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Nähmaschine und Regenschirm

Die Welt und das Leben verändern - ihr erklärtes Ziel haben die Surrealisten nicht erreicht. Aber die Kunst und ihren Blick auf Objekte haben sie verändert. Das zeigt nun auch eine Ausstellung in Paris.

Von Kathrin Hondl |
    Ein Telefon mit einem Hummer als Hörer, ein Paar Damen-Pumps, die wie ein Hühnchen zusammengeschnürt auf einer Platte serviert werden, ein Tisch, aus dem Schwanz und Kopf eines ausgestopften Fuchses herausragen: All das ist "schön, wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch" - so der berühmte Satz des Dichters Lautréamont, den André Breton und seine surrealistischen Komplizen so liebten und auf den gleich am Anfang der Ausstellung eine Fotografie von Man Ray verweist: Das Bild aus dem Jahr 1933 zeigt eine Nähmaschine und einen Regenschirm.

    Daneben sind prominente Vorfahren surrealistischer Objekte präsentiert: Marcel Duchamps berühmter eiserner Flaschentrockener, der "Porte-Bouteilles", eines der ersten Readymades der Kunstgeschichte, und zwei Bilder von Giorgio De Chirico mit gesichtslosen Puppen in metaphysischer Landschaft.

    Sowohl Readymades, also vorgefertigte Gegenstände, als auch Puppen begegnen einem immer wieder in abgedunkelten Ausstellungsräumen, in denen die surrealistischen Objekte auftauchen wie Figuren aus einem Traum: Hans Bellmers monströs-erotische Puppe mit zwei Unterleibern oder das von Magritte gemalte Bild eines Käsestücks unter einer echten Käseglocke. Kurator Didier Ottinger:

    "Um surrealistische Objekte zu charakterisieren, spricht André Breton von der ‚Verfestigung eines Traums‘. Ein surrealistisches Objekt ist wie ein kompaktes Stück, das aus einem Traum in die Wirklichkeit fällt und die Wirklichkeit auflöst. Es ist ein Agent, der die Wirklichkeit durchlöchert und zerstört. Ein Element, das vor unseren Augen auftaucht, den Schleier der Realität zerreißt und uns in jene Bereiche führt, die die Surrealisten interessieren: Fantasie, Erotik, Sehnsüchte, Unbewusstes ..."

    Als das erste surrealistische Objekt überhaupt gilt eine Arbeit von Alberto Giacometti – die "boule suspendue": eine hängende Kugel mit Einschnitt, die über einem sichelförmigen Keil schwingt. Ein sexuell ziemlich eindeutiges Objekt, bei dem, so beschrieb es Salvador Dalí, "eine Kante der Sichel die Aushöhlung der Kugel leicht berührt". Dalí erklärt Giacomettis schwebende Kugel zum Prototyp des surrealistischen Objekts, das er als "Gegenstand mit symbolischer Funktion" beschreibt.

    "Aber schon ab1934 stellt André Breton dieses Objekt-Konzept infrage. Auslöser ist ein Flohmarktspaziergang mit Alberto Giacometti. Da ersetzt er von Künstlern geschaffene Objekte durch bereits vorhandene Gegenstände. Und was folgt, ist dann 1936 eine Ausstellung in der Galerie Ratton, wo man alle möglichen Dinge sieht – von mathematischen Gegenständen über Mineralien bis zu ausgestopften Tieren."

    Eine "surrealistische Ausstellung von Objekten" hieß diese legendäre Schau von 1936, die im Centre Pompidou jetzt wieder auflebt. Indem sie scheinbar banale Dinge wie Damenschuhe oder Steine ins surrealistische Licht stellen, entfernen sich Breton und seine Mitstreiter auch radikal von der Idee des "künstlerischen Genies" und des Kunstwerks als Markt-Fetisch.

    Revolution war ihr Ziel – "Die Welt verändern, sagte Marx, das Leben verändern, sagte Rimbaud. Beide Losungen gehören für uns zusammen" schrieb André Breton 1935. Was die Surrealisten tatsächlich nachhaltig verändert haben, ist die Kunst. Davon zeugt in der Ausstellung eine ganze Reihe von Arbeiten zeitgenössischer Künstler: eine aus Haaren gefertigte Perlenkette von Mona Hatoum, grotesk pornografische Puppenbilder von Cindy Sherman oder kitschig verfremdete rosa Tassen-Figuren des jungen französischen Künstlers Théo Mercier. Allesamt "schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch". Der surrealistische Geist, so die Botschaft dieser klug inszenierten Ausstellung, der surrealistische Geist ist nach wie vor lebendig.

    Surrealismus in 3D – die Ausstellung "Le surréalisme et l’objet" im Centre Pompidou, Paris, 30.10. 13 – 3.3.14