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Nase schafft Kiefer

Paläontologie. - Nase und Kiefer hängen offenbar eng zusammen, entwicklungsgeschichtlich. Eine internationale Forschergruppe hat jetzt an einem chinesischen Fossil entdeckt, dass die Nase die Bedingungen für die Bildung des Kiefers schuf.

Von Sabine Goldhahn | 18.08.2011
    Sein Name ist Shuyu. Sein Gehirn war nur wenig grösser als ein Daumennagel und gerade mal einen halben Zentimeter dick. Der kleine ausgestorbene Fisch sieht fast so aus wie eine überdimensionierte Kaulquappe mit einem halbovalen gepanzerten Kopf. Seine Rückenflossen enden in einem kurzen Schwanz, und in seinem plattgedrückten Gesicht sitzen zwei kleine runde Augen über einer grossen längsovalen Öffnung, dem gemeinsamen Mund- und Nasenloch. Shuyu lebte vor über 400 Millionen Jahren im Ozean und gehört zu den kieferlosen Wirbeltieren. Seine Besonderheit: er ist ein fehlendes Bindeglied in der Evolution. Philip Donoghue, Paläontologe an der Universität Bristol:

    "Um den Aufbau der Wirbeltiere zu verstehen, ist es sehr wichtig zu wissen, wie der Kiefer entstand. Daher haben wir zwei Gruppen von Wirbeltieren verglichen: die heute noch lebenden kieferlosen Neunaugen und Tiere mit Kiefer, wie Haie, Mäuse oder Fische. Da gibt es einen grossen Unterschied. Für die Entwicklung des Kiefers sind Stammzellen zuständig, die aus dem hintersten Teil des Gehirns kommen, der sogenannten Neuralleiste. Von dort wandern sie während der Entwicklungsphase über das Gehirn hinweg nach vorne, bis sie schliesslich zwischen den zwei Nasenkapseln und den zwei Geruchsorganen angekommen sind."

    Dort war erst einmal Endstation. Bei uns Menschen und bei allen anderen Wirbeltieren mit Kiefer wanderten sie jedoch immer weiter der Nase entlang nach rechts und links und bildeten am Ende die Kieferknochen. Bei den kieferlosen Neunaugen ging das aber nicht, denn die haben nur ein einziges Nasenloch vorn in der Mitte ihres Kopfes.

    "Sie haben zwar schon paarweise Riechorgane, aber die sind in der Mitte zusammengewachsen und bilden somit eine physikalische Barriere, wo die kieferbildenden Zellen nicht weiterwandern können. Daher hat man nach einem Lebewesen gesucht, das auf einer Entwicklungsstufe dazwischen steht, das also noch keine Kiefer hat, aber zumindest schon klar voneinander getrennte Nasenorgane, die es den Stammzellen des Kiefers erlauben, weiter nach unten zu gelangen."

    Dieses Lebewesen ist Shuyu, das kleine Fossil aus China. Marco Stampanoni, Physiker an der Eidgenössisch-Technischen Hochschule in Zürich und am Paul-Scherrer Institut in Villigen, hat Shuyu in einem Synchrotron untersucht, – einem Gerät, das hochenergetische Röntgenstrahlung verwendet.

    "Bei unseren Untersuchungen haben wir eine Synchrotron-basierte Technik angewendet, mit der man mikroskopisch genau Strukturen von wenigen hundert Mikrometern bis hin zu einigen Millimetern erkennt, und das in einer räumlichen Auflösung von wenigen hundert Nanometern bis hin zu ein paar Zehntel Mikrometer, und man schaut mit den Röntgenstrahlen in das Innere des Fossils hinein, obwohl es schon seit Millionen von Jahren versteinert ist","

    erklärt Stampanoni. Der grosse Vorteil dieser Technik besteht darin, dass der fossile Fisch weder zerschnitten noch anderweitig zerstört werden muss. Das ist technisch gesehen wie bei einem normalen Computertomographen in der Klinik, der Schnittbilder vom Menschen erzeugt, nur viel genauer. Stampanoni:

    ""Bei einem normalen Computertomographen liegt der Patient ruhig da, und das Gerät rotiert um ihn herum. In unserem Fall jedoch ist das Gerät mehrere Meter gross und fest installiert. Hier ist die Probe auf einen Stift geklebt und dreht sich um ihre Achse, während die Röntgenstrahlen aus einer Quelle in 30 Metern Entfernung kommen."

    Während der ganzen Untersuchung werden mehrere Tausend Schnappschüsse von der Probe gemacht. Doch erst danach geht die eigentliche Arbeit los. Dann werden die Schnittbilder über Monate hinweg dreidimensional am Computer rekonstruiert. Am Ende entstehen von dem unscheinbaren versteinerten Fisch farbenprächtige Bilder wie aus dem Biologie-Lehrbuch. Jeder einzelne Knochen, jeder Nerv und jedes Blutgefäß sind genau zu erkennen. Und für die Forscher ist ein so gut erhaltenes Fossil wie Shuyu ein Glücksfall, denn in ihm haben sie das fehlende Puzzlesteinchen gefunden, das sie gesucht haben. Philip Donoghue:

    "Bei allen Wirbeltieren mit einem Kiefer wandern die Kiefer-Stammzellen auf dieselbe Art und Weise nach vorne bis zur Nase. Der grosse Schritt in der Evolution, durch den es schliesslich zur Entwicklung des Kiefers kam, ist die Trennung der zwei Riechorgane, und wir haben jetzt diesen ersten Entwicklungsschritt nachgewiesen."

    Shuyu ist somit das erste Wirbeltier in der Evolution, das durch seine zwei seitlich am Kopf liegenden Riechorgane alle Voraussetzungen hatte, einen Kiefer zu bilden, aber am Ende doch noch kieferlos blieb. Diese Entdeckung ist nach Ansicht der Forscher auch ein Hinweis dafür, dass sich der Kiefer unabhängig von einer Anpassung der Essgewohnheiten entwickelt hat. Denn Shuyu hat vor allem organische Stoffe aus dem Schlamm aufgesaugt, und dafür war ein Kiefer völlig unnötig.