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Nahtoderfahren

Über dem grünen Hügel in Bayreuth scheint Ruhe zu herrschen nach den Skandalen des letzten Sommers, als Christoph Schlingensief zur Belebung des Operngeschäfts engagiert wurde und seinen Parsifal vorstellte. Dieses Jahr hat das Enfant Terrible an der Wiederaufnahme herumgebastelt. Was dabei herausgekommen ist, weiß Holger Noltze.

Moderation: Beatrix Novy |
    Beatrix Novy: Ist die Inszenierung jetzt wirklich braver geworden?

    Holger Noltze: Naja, die Leute die jetzt von kreuzbrav reden sind genau die, die diesen Regisseur sonst immer auf die Provokation und den Provokateur festlegen wollen. Vielleicht macht dieser Mann ja einfach im Sinne von Pierre Boulez auch seine Arbeit. Im übrigen war es gestern Abend überhaupt nicht ruhig, sondern am Ende dieses doch denkwürdigen Abends tobte eine der ganz großen Buh- und Bravo-Schlachten, die ich je erlebt habe. Ich finde das bedeutend deshalb, weil sich hier so was wie ein Kulturkampf um Bayreuth andeutet. Wo soll es lang gehen? Wo soll das Wagnerhaus der Zukunft stehen? Als Ort der Bewahrung, Versteinerung, Anbetung? Oder ein Ort der offen ist für neue Bilder und Zugänge wie sie sicher geliefert wurden. Und Unruhe ist besser als Schlaf, sagt Pierre Boulez. Wie das ausgeht ist noch schwer zu sagen.

    Novy: Wenn das aber ein weiterer Meilenstein, wie es letztes Jahr in einer Kritik hieß, beim überall praktizierten Abschied vom herkömmlichen Operntheater war, was ja ein bisschen durchscheint jetzt aus dem was Sie sagen. Was ist es denn? Und was sind die Unterschiede zu der Inszenierung vom letzten Jahr, die ja nun auch nicht ohne Buh-Rufe vonstatten ging?

    Noltze: Die Neugierde war natürlich groß. Was hat Schlingensief geändert im zweiten Jahr im Sinne der Werkstatt Bayreuth, wo ja immer weiter gebastelt wird. Es ist beträchtlich viel. Es ist immer noch der große Bilderstrom unter Einsatz von Drehbühne und vielen kleinen und großen Leinwänden, von Projektionen und permanenten Lichtwechseln. Wir sehen immer noch die Gralsgemeinschaft als eine Mischung aus Steinzeit und afrikanischem Stamm in einer Art Lagerarchitektur mit so Burgversatz-Elementen. Dazwischen eine wilde Collage aus archaischen Kulten und Riten, die irgendwie immer mit Tod zu tun haben. Voodoo-Rituale, Opfersteine, Priester aller Art, Hasen aller Art gipfelnd am Ende in diesem Kurzfilm von Alexander Kluge, wo in Zeitraffer der Verwesungsprozess eines toten Hasen, bis zu dem was man so Brodem nennt, gezeigt wird, und das auf die Erlösungsmusik. Also Schlingensief verbindet Erlösung und Verwesung, er nimmt die Todesthematik von der allerphysischsten Seite. Aber bitte am Ende entsteht dann in diesem toten Hasenkörper ja neues Leben, da fangen die Maden an zu krabbeln. Und dieses ist und bleibt eine Provokation. Es gibt eine deutliche Überarbeitung. Es gibt nämlich einen zweiten Parsifal und eine zweite Kundry, also Doubles, die eine zweite Schicht einführen, was man dann im zweiten und sehr stark renovierten Akt gut sehen kann, wo das große Gespräch zwischen Parsifal und Kundry als eine Art von Psychoanalyse-Sitzung gezeigt wird. Und zwar ist es erst Kundry, die spricht ja Parsifal, den sie verführen soll, auf seine Kindheit an, erzählt von seiner Mutter, um ihn da zu wecken. Und dann kommt diese Kussszene, die dramatische. Und dann kehrt sich das um, und dann erscheint irgendwie Parsifal als der Analytiker. Also das Machtmotiv ist umgekehrt, das hat es vorher noch gar nicht gegeben, im dritten Akt. Und am Schluss wird mit dem Speer ganz anders hantiert, also Parsifal kommt, erlöst Amfortas, den kranken Gralskönig, durch einen Stoß in seine Wunde mit dem Speer und danach auch sich selber. Er zieht sich den Speer selbst rein. Und dann gibt es so eine Art, ja das könnte man sagen, fast opernhaftes Schlussbild, Gang ins Gegenlicht - große Erlösung.

