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Nationalsozialismus
Der Dämon in uns selbst

Von Golgatha nach Auschwitz: Der Universalgelehrte Erwin Reisner deutete in seinem Buch "Die Juden und das deutsche Reich" den Nationalsozialismus als antichristliche Travestie. Das Buch erschien vor 50 Jahren, wurde vergessen – und passt in aktuelle Abendlanddiskussionen.

Von Carsten Prien | 09.06.2016
    Ein Auschnitt aus der Kirchenpforte der Kolbe-Kirche in Auschwitz, aufgenommenn am 12.12.2014. Das katholische Gotteshaus wurde in den 80er Jahren in einem Neubaugebiet errichtet und ist dem in Auschwitz ermordeten Franziskaner-Mönch, gewidmet.
    Das Leiden und Sterben der Juden in Auschwitz erscheint in dieser Sichtweise, wie das auf Golgatha, als ein stellvertretendes. (dpa-Zentralbild/ Frank Schumann)
    "Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoah, sollte im letzten auch die Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaube beruht." So Papst Benedikt XVI. in einer Ansprache während seines Besuches der Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau 2006. 1979 bereits nannte Johannes Paul II. am gleichen Ort Auschwitz das "Golgatha der Moderne".
    Eine tiefergehende Theologie dieses Leitgedankens findet sich jedoch in einem lange vergessenen Buch. "Die Juden und das deutsche Reich", so sein Titel, erschien 1966 nur wenige Tage vor dem Tod seines Verfassers Erwin Reisner.
    Geboren wird Reisner am 19. März 1890 in Wien. Als seine Eltern sich scheiden lassen, wird er in Internaten und Klöstern untergebracht. Schließlich schlägt er eine Offizierslaufbahn ein.Während des Stellungskrieges 1915 hat Reisner dann ein "philosophisch ekstatisches Erlebnis": "Die Welt ist so, wie sie ist, weil ich so bin, wie ich bin."
    Diese radikale Form der Selbstkritik ist fortan die Methode seines Denkens. Der Frankfurter Psychologe Peter Orban hat Reisners Werke Anfang der 1980er Jahre wiederentdeckt und neu herausgegeben: "Das ganze Leben von Reisner spielte um einen eigenartigen Topos, nämlich den Topos des Dämons. Aber nicht, wie das alle Jahrhunderte philosophisch üblich war, der ausgestreckte Zeigefinger in Richtung auf den Dämon, sondern Reisner behauptete fast in allen seinen Werken sogar im Frühwerk in dem Gedichtband es ist im Grunde genommen das, was das Schwere ist, ist der Dämon in uns selbst."
    In den ersten Nachkriegsjahren verdient Reisner den Lebensunterhalt für seine kleine Familie als Theaterkritiker, Zeitungsredakteur, Kulturreferent, Bibliothekar und Essayist. 1924 macht seine Frau eine größere Erbschaft. Und Reisner nutzt die neue Situation für ein intensives philosophisches Studium. In diese Zeit fällt auch seine Hinwendung zur Theologie. 1932 legt Reisner sein Buch "Kennen, Erkennen, Anerkennen" zur Dissertation vor. Der Privatgelehrte wird damit zum Dr. phil. promoviert, ohne je eine Hochschule besucht zu haben. Peter Orban:"Dieser Mann konnte nirgends eingeordnet werden. Das heißt also, er war weder Philosoph - oder anders gesagt die Philosophen hielten ihn für einen Theologen, er war kein Theologe, die Theologen hielten ihn für einen Philosophen. Er war kein Katholik, er war nämlich konvertiert, und war Evangeliker, aber die Evangelischen wollten ihn auch nicht so richtig haben. Er saß überall zwischen den Stühlen."
    1935 werden Reisners aus Siebenbürgen ausgewiesen und übersiedeln von Wien nach Berlin. Reisners Frau verliert ihr Vermögen. Unter der Nazidiktatur engagiert sich Reisner in der "Bekennenden Kirche". Er arbeitet im Büro des Pastor Heinrich Grüber, der rassisch Verfolgten zur Ausreise verhilft. Unermüdlich aber attackiert Reisner in Rede und Schrift den Antisemitismus des regimetreuen "Deutschen Christen".
