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National Hockey League
Ende der glorifizierten Brutalität?

Seit Jahren kursiert unter Sportmedizinern die Behauptung, dass der kausale Zusammenhang zwischen Kopfverletzungen und schweren Langzeitschäden bei Sportlern nicht bewiesen ist. Ein Mediziner aus Boston würde dieser Erzählung gerne ein Ende bereiten – in einem sich zäh dahinziehenden Rechtsstreit ehemaliger Spieler gegen die National Hockey League.

Von Jürgen Kalwa | 31.03.2018
    Charles Hudon von den Montreal Canadiens und Tampa Bay Lightning-Spieler Jake Dotchin bei einem Zusammenstoß auf dem Eis.
    Charles Hudon von den Montreal Canadiens und Tampa Bay Lightning-Spieler Jake Dotchin bei einem Zusammenstoß auf dem Eis. (imago)
    "Saturday night’s alright for fighting."
    Es ist nicht schwierig, sich an den hässlichsten Facetten des nordamerikanischen Profi-Eishockeys zu ergötzen. Jeden Monat schneidet ein junger Computertechniker in einem Vorort von Philadelphia in seiner Freizeit die heftigsten Faustkämpfe zusammen und lädt sie auf YouTube hoch:
    "…knocks Martin’s head off."
    Da kann man sie sehen: Dokumente der Lust an Brutalität, die im Spiel die Mannschaften aufheizt, die Zuschauer und die Fernsehkommentatoren.
    Ein beliebiges Beispiel aus dem letzten Jahr: "Play-by-Play" wie bei einem Boxkampf. Über die Folgen reflektiert an solchen Abenden niemand. Der Schlagabtausch – oft zwischen regelrechten Spezialisten, den sogenannten Goons – gehörte schließlich schon immer zum Spiel, heißt es. Die Schiedsrichter greifen denn auch solange nicht ein, wie keiner der Kontrahenten Richtung Eisfläche sinkt.
    Vielleicht ist mit solchen Szenen aber bald Schluss. Zumindest wenn eine Zivilklage gegen die National Hockey League zum Erfolg führt, die sich seit 2014 langsam durch das Labyrinth des amerikanischen Rechtswesens schleppt. Stuart Davidson, einer der Spezialanwälte für Schadenersatzrecht, vertritt dabei zahllose Ex-Profis.
    "Wir werfen der Liga vor, dass sie diese Faustkämpfe popularisiert und glorifiziert. Dabei kennt die Wissenschaft und die Medizin die Risiken seit dem frühen 20. Jahrhundert. Die NHL hat nicht das Geringste getan, um die Gehirne der Spieler zu schützen. Rein gar nichts."
    Die Eishockey-Liga wehrt sich gegen solche Vorwürfe. Sagt, sie kümmere sich sehr wohl um das Wohl der Spieler. Und sie bestreitet vor allem – allen voran: Geschäftsführer Gary Bettman – dass es überhaupt wissenschaftlich fundierte Beweise dafür gibt: für den Zusammenhang zwischen der Prügelkultur und den Folgeschäden. Bettman fühlt sich von einem zentralen Punkt in einem ähnlichen Rechtsstreit zwischen der National Football League und ehemaligen Profis bestätigt.
    "Es gibt keine Belege für einen kausalen Zusammenhang"
    "Die Richterin, die dem Vergleich im NFL-Prozess zugestimmt hat, sagte in ihrer Begründung genau das, was ich gesagt habe: Es gibt keine Belege für einen kausalen Zusammenhang."
    Kein kausaler Zusammenhang zwischen der nackten körperlichen Gewalt – ob mit der Faust, dem Ellenbogen oder beim Check von hinten an die Bande und der Gesundheit der Spieler? Die NFL verzichtete lieber auf eine harte Linie und bot im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung den betroffenen Spielern Schadenersatzleistungen von insgesamt rund einer Milliarde Dollar an. Die NHL gibt sich knickrig. Sie will keinen Cent bezahlen.
    Und das obwohl ihre Position angesichts zunehmender wissenschaftlicher Belege immer mehr ins Wanken kommt. Professor Lee Goldstein von der Boston University lieferte im Januar die bisher gründlichste Studie ab. In der konnte er am Tierversuch durchaus einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nachweisen. Etwas, was man mit Menschen als Versuchskaninchen nicht machen kann.
    "Im Labor können wir unter extrem kontrollierten Bedingungen ermitteln, ob A die Ursache für B ist. Und können das mit großem Selbstvertrauen feststellen, weil unsere Ergebnisse nach den Gesetzen der Physik entstehen. Dem kann man gar nicht widersprechen. Und es ist es egal, ob wir über Eishockey, Football oder jemanden reden, der als Soldat die Erschütterungswellen einer Bombenexplosion abbekommen hat. Die Gesetze der Physik gelten nun mal immer."
    Problem sind nicht die Gehirnerschütterungen
    Schläge gegen den Kopf – in diesem Fall den Kopf von Mäusen – sind demnach eindeutig für die diagnostizierten Langzeitschäden verantwortlich, sagt Professor Goldstein. Das Problem sind allerdings nicht die Gehirnerschütterungen. Die seien nämlich nur ein Symptombild, kein Auslöser von Spätschäden. Weshalb die schwere Langzeiterkrankung "Chronisch traumatische Encephalopathie" oder CTE, die mit Depression und Demenz einhergeht, auch an toten Athleten festgestellt wurde, die in ihrer Karriere keine Gehirnerschütterung erlitten hatten.
    Solche und andere Erkenntnisse würden die Anwälte der NHL nach Möglichkeit gar nicht erst als Sachverständigenmeinung im Verfahren zulassen. Also mauern sie mit Anträgen und haben so den Rechtsstreit auf ein Schneckentempo heruntergefahren. Noch immer ist nicht klar, in welcher Form und ob irgendwann zwölf Geschworene über die Verantwortung der Liga für die Gesundheit der Spieler entscheiden werden.
    Dennoch sind Gehirnerschütterungen übrigens durchaus als Gradmesser geeignet, um zumindest eine Korrelation – also einen statistisch relevanten Zusammenhang – zwischen auf dem Eis erlittenen Verletzungen und späteren Folgen zu belegen. Erst Anfang des Monats erschien im "Journal of Neurotrauma" eine Untersuchung, die sich mit den Spielern aus der jüngsten Vergangenheit beschäftigte, deren Gehirnerschütterungen von der Liga in einem sogenannten Protokoll ausdrücklich registriert wurden. Nach der Rückkehr spielten diese Eishockeyprofis im Schnitt nur noch etwas mehr als zwei Jahre. Wer weitermachen konnte, erlebte eine finanzielle Einbuße beim darauffolgenden Vertragsabschluss von mehreren 100.000 Dollar pro Saison.
    Mit anderen Worten: Erst leidet die Gesundheit, dann die Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg.