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Naive Deutsche

Der amerikanische Publizist Michael Lewis ist der Frage nachgegangen, wieso das reiche Europa im Schuldensumpf versinkt. "Boomerang" heißt das Buch, das seine Antwort darstellt: Die Deutschen sind gutmütige, nette Deppen.

Von Daniel Blum |
    Was wollen die Griechen denn jetzt? Hat sich der Rest der Welt in den letzten Wochen gefragt. Sparpaket: ja oder nein? Den Euro behalten oder zurück zur Drachme? In der EU bleiben oder eine Solonummer wagen? Den Staat einfach bankrottgehen lassen? Letzteres wäre aberwitzig, aber aufgrund der griechischen Mentalität durchaus möglich, meint Michael Lewis, der das Land bei den Recherchen zu "Boomerang" bereist hat.

    "Von außen betrachtet erscheint es verrückt, einfach auf alle Verbindlichkeiten zu pfeifen. Dann würden sämtliche griechischen Banken sofort pleitegehen und das Land könnte notwendige Importgüter nicht mehr bezahlen, Öl zum Beispiel. Die Regierung würde auf viele Jahre hinaus durch deutlich höhere Zinsen abgestraft werden, wenn sie denn jemals überhaupt wieder Kredite bekäme. Doch das Land verhält sich nicht wie ein Kollektiv. (...) Es benimmt sich wie eine Ansammlung atomisierter Partikel, die es gewohnt sind, auf Kosten des Allgemeinwohls eigene Interessen zu verfolgen."

    Man merkt es gleich: Hier redet jemand Klartext. Wem als ökonomischer Laie beim Wirtschaftsteil der Tageszeitungen bisweilen die Tränen der Verzweiflung kommen, dem werden auch bei Lektüre dieses Buches die Augen feucht werden – aber aus Dankbarkeit. Vielen Bürgern erscheint die Finanzkrise als Dornengestrüpp, undurchdringlich und abweisend. Michael Lewis geht mit dem Buschmesser rein und säbelt energisch so lange am Gesträuch, bis es die possierlichen Figuren eines französischen Barockgartens aufweist. Wildwuchs zu domestizieren ist eine Kunst, die der US-Amerikaner beherrscht. Wirtschaftswissenschaftler ist er von zu Hause aus, jobbte als Investmentbanker, ist jetzt Wirtschaftsjournalist bei "Vanity Fair". Jetzt, in "Boomerang", durchmisst Lewis die Welt der großen Staats- und Wirtschaftsführer. Wie konnte es zur europäischen Schuldenkrise kommen?

    "Von 2002 an hatte es in den reichen Industrienationen so etwas wie einen falschen Boom gegeben. Was wie wirtschaftliches Wachstum aussah, waren in Wirklichkeit Geschäfte von Menschen, die sich Geld liehen, das sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie würden zurückzahlen können. (...) Problematisch war daran, dass die Banken, die einen Großteil der Kredite gewährt hatten, nicht mehr, wie private Unternehmen behandelt wurden, sondern wie Zweigstellen der jeweiligen Regierungen, die darauf vertrauen konnten, dass ihnen in jeder Krise aus der Klemme geholfen würde. (...) Die Staatsschulden dieser Nationen waren nicht mehr nur die offiziellen Staatsschulden. In der Praxis enthielten sie auch die Schulden innerhalb des Bankensystems des jeweiligen Landes, die der Staat im Falle einer weiteren Krise übernehmen würde."

    Anfangs hatten alle privaten Akteure von diesem System profitiert. Die Banken boten jedem Kredite an und kassierten die Zinsen. Die Kreditnehmer fühlten sich reich, weil sie unbekümmert fremdes Geld verprassen konnten, als gäbe es kein Morgen. Nicht nur Privatleute, auch Staaten kamen in Versuchung, weit über ihre Verhältnisse zu leben. Insbesondere in Europa, weil – so Michael Lewis – die Deutschen es mit ihrer Gutmütigkeit möglich machten. All die Jahre hatten sie fleißig gearbeitet, bescheiden gehaushaltet, emsig gespart. Jetzt lebten die Deutschen im Zuge der Europäischen Währungsunion plötzlich mit der armen Verwandtschaft unter demselben Dach und ließen sich breitschlagen, für sie geradezustehen.

    "Letztlich nutzten die übrigen europäischen Nationen die Kreditwürdigkeit der Deutschen, um auf Einkaufstour zu gehen. Sie bekamen Geld zu denselben Bedingungen wie die Deutschen und kauften damit Dinge, die sie sich nicht leisten konnten. (...) Andere Länder nahmen fremdes Geld auf, um damit die verrücktesten Dinge zu finanzieren. Und die Deutschen beziehungsweise ihre Banken benutzten ihr Geld, um Ausländern die verrücktesten Dinge zu ermöglichen."

    Zum Beispiel den Griechen, die weit über ihre Verhältnisse leben durften. Der deutsche Tanzbär ließ sich trottelig am Nasenring durch die Manege führen, machte Männchen und freute sich, dass jeder ihn mochte. Als Deutscher liest man Michael Lewis' Sicht der Dinge mit gemischten Gefühlen: schön, dass die anderen Schuld an der allgemeinen Misere sein sollen – aber unschön, dass uns der Amerikaner für naiv hält. Nicht nur der deutsche Finanzminister ließ sich, so Lewis, zum Narren machen, auch die deutschen Bankiers:

    "Sie verliehen ihr Geld an irische Immobilienhaie, isländische Zocker und amerikanische Investmentbanken, die mit diesem Geld Dinge anstellten, die kein Deutscher je tun würde. (...) Das Weltfinanzsystem ist nicht nur dazu da, um Kreditgeber und Kreditnehmer zusammenzubringen. Seit einigen Jahrzehnten dient es auch zunehmend dazu, den Starken die Schwachen zur Ausbeutung zuzuführen. Clevere Händler an der Wall Street erfinden unfaire und teuflisch komplizierte Papiere und schicken dann ihre Händler in alle Welt los, um nach einem Deppen zu suchen, der sie kauft. In den letzten Jahren saß ein unverhältnismäßig großer Teil dieser Deppen in Deutschland."

    Grundehrlich, grundanständig - aber auch leichtgläubig bis zur Dämlichkeit: so charakterisiert Lewis uns Deutsche. Auch die Charaktere anderer Nationen skizziert er mit so wenigen Strichen, dass das Porträt beinahe zur Karikatur wird. Lewis hat außer Deutschland auch Island, Irland und Griechenland bereist und widmet jedem Besuch ein eigenes Kapitel. Er gestaltet sie als Reportagen, erzählt von Begegnungen mit Politikern, Investoren, Entscheidungsträgern. Gekonnt vermischt er diese lebendigen Schilderungen mit ökonomischen Fakten und Analysen. Kurze Sätze, eine klare Sprache: Lewis' Buch lässt sich flüssig lesen. Auch wenn er seine Erklärungen so sehr auf Eingängigkeit getrimmt hat, dass sie einen in ihrer frechen Kürze perplex machen, wirkt das nie billig, sondern clever. Eines gelingt Michael Lewis allerdings nicht: einen Ausgang aus dem Schuldenlabyrinth aufzuzeigen. Schreiben kann der Mann – zaubern nicht.

    Michael Lewis: Boomerang: Europas harte Landung, Campus Verlag, 248 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3 593-39471-8