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Nantucket vor US-Ostküste
Graue Lady im Atlantik

Für mehr als 100 Jahre war sie das Mekka von Walfängern. Die Jagd auf die großen Meeressäuger bescherte Nantucket Reichtum, doch das Geschäft versiegte und die Insel geriet in Vergessenheit. Heute erholen sich vor allem die Reichen auf der idyllischen, etwas unwirklichen Insel.

Von Sonja Ernst | 14.05.2015
    Blick auf Häuser am Strand von der US-Insel Nantucket.
    Die Häuser auf der Insel Nantucket vor der US-Ostküste sind meistens grau in allen Schattierungen. (dpa - picture alliance / ZB - Nico Esch)
    Neun Uhr morgens. Ein klarer blauer Himmel überspannt Hyannis. Unten am Hafen strömen die Tagesausflügler zusammen. Sie suchen ihre Fähre - eines dieser Hochgeschwindigkeitsschiffe.
    "200, vielleicht 250 Menschen gehen an Bord - ohne zu drängeln. Höflich, wie man das in Neuengland tut. Hyannis liegt an der Nordost-Küste der USA, im Bundesstaat Massachusetts."
    An Bord noch einen Platz suchen und dann, in nur einer Stunde, sind alle drüben - auf Nantucket, der Walfänger-Insel. Sie ist Teil des Literatur-Klassikers "Moby Dick". Von dort legte Kapitän Ahab ab: einbeinig und voller Hass auf den weißen Wal. Heute ist Nantucket die "kleine graue Lady im Atlantik". Der Tourismus bringt das Geld - viel Geld.
    Ankunft am Hafen von Nantucket Stadt - der einzigen Stadt auf der Insel. Sofort wird klar, woher das Eiland seinen Spitznamen hat. Alle Häuser sind es: grau - in alle Schattierungen. Sie sind mit Schindeln aus Zedernholz verkleidet, das über die Jahre grau wird. Die Gebäude sind ein- und zweistöckig, viele historisch. Darin sind Galerien, Restaurants und Boutiquen - alles recht schick und teuer.
    Bill Jamieson. 50 Jahre alt. Kurze, dunkle Haare. Breites Gesicht. Ein ruhiger, gemütlicher Kerl. Farbe halte nur fünf Jahre, sagt Bill. Aber die Schindeln könnten dem Meersalz und den Stürmen gut 20 Jahre Stand halten. Außerdem sorgen heute auch Bauvorschriften dafür, dass die Insel ein graues Idyll bleibt.
    Bill kam vor 20 Jahren nach Nantucket. Nachdem er genug hatte von New York City. Heute ist er Stadtführer.
    Wir stehen in Downtown. Biegen von der Main Street auf die Orange Street, die sich leicht den Berg hinaufschlängelt. Links und rechts stehen die Kapitänsvillen aus der Walfangära. Alle top renoviert. Auf den Dächern sind kleine Plattformen. Dort standen sie, die Kapitäne oder ihre sehnsüchtigen Frauen, um auf Hafen und Meer zu blicken.
    "Nantucket war die Welthauptstadt des Walfangs für rund 100 Jahre lang. Die ganze Walfang-Industrie begann in den 1670er-Jahren als Off-Shore-Walfang. Man jagte die Wale, die in Küstennähe waren."
    So richtig los ging es ab 1730. Man jagte tief im Atlantik, später im Pazifik. Die Walfänger spezialisierten sich auf Pottwale. Aus ihren Vorderköpfen gewann man Walrat, um daraus Kerzen zu machen. Teils waren - allein aus Nantucket - bis zu 150 Schiffe auf den Meeren unterwegs - oft viele Jahre lang. Für die Seeleute eine riskante Arbeit, die jedoch Geld brachte - und manchem sogar großen Reichtum.
    Doch ab 1840 ging es bergab. Der Walfang auf Nantucket brach ein - aus diversen Gründen. Die Hafenstadt New Bedford - am Festland - wurde zur echten Konkurrenz. Eine Sandbank blockierte den Hafen von Nantucket. Ja, und auch die Zahl der Wale war dramatisch dezimiert.
    Der Reichtum versiegte. Viele Menschen gingen weg. Nantucket geriet in Vergessenheit.
