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Nationalinteresse gegen unversehrtes Leben

An der Südspitze Indiens geht in Kürze ein neues Atomkraftwerk ans Netz. Es soll den wachsenden Energiehunger des Schwellenlandes stillen. Die Bevölkerung leistet erbitterten Widerstand gegen das Vorhaben.

Von Sandra Petersmann | 20.07.2013
    Indische Fischer protestieren vor dem Atomkraftwerk in Koodankulam.
    Indische Fischer protestieren vor dem Atomkraftwerk in Koodankulam. (picture alliance / dpa / EPA)
    "Wenn es gut läuft wie heute, verdienen wir zusammen zwischen 2000 und 3500 Rupien am Tag. Im Schnitt sind das rund 30 Euro,"

    erzählen Xavier und seine Freunde. Die vier jungen Fischer aus Kanyakumari am südlichsten Zipfel Indiens waren die ganze Nacht draußen. Sie sind mit ihrem Fang zufrieden, doch sie machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Die Männer fühlen sich vom Atomkraftwerk im benachbarten Koodankulam bedroht.

    "Koodankulam, das ist ein Riesenproblem für uns. Das Kraftwerk wird die Fische in Küstennähe vertreiben, wenn die Anlage ihren Abfall ins Meer ablässt. Dann müssen wir viel weiter raus fahren, um was zu fangen, aber dafür sind unsere Boote zu klein."

    Der Fang der vergangenen Nacht geht direkt vom Boot auf den Markt. Dort sind auch die Fischerfrauen überzeugt davon, dass das neue Atomkraftwerk russischer Bauart ihr Meer und ihre Fische verseuchen wird.

    "Wir wollen Koodankulam nicht. Wir leben von der Fischerei. Ohne Fische können wir nicht überleben. Unsere Kinder werden leiden, wir werden hier keine Zukunft haben."

    Vor allem die Fischerfamilien zwischen Kanyakumari und Koodankulam leisten Widerstand gegen die Atomanlage. Sie bilden Menschenketten im Meer, halten Mahnwachen, leisten zivilen Ungehorsam. Ihr Anführer Udayakumar gilt als nationaler Verräter.

    Polizei und Geheimdienst verhindern ein direktes Gespräch. Die Staatsmacht hat gegen viele Hundert demonstrierende Fischer Ermittlungsverfahren eingeleitet und riegelt ihre Dörfer bei Bedarf ab. Das Interview mit dem studierten Politikwissenschaftler Udayakumar, der lange in den USA gelebt hat, muss über das Internet stattfinden – per Skype-Anruf.

    "Diese armen Menschen, die nicht lesen und schreiben können, sind auch Inder. Echte, wahre Inder. Es ist mir egal, ob man mich für einen Landesverräter hält. Ich möchte meine Stimme für diese armen Inder erheben und für sie einstehen."

    Der Aktivist Udayakumar kämpft für ein Indien ohne Atomkraft. Seiner Meinung nach sollte Indien vor allem auf Solarenergie und Windkraft setzen und die Stromversorgung dezentralisieren.

    "Es ist richtig, wir haben ein Energieproblem. Und es ist ein Problem, dass Indien immer mehr klimafeindliches Kohlendioxid ausstößt. Aber die Antwort kann doch nicht sein, die Erde zu vergiften. Warum reden wir nicht über den Atommüll, der uns viele zehntausend Jahre beschäftigen wird? Wer wird uns vor dem Müll beschützen? Die USA und Deutschland finden keine Antwort auf die Frage der Endlagerung, wie soll Indien das dann schaffen?"

    Die Fischer und ihr Anführer haben den Start von Koodankulam mit ihrem Protest lange verzögert. Doch der Oberste Gerichtshof Indiens hat am 6. Mai den Weg für den Betrieb des Kernkraftwerks freigemacht. Die Richter haben argumentiert, dass die Energieproduktion ein höheres nationales Gut ist als die Sicherheitsbedenken der lokalen Bevölkerung. Die indische Regierung fühlt sich durch das Grundsatzurteil bestätigt. Narayanaswamy ist Staatsminister im Büro vom Premierminister Manmohan Singh.

    "”Es gibt eine gezielte Kampagne gegen unsere Atomkraftwerke. Die Agitation geschieht aus dem blanken Eigeninteresse der Anstifter - darunter Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen. Die wollen uns von der friedlichen Nutzung der Kernenergie abhalten.""

    Indien leidet unter chronischem Energiemangel. Stundenlange Stromausfälle gehören zum Alltag. Noch stammt über die Hälfte der produzierten Energie aus Kohlekraftwerken. Doch das soll sich ändern. Rahul Gandhi, der große Hoffnungsträger der regierenden Kongresspartei, bezeichnet die Atomkraft als "Kraftstoff der Zukunft".

    "Der richtige Weg führt über die Vielseitigkeit. Wir brauchen einen ausgewogenen Energiemix, der auch die Nuklearenergie beinhaltet. Die Fakten sprechen für sich. In den nächsten 30, 40 Jahren werden vor allem zwei Länder auf die weltweit produzierte Energie zurückgreifen. Diese beiden Länder sind Indien und China. Wir entscheiden darüber, wie sich die globale Energieversorgung bewegt."

    Bis 2050 will Indien ein Viertel seines Energiebedarfs über die Atomkraft abdecken. Dutzende neue Reaktoren sind in Planung oder im Bau. Ein nationaler Aufschrei gegen das ehrgeizige Nuklearprogramm ist bis jetzt ausgeblieben.

    Auch auf dem Fischmarkt in Kanyakumari, in direkter Nachbarschaft zu Koodankulam, finden sich viele, die das neue Kernkraftwerk für eine gute Idee halten. Der Rentner Somayah arbeitet als Touristenführer.

    "Koodankulam ist ein absolutes Muss bei unserem Energiemangel. Das Leben ist doch immer in Gefahr. Durch Kriege, durch wilde Tiere, oder wenn ich im Zug oder im Auto sitze. Unfälle passieren eben. Aber Koodankulam wird für neue Energie sorgen. Energie ist unverzichtbar für menschliches Leben. Energie ist genauso unverzichtbar wie Wasser und Milch. Auch die Ärmsten brauchen Energie, um sich zu entwickeln."

    Viele Hundert Millionen Inder leben in Armut. Sie sehnen sich nach Entwicklung und nach Energie – nach einem komfortablen Leben, wie es die konsumfreudige indische Mittelklasse führt. Nukleare Sicherheit oder die Frage eines atomaren Endlagers spielen in der nationalen Energiedebatte nur eine Nebenrolle.