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Nahrungsmangel im Mutterleib

Schon im Mutterleib und kurz nach der Geburt werden wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt: Das Fachmagazin PNAS stellt die Ergebnisse von zwei Forscherteams vor, die die Folgen einer frühen Unterernährung auf erwachsene Menschen studiert haben.

Von Christine Westerhaus |
    Für die Forschung war es ein Glücksfall, für die betroffenen Menschen jedoch eine Katastrophe: Am Ende des Zweiten Weltkriegs mussten die Menschen im westlichen Teil der Niederlande eine Hungersnot überstehen. Fünf Monate lang bekamen die Menschen an manchen Tagen so wenig zu essen, dass es nicht zum Überleben reichte. Seit Langem untersuchen Forscher die Folgen dieser extremen Unterernährung. Susanne de Rooij von der Universität in Amsterdam interessiert sich vor allem dafür, wie sich der Nahrungsmangel während der embryonalen Entwicklung auf die kognitiven Leistungen im Alter auswirkt. Gemeinsam mit ihren Kollegen untersuchte sie knapp 300 Frauen und Männer, die während der Hungersnot im Mutterleib heranwuchsen.

    "Wir haben erwartet, dass der Nahrungsmangel besonders am Anfang der Schwangerschaft Auswirkungen hat, weil sich in dieser Zeit das Gehirn des Embryos entwickelt. Denn man kann sich vorstellen, dass es bei einem Nährstoffmangel zu einer Fehlentwicklung kommt und dass das Effekte auf die kognitive Leistung im späteren Leben haben kann."

    Tatsächlich beobachteten die Forscher Defizite in der Konzentrationsfähigkeit der Menschen, die während ihrer embryonalen Entwicklung zu wenig Nahrung bekamen. Die heute Mitte-60-Jährigen machten häufiger Fehler bei einem Test, der die Aufmerksamkeit der Probanden untersucht. Menschen, die kurz vor oder erst nach der Hungerperiode heranwuchsen, schnitten bei diesem Versuch besser ab. Dabei waren die Auswirkungen der Unterernährung im Mutterleib größer als Einflüsse wie soziale Herkunft oder Alkohol- und Tabakkonsum. Ein anderes Forscherteam hatte die kognitiven Fähigkeiten derselben Probanden schon einmal vor einigen Jahrzehnten untersucht. Damals waren die Testpersonen jedoch erst 19 Jahre alt. In diesen jungen Jahren zeigte der Nahrungsmangel im Mutterleib noch keine Auswirkungen: Die unterernährten Menschen machten genauso viele Fehler wie Personen, die als Ungeborene ausreichend ernährt waren. Susanne de Rooij geht deshalb davon aus, dass sich die Folgen der Unterernährung während der embryonalen Entwicklung auf die kognitiven Leistungen erst im Alter zeigen. Ob dieser Effekt jedoch allein auf den Nährstoffmangel zurückzuführen ist, kann sie nicht mit Sicherheit sagen.

    "Das ist schwierig zu beurteilen, weil seit der Geburt so viel passiert ist. Aber es ist interessant, dass wir diesen Zusammenhang noch immer sehen kennen, obwohl so viel passiert ist. Während der Hungersnot war die Fruchtbarkeit der Frauen aber definitiv geringer - es war für sie also schwieriger, überhaupt schwanger zu werden. Vielleicht haben also diejenigen Frauen, die trotz des Nahrungsmangels schwanger wurden, andere genetische Voraussetzungen als Frauen, die nicht schwanger geworden sind. Das können wir aus unseren Daten nicht ablesen."

    Der Ernährungszustand zu Beginn des Lebens hat womöglich aber nicht nur Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen. Ein US-amerikanisches Forscherteam hat beobachtet, dass bei männlichen Babys in den ersten sechs Monaten schon wichtige Weichen für das spätere Sexualleben gestellt werden. Die Wissenschaftler haben die Entwicklung von männlichen Neugeborenen verfolgt, die in den 80er-Jahren auf den Philippinen das Licht der Welt erblickten. Die heute jungen Erwachsenen sollten Fragen zu ihrem Sexualleben beantworten. Diejenigen Männer, die in den ersten sechs Monaten ihres Lebens am schnellsten wuchsen und an Gewicht zulegten, waren im späteren Leben früher geschlechtsreif als ihre unterernährten Altersgenossen. Als junge Männer hatten sie zudem mehr Muskeln und nach eigenen Angaben bereits häufiger Geschlechtsverkehr. Bei ihren Altersgenossen, die in den ersten Lebensmonaten langsamer an Gewicht zunahmen, war die sexuelle Entwicklung dagegen verlangsamt.

    "Wir denken, dass der Körper schon sehr früh im Leben wahrnehmen kann, wie gut es um seine Energieversorgung bestellt ist. Dementsprechend variiert er auch die Menge an Energie, die er in die Fortpflanzung investiert. Bei Männern bedeutet das: in die Körpergröße und in mehr Muskeln. Bei weiblichen Babys sehen wir diesen Zusammenhang nicht so klar. Und das macht aus evolutionsbiologischer Sicht auch Sinn, denn Frauen investieren ihre Energie ganz anders in die Reproduktion und zwar direkt in das Wachstum ihrer Babys."

    Christopher Kuzawa von der US-amerikanischen Northwestern Universität in Evanston. Dass allein das soziale Umfeld die spätere sexuelle Entwicklung der Kinder prägte, konnten die Forscher ausschließen:

    "Dies ist die erste Studie, die diesen Zusammenhang untersucht hat. Was unsere Ergebnisse aber deutlich machen ist, dass das langsame Wachstum in den ersten sechs Monaten auf schlechte hygienische Verhältnisse und Nahrungsmangel zurückzuführen ist und dass dies lang anhaltende Effekte auf einen erwachsenen Organismus haben kann. Unsere Studie macht also deutlich, wie wichtig eine gute Ernährung für Babys ist."