    Insel mit historischem Charme
    Heute lebt die Insel von ihrem historischen Charme. Davon, dass die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Das mögen die Touristen, darunter viele wohlhabende, die auf der Insel ganze Häuser mieten oder gleich kaufen. Ihnen gehören die Kapitänsvillen, die kleinen Fischerhütten an den Kais - auch die top renoviert - und die Strandhäuser. Verkaufspreise in Millionenhöhe sind Standard. Und: All die reichen Gäste sind nur im Sommer da.
    "95 Prozent der Häuser im Stadtgebiet sind im Winter unbewohnt. Vermutlich 85 Prozent auf der Insel insgesamt. Man kann durch ein komplettes Viertel laufen und man sieht kein einziges Licht brennen - monatelang. Man fühlt sich wie in einem dieser 'Der letzte Mensch auf der Erde'-Filmen. Es ist ein bizarres Gefühl", erzählt Bill.
    11.000 Menschen leben auf Nantucket - das ganze Jahr. Im Sommer sind es - ohne die vielen Tagesausflügler - rund 50.000. Das heißt: Fast acht Monate im Jahr ist Nantucket weiterhin vergessen.
    Jim Perelman ist der Sheriff von Nantucket. Mitte 60. Dünn und drahtig. Schwarze Haare und Schnauzer - eindrucksvolle Hakennase. Jim ist heute außer Dienst, die Uniform liegt zu Hause. Unterm Arm hat er eine Tüte mit Einkäufen.
    "Viele Menschen sehen die Insel als ein Museum. Aber das ist sie nicht. Hier wird richtig gearbeitet, auch wenn die Insel in vielerlei Hinsicht historisch ist."
    Auf der Insel sei viel Geld, ja. Und viele Häuser auf der Insel seien reine Sommerhäuser. Aber sie sorgten dennoch für viele Jobs.
    "Handwerkerjobs. Klempner, Elektriker, Schreiner. Wissen Sie, hier gibt es einen netten Lebensstil. Wenn man keine Angst vor harter Arbeit hat, kann man hier ein gutes Leben haben. Auch wenn es teurer ist als anderswo."
    Ellenbogen aus Sand
    Bevor sich Jim und Bill voneinander verabschieden, klären sie noch, ob die Nantucketer stur sind - Inselmenschen wird das ja nachgesagt. Stur? Nein. Man sei aufeinander angewiesen. Und auf einer so kleinen Insel begegne man sich ja auch immer wieder.
    Drüben an der Washington Street starten Klein-Busse - natürlich sind auch sie grau. Sie verteilen die Touristen quer über die Insel. Die ist 120 Quadratkilometer groß. Aus der Vogelperspektive erinnert Nantucket an einen Lenkdrachen - mit runder Spitze. In der Literatur wird das Eiland auch als Ellbogen aus Sand beschrieben.
    Es geht vorbei an Heideland und Wiesen mit wilden Blumen. Dazwischen kleine Wälder: Die Bäumen stehen sturmgeprüft da - zur Seite geneigt, klein, hier schießt man lieber nicht in die Höhe. Auch Sümpfe gibt es. Und große Felder mit Cranberrys.
    Nächster Halt ist Sconset. Ganz im Osten, quasi an der Spitze des Lenkdrachens.
    Das ehemalige Fischerdorf zog schon ab 1930 Feriengäste an - viele Künstler und auch die Stars vom New Yorker Broadway.
    Auch hier in Sconset sind alle Häuser grau. Etwas kleiner, mit wunderschönen, sehr gepflegten Gärten. Die Rasen sind perfekt geschnitten. Zwischen den Häusern begrünte Wege und kleine Straßen. Direkt hinter der Düne lockt das Meer mit einem endlosen Sandstrand.
    Auch Sconset ist ein begehrter und sehr teurer Ort. Die Gäste lieben Nantucket, eben weil die Insel so lange vergessen war. Eben weil die Sandstrände nicht zugebaut sind. Eben weil die Insel mit ihrer Kleinstadt so beschaulich wirkt, so aus der Zeit gefallen. Schön ist das. Aber auch ein wenig unwirklich.
    "Es ist Abend geworden. Der Bus fährt zurück nach Nantucket Stadt. Von dort bringt die Fähre die letzten Tagesausflüger zurück ans Festland. Nur eine Stunde, dann sind alle wieder drüben in Hyannis."