    Noch 1934 hofft Reisner, die Rückbesinnung auf die ursprünglich christliche Reichsidee könne die Dämonie des Nationalsozialismus bannen. Unter dem Eindruck des Holocaust, verwirft Reisner diese Hoffnung als Schwärmerei. Schon mit der karolingischen Reichsidee sieht Reisner nun, der echten jüdischen Erwähltheit eine falsche deutsche Selbsterwählung verhängnisvoll gegenübertreten.
    Die Reichsidee proklamiere von Anfang an Unmögliches: Die Einheit von "civitas dei" und "civitas terrena", von göttlichem und weltlichem Reich.
    "Das Reich will kein zeitlich ausgerichtetes Herrschaftsgebilde sein und muss das gegen seinen eigenen Willen dennoch werden […] Die Idee des Reiches ist ab ovo mit sich uneins."
    Dieser Schizophrenie im deutschen Selbstbewusstsein folgt Reisner durch die Geschichte. Mit der Auflösung des "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" und dem Beginn der Nationalstaatsbildung schlägt die Säkularisierung der Reichsidee in eine politische Ersatzreligion um. Das Deutschsein selbst, anstatt dessen christliche Sendung, wird zum Höchsten erhoben. Der Nationalsozialismus ist für Reisner eine antichristliche Travestie des Reiches. Christliche Eschatologie verkehre sich in die innergeschichtliche Heilserwartung eines tausendjährigen Reiches. Christlicher Universalismus in nationalen Götzendienst.
    Reisner paraphrasiert den bekannten Ausspruch Hitlers, wonach das Gewissen eine "jüdische Erfindung" sei mit den Worten: "Im Augenblick, da der Deutsche gegen sein eigenes überdeutsches Gewissen handelt, richtet sich auch schon sein Abwehrwille mit besonderer Schärfe gegen den Juden."
    Denn was das deutsche "Reichsvolk" mit den Juden ebenso verbindet wie trennt ist letztlich Christus. In ihrer nationalistischen Selbsterhöhung mussten sich die Deutschen von ihrem christlichen Gewissen existenziell bedroht fühlen.
    Wie für die Psychoanalyse, ist auch für Reisner der Antisemitismus ein Projektionsphänomen. Reisner berücksichtigt allerdings die Besonderheit der deutschen Geschichte und kommt daher zu dem Schluss,...
    "... dass der tiefste Grund des Antisemitismus eben doch der Christusmord ist".
    Doch gerade nicht im Sinne des konfessionellen Antisemitismus, der die Juden kollektiv als "Christusmörder" brandmarkte und verfolgte. Reisner erinnert dem entgegen daran, dass nach christlichem Glauben, die Sünde jedes Einzelnen Schuld ist am Kreuzestode Christi auf Golgatha. Erst die Leugnung der eigenen Schuld führt zur projektiven Verfolgung der Juden als "Christusmörder".
    "Wie wir uns zum Judentum verhalten, so verhalten wir uns auch zu unserem sündigen Selbst, zu unserer Mitschuld am Tode Christi […] Der antisemitische Christ ist eine contradictio in adiecto!"
    Mit seiner Säkularisierung wird der Antisemitismus eliminatorisch. Der Mord der Deutschen am jüdischen Volk sei, so Reisner, zugleich ein symbolischer Mord an Christus.
    "So sind gerade die alles Religiöse radikal verwerfenden Rassenantisemiten die Christusmörder."
    Das Leiden und Sterben der Juden in Auschwitz erscheint in dieser Sichtweise als ein stellvertretendes. Peter Orban:"Wenn ich ein bisschen offen bin in der Lektüre dieses Buches oder seiner Bücher, dann zeigt mir Reisner nicht, was ich wissen will oder schon weiß. Er zeigt mir, was ich auch bin, und auf den ersten Blick ist das etwas sehr Schweres. Aber auf den zweiten Blick macht es mein Leben leichter. Und reicher."
    Die Verdrängung der deutschen Schuld nach '45 holte bald auch den Mahner an deren religiöse Hintergründe ein. Reisner und seine Botschaft wurden jahrzehntelang vergessen.