    Novy: Das sind keine entschärfenden Unterschiede.

    Noltze: Es sind strukturierende Unterschiede. Ich glaube zwar, dass bei Schlingensief eine gewisse Unschärfe, sozusagen, zum Konzept gehört. Aber dafür dass man einfach jetzt auch mal ein bisschen mehr nachvollziehen kann, sind die Leute dankbar und es ist kein Nachteil.

    Novy: Endrik Wottrich, der sich letztes Jahr auf einen öffentlichen Krieg mit Schlingensief eingelassen hatte, singt ja nicht mehr den Parsifal. Wer kam an seine Stelle und was ist zu den sängerischen Leistungen überhaupt zu sagen?

    Noltze: Es gab einen Tausch. Alfons Eberz, der im letzten Jahr im Holländer, den Erik, also den jungen Liebenden von Senta gesungen hat, der singt jetzt Parsifal. Und Wottrich singt den Erik. Eberz ist ein Kraftpaket, bisschen laut, wenig heilig. Noch viel weniger heilig als Endrik Wottrich das gemacht hatte. Aber er füllt diese Rolle besser aus, das gilt auch für andere. Also in diesem Jahr, dass es noch ein bisschen besser und noch ein bisschen packender war, lag daran, dass die Figuren mehr stimmten und mehr bei sich waren. Also John Wegener als schwarzer Zauberer Klingsor war von enormer Präsenz und Michelle de Young als Kundry, die trotz leichter Schärfen, als Figur noch enorm gewachsen ist.

    Noltze: Über Schlingensief kann und soll man streiten. Über das Orchester und den Dirigenten Pierre Boulez kann man nicht streiten, von dem kann man nur schwärmen. Das Wunder ereignete sich wieder, das Wunder des letzten Jahres. Ein leichter Parsifal, ohne Weihrauch, einer der schnellsten der Geschichte im Übrigen. Ohne drücken auf Emotionen und Pathos, aber duftig und durchsichtig, wie Sie vielleicht schon gehört haben.

    Novy: Und das passt auch zum Regie-Konzept, oder gibt es hier divergierende Konzepte zwischen Dirigent und Regisseur?

    Noltze: Naja, der Einsatz von Weihrauch ist natürlich unterschiedlich. Unten im Orchester passiert er überhaupt nicht, oben wird es eingesetzt, aber natürlich in Anführungszeichen. Insofern kann man vielleicht sagen Boulez und Schlingensief passen sehr gut zusammen auf der Ebene des Interesses an etwas Neuem. Und ich fand es auch sehr gut, dass Boulez, der einhellig gefeiert wurde, dann demonstrativ mit Schlingensief vor den Vorhang trat und sich da auch solidarisch erklärt hat mit dieser Inszenierung. Ich glaube das war ein guter Abend für Bayreuth, wo man diesmal nicht Thomas Gottschalk gesehen hat, sondern die amerikanische Rock-Legende Patti Smith - ein Beweis, dass Wagner und Pop doch viel miteinander zu tun haben. Und Patti Smith hat auf die Frage gesagt, wie sie die Buhs Gefunden habe. Sagte sie, wunderbar, es sei eine Art happy booing? Gewesen, also auch eine Art von Erlösung.

    Novy: Und Patti Smith soll auch als Berichterstatterin in Bayreuth fungieren. Das war Holger Noltze mit den neuesten Neuigkeiten von den Festspielen.