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Narben im Erbgut
Trauma vererbt sich über vier Mäuse-Generationen

Kriegserlebnisse, Hungersnöte oder auch persönliche traumatische Erfahrungen – man vermutet, dass die damit zusammenhängenden Ängste und Gefühle in unserem Erbgut gespeichert werden. Wie das genau abläuft, versuchen Wissenschaftler in Versuchen mit Mäusen herauszufinden.

Von Michael Lange | 01.09.2017
    Hausmäuse
    Forscherin Isabelle Mansuy: "Für eine junge Maus ist es ein traumatisches Erlebnis, wenn sie von der Mutter getrennt wird. Dieser Schock führt später im Leben zu Depressionen oder zu unsozialem Verhalten." (imago/Anka Agency International)
    Traumatische Erlebnisse gibt es nicht nur bei Menschen, auch bei Mäusen. Der Forscherin Isabelle Mansuy vom Labor für Neuroepigenetik an der ETH Zürich dienen sie als Modelle für besondere Formen der Vererbung.
    "Für eine junge Maus ist es ein traumatisches Erlebnis, wenn sie von der Mutter getrennt wird. Dieser Schock führt später im Leben zu Depressionen oder zu unsozialem Verhalten. Außerdem nehmen die traumatisierten Mäuse als erwachsene Tiere unnötige Risiken in Kauf."
    Dass auch die nächste Generation unter den Folgen eines Traumas leidet, auch wenn sie selbst nichts Traumatisches erlebte, ist nachvollziehbar. Schließlich wurde sie von traumatisierten Müttern großgezogen. Aber zur Überraschung der Forscher blieben die Folgen eines Traumas im Tierexperiment noch länger erhalten.
    "Drei Generation haben wir untersucht und testen jetzt die vierte – und demnächst die fünfte Generation. Das Ergebnis ist eindeutig: Drei Generationen leiden unter den Folgen des Traumas und auch in der vierten finden wir typische Symptome. Wir vermuten, dass die Übertragung über die Keimzellen erfolgt."
    Unbelastete Leihmütter brachten die Mäuse zur Welt
    Um sicherzustellen, dass die Jungtiere nicht das Fehlverhalten der Eltern übernehmen, zeugten die Wissenschaftler ihre Mäuse durch künstliche Befruchtung. Unbelastete Leihmütter brachten die Mäuse zur Welt und zogen sie groß. Dennoch litten die Tiere an den Folgen des Traumas ihrer genetischen Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern.
    Damit stand fest: Die Vererbung des Traumas erfolgte auf biologischem Weg – über die Eizellen oder die Samenzellen.
    Als mögliche Ursache untersuchte Isabelle Mansuy die Ribonukleinsäure, kurz RNA. Dieses Biomolekül ist ähnlich aufgebaut wie die Erbsubstanz DNA, verändert sich allerdings durch Umwelt, Lebensstil oder eben traumatische Erlebnisse.
    "Wir isolierten die RNA aus den Spermien traumatisierter Mäusemännchen und spritzen sie in befruchtete Eizellen. Dann ließen wir die Mäuse friedlich ohne Trauma heranwachsen, aufgezogen von unbelasteten Müttern. Und trotzdem zeigten sie als erwachsene Tiere die gleichen Symptome wie die Männchen, aus deren Spermien die RNA stammte."
    RNA verändert sich durch Umwelt, Lebensstil oder Traumata
    Das bedeutet: Die RNA reagiert auf Ereignisse im Leben und überträgt die Information an folgende Generationen. Sie ist damit ein heißer Kandidat für die epigenetische Vererbung – jenseits der Gene.
    Ein weiterer Kandidat ist die Methylierung der Erbsubstanz DNA.
    Dabei steuern kleine chemische Anhängsel, so genannte Methylgruppen, die Aktivität auf dem Erbmolekül.
    Wie groß der Anteil der Kandidaten an der Vererbung ist, wird unter Fachleuten kontrovers diskutiert. Über die Tatsache einer epigenetischen Vererbung an sich lässt sich jedoch nicht mehr streiten, meint Thomas Jenuwein vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg.
    "In der Maus weiß man das für drei oder vier Generationen, aber dann verliert man die Information wieder. Bei einzelligen Organismen wie der Hefe kann eine Information über 50 Generationen weitergegeben werden. Aber dann fällt sie wieder zurück zur genetisch fundierten, DNA-codierten Information."
    Die Epigenetik kann einigen Generationen ihren Stempel aufdrücken. Auf langfristige Prozesse hat sie allerdings keinen Einfluss. Die Evolution bleibt Sache des Erbmoleküls DNA, und hier wirken Zufall und Auswahl - Mutation und Selektion.