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Nationales versus übernationales Recht

Angefeuert von der Boulevardpresse haben viele Briten die Nase voll vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Grund für Großbritanniens Regierung, die Reform des Gerichts zu fordern. Das soll heute auf einer Europaratskonferenz in Brighton in Angriff genommen werden.

Von Jochen Spengler |
    Nach zehnjährigem Bemühen der Briten, lautete das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs im Januar: Es sei nicht rechtens, Abu Qatada, einen jordanischen Hassprediger mit El-Kaida-Verbindung in sein Heimatland zu deportieren. Dort drohe ihm ein unfairer Prozess.

    Konservative Politiker schäumten vor Wut und forderten, Straßburg einfach den Stinkefinger zu zeigen. Der Abgeordnete Peter Bone

    "Abermillionen werden ausgegeben, um diesen Kerl zu überwachen, über den die britische Justiz urteilte, er sollte ausgewiesen werden, über den die Innenministerin und der Premierminister sagen, er sollte nicht in unserem Land sein; also lasst ihn uns in ein Flugzeug setzen, viel Geld der Steuerzahler sparen und uns um die rechtlichen Folgen später sorgen."

    Nein, so geht es nicht, erwiderte Innenministerin Theresa May vorgestern: Man sei schließlich an Recht und Gesetz gebunden und müsse sich als Mitglied und Initiator von Europarat und Europäischer Menschenrechtskonvention an die Regeln halten. Sie habe aber frohe Kunde:

    "Ich kann dem Parlament mitteilen, dass heute Beamte des Grenzschutzes Abu Qatada verhaftet und eingesperrt haben und ihn informiert haben, dass wir seine Ausweisung erneut betreiben."

    Allerdings dürften nach der erneuten Beschwerde seiner Anwälte in Straßburg weitere Jahre vergehen, bis Abu Qatada in Amman der Prozess gemacht werden kann.

    Lange Verfahren und missliebige Urteile verhindern – mit diesem Ziel war Premierminister David Cameron im Januar als turnusmäßiger Vorsitzender des Ministerkomitees im Europarat vor dessen parlamentarische Versammlung getreten und hatte die Reform des Menschenrechtsgerichtshofes gefordert. Der solle sich nicht länger in die nationale Rechtsprechung einmischen, und vor allem effizienter werden, um die schätzungsweise 150.000 anhängigen Verfahren abzuarbeiten.

    "Der Gerichtshof muss sich mit den schlimmsten Menschenrechtsverletzungen befassen. Er sollte nicht überschwemmt werden von einem endlosen Rückstau von Fällen. Er sollte sicherstellen, dass das Recht auf individuelle Klagen gilt, aber nicht sein eigenes Ansehen untergraben, indem er nationale Gerichtsentscheidungen kassiert, wenn er es nicht muss."

    Was so einleuchtend klang, rief sofort Misstrauen hervor. Menschenrechtsgruppen und viele der 46 anderen Europaratsstaaten vermuteten, es ginge Cameron nicht um Effizienz in Wahrheit um eine Schwächung des Gerichtshofs – nicht zuletzt mit Blick auf die innerbritische Debatte.

    Die sei doch von der Boulevardpresse inszeniert, kritisierte der Präsident des Gerichts, Sir Nicolas Bratza, selbst Brite. Die Presse arbeite schamlos mit falschen Zahlen, legte Bratza vor einem Londoner Parlamentsausschuss nach. Etwa, wenn sie behaupte, in drei von vier vorgelegten britischen Fällen habe Straßburg einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention erkannt.

    "Dies ist meiner Ansicht nach eine grobe Verfälschung, die dazu diente, das Ansehen unseres Gerichts herabzusetzen. Auf Großbritannien bezogen hat es im Jahr 2010 nur in 23 von 1200 Fällen überhaupt zum Urteil gereicht. Das sind noch nicht mal zwei Prozent und davon wurde nur die Hälfte als Menschenrechtsverstoß gewertet."
    Er plädierte dafür, erst einmal jene Reformen greifen zu lassen, die nach jahrelanger Blockade durch Russland erst vor zwei Jahren eingeleitet wurden. Mit ihnen soll der Rückstau aufgelöst und die durchschnittliche Verfahrensdauer von fünf Jahren deutlich gesenkt werden.

    Der Regierung ihrer Majestät reichte dies jedoch nicht. Mit einem Bündel von Vorschlägen wollte sie die Zuständigkeit des Menschenrechtsgerichtshofs einschränken. Etwa dadurch, dass Fälle, die bereits von Nationalen Gerichten entschieden wurden, nur noch im Ausnahmefall vor die europäischen Richtern gelangen können. Außerdem soll das Recht auf eine Individualklage in Straßburg dann erlöschen, sobald ein nationales Gericht den Rat des Menschenrechtsgerichtshofs eingeholt hat. Und auch die Frist für das Einreichen einer Beschwerde wollen die Briten von sechs auf zwei bis vier Monate verkürzen.

    Doch schon vor der heutigen Konferenz von Brighton sind die Vorschläge vom Tisch. Auch wegen des Widerstands der Bundesregierung, für die vor allem das individuelle Klagerecht der 800 Millionen Bürger der Europaratsstaaten unverzichtbar war; mehr als ein Viertel aller Menschenrechtsbeschwerden kommt derzeit von russischen Bürgern.

    Und so ist die Luft aus der Konferenz schon raus, ehe sie überhaupt begonnen hat. Es bleibt im Wesentlichen alles beim Alten und die Bedeutung und letzte Autorität des Gerichtshofs in Menschenrechtsfragen wird unterstrichen.

    Die Konservativen auf der Insel werden nicht amüsiert sein und der britische Menschenrechtsanwalt Alex Bailin schreibt ihnen ins Stammbuch:

    "Am Ende ist die Einhaltung der Urteile des Gerichtshofs die Bedingung für die Mitgliedschaft im Europarat. Wenn wir das nicht mögen, fürchte ich, gibt es nur eine Möglichkeit: auszutreten."