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Nahtstelle zwischen Europa und Asien

200 Euro pro Sitzung bezahlen Kundinnen im Schönheitssalon von Lilia. Und in den äußeren Slumsiedlungen kämpfen die Bewohner gegen die Willkür der Polizei. Eine Reise nach Almaty.

Von Achim Nuhr | 20.02.2011
    Die Bar zum "Weißen Wal" sieht aus wie viele andere: Tresen, Hocker, im Regal eine Menge Alkohol neben einer kleinen Kaffeemaschine. Doch der "Weiße Wal" glänzt durch seine besondere Lage: Die Bar steht mitten in Almaty. Almaty? Das ist das ehemalige Alma-Ata, damals Hauptstadt der Sowjetrepublik Kasachstan - und keineswegs berühmt für interessante Bars. Doch heute ist Almaty aufregend - eine Mischung aus Genf, Schanghai und Nowosibirsk. Und wer eigentlich nur kurz einen trinken möchte im "Weißen Wal", macht gleich interessante Bekanntschaften.

    "Ich habe damals in der Luxe-Bar in Moskau an der Theke gearbeitet. Dort traf ich einen Italiener, der mir bei sich zuhause einen besseren Job versprach. So begann ich im Red Zone-Club in Perugia. Dort wäre ich auch gerne noch länger geblieben. Aber nach zwei Jahren meinte mein Ehemann, ich solle mal besser zurück nach Hause kommen. Jetzt bin ich hier in Almaty und habe einen neuen Job."

    Da werden damals viele Italiener traurig gewesen sein. Denn Lilia Schergai, wie sich die Dame vorstellt, sieht äußerst interessant aus: pechschwarz gekleidet vom kurzen Woll-Top bis zu den Stiefeln. Augen, Nase und Mund lassen rätseln: Ist sie Europäerin? Oder Asiatin? Doch in Almaty sind solche Fragen falsch gestellt. Almaty ist nämlich das kosmopolitische Zentrum Zentralasiens: Hier treffen Europa, Asien und Russland aufeinander. Und die Völker mischen sich. Almaty ist mit mehr als 1,3 Millionen Einwohnern immerhin die größte Stadt Kasachstans. Lilia kennt sich aus mit den Menschen hier: Sie selbst ist aus dem benachbarten Usbekistan nach Almaty gezogen.

    "Die Mentalitäten sind sehr verschieden. Wir Usbeken sind meist flexibel: Seit dem Ende der Sowjetunion muss ich mich irgendwie durchschlagen, wie die meisten meiner Landsleute. In dieser Hinsicht ähneln wir den Chinesen. Die Kasachen denken dagegen ähnlich wie die Russen - obwohl viele Kasachen Muslime sind und keine Christen. Die Russen hier gelten eher als schwerfällig und faul. Die Westeuropäer erscheinen mir vor allem gelassen und ruhig."

    Auch Lilia schaut für einen kleinen Drink im "Weißen Wal" vorbei. Sie hat koreanische Vorfahren und einen usbekischen Pass. Sie wuchs zu sowjetischen Zeiten in Taschkent auf, atheistisch, um später Christin zu werden: Ein silbernes Kreuz ziert ihre Halskette. Lilia Schergai kennt auch Moskau, Rom und Berlin, weil sie dort jeweils eine Zeit lang gewohnt hat. Eine bunte Biografie, so bunt wie das Völkergemisch in Almaty.

    Denn hier leben mehr als 50 Nationalitäten: Vor allem Kasachen, dann Russen, Usbeken, Ukrainer, Tataren und das Turkvolk der Uiguren. Kasachstan liegt unterhalb von Russland und Almaty ganz im Süden von Kasachstan – nahe der Grenzen zu Kirgistan und China. 1991 wurde Kasachstan ein unabhängiger Staat. Und Alma-Ata wurde umgetauft in Almaty. Seitdem regiert hier ein Kapitalismus zentralasiatischer Prägung: anarchisch und bürokratisiert, wild und despotisch, großstädtisch und provinziell zugleich. Die ehemalige Bardame Lilia betreibt heute in Almaty einen Schönheitssalon.

    "Zu mir kommen Frauen aus der Geschäfts- und Finanzwelt, die überdurchschnittlich gut verdienen. Ich modelliere die Schönheit dieser Frauen. Meine Kundinnen achten sorgfältig auf ihr Geld. Die lassen nicht einfach mal eben 300 Euro in einem luxuriösen Schönheitssalon springen. Stattdessen kommen sie lieber zu mir und bezahlen gerade mal 200 Euro pro Sitzung. Dabei gebe ich ihnen sogar noch emotionalen Komfort."

    Die deutsche Diskussion um einen Mindestlohn für Friseusen kann Lilia Schergai nicht recht nachvollziehen. Ihr Selbstbewusstsein mag zuerst überraschen: Wer könnte schon Almaty auf einer Weltkarte zeigen? Oder Kasachstan? Aber Kasachstan hat Öl, viel Öl, und damit auch viel Geld. Deshalb gibt es die vielen teuren Bars und Schönheitssalons in Almaty – und zahlungskräftige Kunden. Almaty ist die Lieblingsstadt der kasachischen Mittelschicht: Restaurants, Bars, Nachtclubs, 24-Stunden-Supermärkte und fast das gesamte Kulturangebot des Landes bündeln sich hier zwischen Parks und Alleen, auf denen sich bisweilen luxuriöse Geländewagen stauen. Moskau würde da im Vergleich doch etwas abfallen, meint Lilia:

    "Dort sieht man sehr viele Leute auf der Straße, die erst vor 10 oder 15 Jahren zugezogen sind. In Moskau fühlen sie sich dann unsicher und überspielten das durch Arroganz. Dagegen hat sich unser Almaty in vielen Jahrzehnten zu einer richtigen Metropole entwickelt. Das hat uns geprägt. Wir haben hier ein gewisses kulturelles Niveau. Und die kasachische Hauptstadt Astana ist im Vergleich dazu doch einfach nur ein Misthaufen."

    Lilia Schergai liebt klare Worte. Aber jetzt hat sie keine Zeit mehr. Gleich kommt die nächste Kundin in ihren Salon, der gleich um die Ecke liegt. Ja, Lilia arbeitet auch nachts: Viele Geschäftsfrauen und Millionärsgattinnen finden erst dann Zeit, ihre Schönheit zu pflegen. Und der Reporter schont sich besser: Der Termin morgen wird nicht so heimelig ausfallen. Denn nicht alle Menschen in Almaty sind wohlhabend und trinken teure Cocktails in prima geheizten Bars.

    Am nächsten Tag fährt das Taxi zuerst über die Dostyq-Straße, einen herausgeputzten Boulevard im Stadtzentrum, der früher nach Wladimir Iljitsch Lenin benannt war. Nun blinken hier die Schilder internationaler Cafe- und Fastfood-Filialen sowie Sportshops. Am Panfilov-Park ist die frisch sanierte Zenkov-Kathedrale zu sehen, die noch in der Zarenzeit gebaut wurde. Gleich auf der anderen Straßenseite liegt das Arasan-Bad, eine Badeanstalt im modernistischen Sowjetstil. Durch die Frontscheibe des Taxis fällt der Blick auf das Alatau-Massiv, einen Ausläufer der Himmlischen Berge, die noch viel weiter bis nach China reichen. Das Stadtzentrum ist der Ortsteil, der an Genf erinnert.

    Wir biegen ab und fahren Richtung Westen weiter. Die nächsten Stadtviertel lassen eher an Schanghai denken: Denn hier stehen dicht beieinander viele hohe, funktionale Apartmenttürme, unterbrochen nur von Baustellen, von denen wir später noch eine besuchen werden. Bald tauchen zwischen einfachen Wohnvierteln die ersten Gewerbezonen auf. Moderne edle Bauten, in denen Konzernzentralen ihren Sitz haben, werden von heruntergekommenen Klitschen abgelöst. Noch weiter außerhalb am Stadtrand, nach einer Viertelstunde Fahrt, machen die äußeren Stadtteile einen desolaten Eindruck: Die Betriebe wirken fast alle heruntergekommen, die Siedlungen ärmlich. Diese Gegend erinnert an den Industriegürtel der sibirischen Metropole Wladiwostok. Dann biegt das Taxi von der Straße ab auf einen Schotterweg, der hinunter in eine Senke führt. Hier ist ein Gegenentwurf zum herausgeputzten Stadtzentrum zu finden.

    Eine bizarre, planlose Stadtlandschaft: Baracken, Bretterbuden, Rohbauten und hölzerne Klohäuschen stehen kreuz und quer. Schutt- und Müllhaufen türmen sich zwischen den Bauten. Ein Müllhaufen brennt: Deshalb zieht beißender Rauch durch den Slum, über den gerade ein Flugzeug hinweg fliegt.

