, man war immer so dicht an seiner späteren Arbeit dran. Und das hat mir irgendwie so gefallen."