Schon im 19. Jahrhundert, lange vor der Reichsgründung, war die Sprache eines der wichtigsten Konzepte für das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Es gab noch keinen deutschen Staat, nur lauter kleine Königreiche und Fürstentümer, aber es gab eine deutsche Literatur. Umgekehrt wirkten sich die Ambivalenzen des deutschen Nationalgefühls natürlich ebenfalls auf die Sprache aus. Nachdem die Nazis beinahe alles Deutsche zuschanden gemacht hatten, war eine selbstbewusste Sprachpolitik in Deutschland unmöglich geworden. Auch die Teilung der Nation verhinderte sie. Die DDR-Führung ging in ihren Abgrenzungsbemühungen sogar so weit, neben Unterschieden des Vokabulars eine eigene Grammatik durchsetzen zu wollen, und wurde - Ironie der Geschichte - von der Sowjetführung zurückgepfiffen, weil sie es für unzumutbar hielt, dass russische Schüler und Studenten sozusagen ein doppeltes Deutsch hätten lernen müssen.
Nun ist die Teilung Deutschlands vorbei, die Erinnerung an die nationalsozialistische Sprachpolitik verblasst, und insgesamt spielt unser Land wieder eine größere Rolle auf der Weltbühne - nicht aber unsere Sprache. Deutsche Diplomaten und Politiker geben sich beispielsweise stets die größte Mühe, durch polyglotte Höflichkeit Punkte zu sammeln, während ihre französischen Kollegen mit echten Schwierigkeiten für die Karriere rechnen müssen, wenn sie ich öffentlich in einer anderen Sprache als französisch äußern.
Allerdings sind die Franzosen mit ihrer legendären Sprachbesessenheit vielleicht ein Sonderfall: In Frankreich werden ja sogar die Bürgerrechte gleichsam linguistisch definiert: dort gilt man als umso besserer Franzose, je besser man französisch spricht. Die Angelsachsen mit der Tradition eines erdumspannenden Imperiums sind zwar in Sprachdingen weniger pingelig, sie schildern sogar ganze Straßenzüge im Londoner East End auf Urdu aus, damit sich die vielen pakistanischen Zuwanderer besser zurechtfinden, aber von der Höhe einer ohnehin alles beherrschenden Weltsprache herab, fällt solche Großzügigkeit natürlich leichter.
Dagegen haben wir es in Deutschland wieder einmal mit absurden Widersprüchlichkeiten zu tun. Einerseits ist davon die Rede, dass unsere Sprache und ihr internationaler Gebrauch verstärkt gefördert werden sollen, andererseits hat man eine der Grundlagen dieser Sprache, nämlich die Rechtschreibung, kürzlich von Amts wegen zersprengt. Einerseits pflegt jeder deutsche Feuilletonist über die rigorosen Sprachpflege-Bemühungen der Académie Française zu spötteln, andererseits rauft man sich wegen der zunehmenden Sprachverhunzung in Presse, Funk und Fernsehen, auf Plakaten, Schildern und Beipackzetteln hierzulande die Haare.
Was Deutschland mit Frankreich und England indessen gemein hat, ist die Tatsache, dass es eine sprachliche Führungsrolle spielt. So wie die in Paris ablaufenden idiomatischen Entwicklungen ihre Wirkungen bis nach Afrika und Kanada entfalten, so steht es auch außer Zweifel, dass sich die anderen deutschsprachigen Nationen trotz aller Eigenheiten an den bei uns stattfindenden sprachschöpferischen Prozess anlehnen. Schon deshalb gehört es zur Verantwortung einer großen Nation, ihre Sprache zu pflegen, und das bedeutet: sie zu benutzen, zu verbreiten und für sie zu werben.
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