    Die merkwürdige Siedlung heißt Schanirak. In Kasachstan ist sie durch Unruhen berühmt geworden: Schon mehrfach kämpften hier Hunderte Einwohner stundenlang gegen Polizeitruppen. Fotos zeigen Steine schmeißende Kinder, Frauen, die Molotowcocktails in der Hand halten und Gummigeschosse der Polizisten. Nun grüßen zwei Frauen, die von einer Bürgerinitiative vermittelt wurden.

    "Vor einiger Zeit hatten wir gehört, dass die Polizei in der Nacht zuvor in einer Siedlung hundert Häuser auf einmal abgerissen hatte. Wir waren also gewarnt und stellten Nachtwachen auf. In der folgenden Nacht kamen die Polizisten prompt gegen drei Uhr bei uns anmarschiert. Alle, aber wirklich alle Bewohner kamen aus ihren Häusern. Auch Frauen und Kinder. Und eine richtige Schlacht begann. Neun Menschen wurden festgenommen. Die sitzen immer noch im Gefängnis."

    Bagila Djindobaewa heißt die gesprächigere der beiden Frauen: Sie trägt eine große Sonnenbrille und unter ihrer Jeansjacke gerade mal ein T-Shirt - bei sieben Grad plus. Sie möchte ihr "Haus" zeigen: Doch nach einem kurzen Marsch stehen wir vor einem Rohbau. Die Grundmauern reichen gerade bis zum Knie. Der Boden des Hauses ist gar nicht zu erkennen, weil dort wilde Sträucher wachsen. Deshalb schläft Frau Djindobaewa nachts meist in einem anderen Stadtviertel bei Verwandten, wo auch ihr Hausrat lagert. Dann ist hier die Baustelle ungeschützt. Die arbeitslose Buchhalterin beschuldigt die Polizei, nachts immer wieder heimlich Mauern zu beschädigen und Bausteine zu stehlen. Deshalb würde ihr Haus niemals fertig. Das Problem ließe sich in vielen anderen Städten schnell und eindeutig klären. Aber nicht so in Almaty:

    "Alles fing damit an, dass hier in Schanirak öffentliches Land zum Verkauf angeboten wurde. Damals habe ich mein Grundstück ganz offiziell von der Stadtverwaltung erworben, wie die meisten Bewohner hier. Dann habe ich im Büro der Stadtverwaltung bar bezahlt. Das ist bei uns üblich. Die Behörde versprach damals, mir bald einen Besitztitel und eine Baugenehmigung zu schicken. Aber beides ist bis heute nicht angekommen. Stattdessen wurde inzwischen ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Der meint, dass der Verkauf der Grundstücke ungesetzlich verlaufen sei. Wir Bewohner sollten alle von hier verschwinden."

    Beim Rundgang durch das Viertel dämmert es bereits. Im Innern eines Rohbaus leuchtet eine einzelne Glühbirne. Drinnen ist eine Frau zu erkennen: Sie schwingt eine Maurerkelle. Die Handwerkerin ist vielleicht dreißig Jahre alt. Sie trägt einen Trainingsanzug und Badeschlappen. Der Rohbau hat bereits Fenster, die Außenfassade ist frisch verputzt. Die Frau heißt Almagulin Beiwosinowa, und auch sie macht sich Sorgen.

    "Die Stadtverwaltung sagt, dass ich von hier verschwinden soll. Aber ich habe keinen anderen Platz, wohin ich gehen könnte. Die Beamten und Polizisten fragen mich immer wieder nach einer Meldebescheinigung für mein Haus, und ob ich Steuern zahlen würde. Dabei ist mein Haus doch noch nicht einmal fertig. Und ohne eine Meldebescheinigung der Behörde bekomme ich auch keine vernünftige Arbeit. Deshalb verdiene ich kaum Geld und kann erst recht keine Steuern zahlen."

    Zu sowjetischen Zeiten gab es weder einen freien Wohnungsmarkt noch freie Wohnungen. Da war man meistens in einer Werkswohnung des Betriebs gemeldet, in dem man auch seine Arbeitsstelle hatte. Diese Meldebescheinigung, russisch: Propiska, war für Sowjetbürger ein lebenswichtiges Dokument. Denn ohne Propiska gab es nichts: keine Wohnung, keinen Job, keine Sozialleistungen. Offiziell heißt es, dass heute das Thema "Propiska" abgehakt sei. Heutzutage kann in Kasachstan angeblich jeder wohnen, wo er will - und dort hinziehen, wo er möchte. Doch Frau Beiwosinowa zeichnet ein anderes Bild:

    "Obwohl ich Witwe bin und obwohl ich zwei kleine Kinder habe, erhalte ich keinerlei öffentliche Unterstützung. Dazu bräuchte ich einen Propiska. Doch die Beamten wollen mir keinen geben. Sie sagen, dass ich erst mal ein Bußgeld zahlen muss, weil ich bisher ohne Meldebescheinigung hier lebe. Wenn ich ihnen 320 Euro zahlen würde, könnte ich eventuell einen Propiska bekommen. Aber genauer wollen sie sich nicht festlegen."

    Inzwischen ist es stockdunkel geworden in Schanirak. Das ist unangenehm, denn nachts sind die unbeleuchteten Wege kaum noch zu erkennen. Leicht kann man in eines der vielen tiefen Schlammlöcher fallen. Deshalb wollen wir nur noch kurz ein bewohntes Haus besichtigen: das von Komos Ilepajewa, der zweiten Frau, die gleich zu Anfang am Eingang von Schanirak grüßte. Obwohl es jetzt noch kälter geworden ist, trägt Frau Ilepajewa nur eine weite, violette Hose, ein schwarzes Jackett mit kurzen Ärmeln und ein seidenes Kopftuch. Die Bewohner von Schanirak scheinen Kälte sehr gewöhnt zu sein. Frau Ilepajewas Haus steht am Ende des Slums, am weitesten entfernt von der Hauptstraße.

    "Früher hatte ich hier noch nette Nachbarn, die wohnten gleich nebenan. Doch deren Haus ist vor Kurzem weggespült worden: Wir hatten ein Unwetter und alles stand hier unter Wasser. Danach sind die Nachbarn weggegangen. Ich vermisse sie sehr. Eines ihrer größeren Kinder hatte nachts immer bei mir geschlafen. Denn ich habe hier allein immer etwas Angst. Nun muss ich allein zurechtkommen. Das nächste Haus ist jetzt mehr als 50 Meter von meinem entfernt."

    Im Dunkeln ist Frau Ilepajewas Haus nur schemenhaft zu erkennen: eine etwa drei Mal drei Meter kleine Schachtel aus Spanplatten und Kartonpappe, auf der ein Wellblechdach thront. Im Haus füllen ein Bett, ein Tisch und grob zusammengezimmerte Bänke die gesamte Wohnfläche aus. Die Bauzeit für diese Behausung dürfte nur ein paar Stunden betragen haben – kurz genug, um sich beim Aufbau nicht von der Polizei überraschen zu lassen.

    In der Innenstadt von Almaty stehen spektakuläre Neubauten, die den Wirtschaftsboom des Landes symbolisieren sollen. Als besonderes Aushängeschild gilt Nurly-Tau, an dem wir auf dem Rückweg von Schanirak vorbeikommen: ein riesiger Glaspalast aus vier Wolkenkratzern und vielen kleineren Gebäuden, die ineinander verschachtelt sind. Neue IT-Parks, internationale Hotels und aufwendig sanierte Altbauten vermitteln ein europäisches Flair, das internationale Investoren anlocken soll. Meist wird in die Höhe gebaut, weil sich die Stadt wegen der anliegenden Berge kaum noch ausdehnen kann. Almatys Infrastruktur wurde von den Sowjets auf 400.000 Einwohner ausgerichtet. Heute wohnen bereits mehr als dreimal so viele Bürger hier, Tendenz: steigend.

    In Almaty ist der Zementverbrauch innerhalb von sieben Jahren auf das Siebenfache gestiegen. Gleichzeitig stieg der Zementpreis auf das Sechsfache, was die Baukosten explodieren ließ. Nun entsteht hier in einem Vorort von Almaty ein moderner, riesiger Apartmentblock mit Hunderten Einheiten. Gearbeitet wird im großindustriellen Stil: mit gigantischen Baukränen, wie sie in Deutschland nur selten zu sehen sind. Eine der Baufirmen kommt aus Berlin. Deren Mitarbeiter David Weisenborn schaut gerade von einem Balkon im 18. Stockwerk eines nagelneuen Wohnblocks. Er wirkt entspannt, denn er hat in Kasachstan schon ganz andere Baustellen erlebt. Als Ausländer kann er frei erzählen, was dort so alles passiert.

    "Ich habe tatsächlich schon Baustellen gesehen, da würde ich keinen Fuß reinsetzen. Weil da statisch gesehen und auch insgesamt konstruktiv so viel Fehler drin sind, dass es besser wäre, diese Baustelle abzureißen. Ich würde tatsächlich vorziehen, in einem Baucontainer vor der Baustelle eine Besprechung zu haben. Und auch erklären, dass ich mich nicht wohlfühle auf dieser Baustelle, weil ich so viele Fehler sehe. Es gibt doch wirklich Bauten - in Atyrau ist vor drei Wochen eine Brücke eingestürzt nach 90 Prozent Fertigstellung. Also, sowas passiert hier leider immer noch."

    David Weisenborn bemerkt den nervösen Blick des Reporters, der nun von unserem Standort im 18. Stockwerk mindestens 50 Meter tief hinunter wandert in einen enormen Innenhof, der schon größtenteils von hohen Neubauten begrenzt wird. In dem Innenhof liegen allerlei Röhren und haushohe Fertigteile aus Beton herum. Weisenborn soll dafür sorgen, dass hier aufgeräumt wird und alles sauber läuft: Sein Unternehmen wurde beauftragt, die Baustelle zu reorganisieren. Zuvor war der Finanzierungsrahmen stark überschritten worden, sodass Bauherren, Baufirmen und Banken aus Kasachstan und Italien heftig aneinandergeraten waren. Nun sieht David Weisenborn große Fortschritte:

    "Man hat jetzt verstanden, dass es so manche deutschen Tugenden braucht, solche Projekte fertigzustellen und dass dies in guter Qualität, innerhalb der Kosten und der Zeit fertiggestellt wird. Diese deutschen Firmen werden von kasachischen Baufirmen oder Banken oder Investoren angefragt, weil immer noch deutsche Qualität sehr viel in diesem Lande zählt und man sich darauf verlässt, dass man mit deutschen Firmen diese Krisenzeiten sehr gut überstehen kann. Möchten Sie sich mal eine Wohnung anschauen?"

    Mit den "Krisenzeiten" meint Weisenborn die Weltwirtschaftskrise, die auch in Kasachstan für manchen Baustopp sorgte. Nun läuft die Baukonjunktur wieder an. Drinnen sehen die fertiggestellten Wohnungen noch sehr nackt aus: Nur die stützenden Mauern stehen; um zusätzliche Wände und den finalen Grundriss sollen sich die Käufer später selber kümmern. Zwar werden auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs noch ganze Fassaden hochgezogen. Doch auf der Seite, an der wir geradestehen, sollen bereits in Kürze die ersten Parteien in Wohnungen einziehen. Unklar bleibt, wie die Neuankömmlinge dann schlafen sollen: Denn es wird lautstark gebaut, Tag und Nacht. Allerdings gibt es auch gute Gründe, eine bezugsfertige Wohnung gleich in Beschlag zu nehmen, weiß David Weisenborn: Was man hat, das hat man.

    "Sicher ist auch sehr häufig vorgekommen, dass Leute anhand von Modellen Projekte gekauft haben, Wohneinheiten gekauft haben: nicht nur eine, sondern gleich zehn, weil das in Boomzeiten so funktioniert. Die Idee war, dass man diese Wohnungen sogar leer stehen lässt, wenn sie gebaut sind und dann verkauft, wenn die Zeiten besser sind für den Weiterverkauf. Das hat sehr lange sehr gut funktioniert für die meisten Personen. Deshalb hat man Luft gekauft, also nicht fertige Projekte. Viele davon wurden jetzt tatsächlich nicht fertiggestellt und deswegen werden einige Leute viel Geld verlieren."

    Doch gleichzeitig verdienen viele andere in Almaty so viel Geld wie nie zuvor. Mitten in der Nacht entdecke ich im "Weißen Wal" wieder Lilia Schergai. Sie hat noch weniger Zeit als am Abend zuvor:

    "Mein Motto lautet: Zeit ist Geld. Als Schönheitsberaterin werde ich gemäß meiner Arbeitszeit bezahlt. Wenn ich nun hier mit ihnen spreche, verdiene ich damit kein Geld. Aber gleich treffe ich schon meine nächste Kundin."