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Nationalstaaten bürgen für ein Niveau an Gerechtigkeit und Freiheit

Die Finanzkrise in Europa, der schwächelnde Euro, die Macht der Märkte - alles sind gute Gründe dafür, warum sich Jürgen Habermas um Europa sorgt. Er sieht gar eine Ära der Postdemokratie auf uns zukommen.

Von Conrad Lay | 28.11.2011
    Als Konsequenz aus der europäischen Schuldenkrise fordert Bundeskanzlerin Merkel den "Durchbruch zu einem neuen Europa" und ein Denken in Maßstäben einer "europäischen Innenpolitik". EU-Kommisionspräsident Barroso setzt auf eine "Vertiefung der Integration, auch in Form einer möglichen Änderung der EU-Verträge". Eine gespaltene Union mit einem integrierten Kern und einem abgekoppelten Rand werde nicht funktionieren, so Barroso. In diese Situation platziert der Sozialphilosophen Jürgen Habermas sein neues Buch "Zur Verfassung Europas". Ein Buch, das Strategien aufzeigt, wie sich die Europäische Union langfristig entwickeln könnte. Um Habermas in seinen Gedanken zu folgen, mag es am besten sein, das Buch in umgekehrter Reihenfolge zu lesen, also zuerst den tagespolitischen Anhang und dann die beiden theoretischen Essays über die "Konstitutionalisierung des Völkerrechts" und über die Menschenrechte. Den Grundfehler der europäischen Konstruktion sieht Habermas darin, dass jedes Land mit eigenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen regiert und es an den "erforderlichen politischen Steuerungskompetenzen" fehlt. Er schreibt:

    Die inzwischen zur Staatenkrise ausgeweitete Finanzkrise erinnert an den Geburtsfehler einer unvollendeten, auf halbem Wege stecken gebliebenen Politischen Union.

    Das Ziel einer politischen Union sei nicht deshalb erschöpft, weil das ursprüngliche Motiv, Kriege in Europa unmöglich zu machen, erreicht sei. Vielmehr versteht Habermas die Europäische Union als einen Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft. Dieses Ziel dürfe durch die ökonomische Verengung der Diskussion nicht aus dem Blick geraten. Zwar gebe es ein "Ungleichgewicht zwischen den Imperativen der Märkte und der Regulationskraft der Politik", doch diesem dürfe nicht durch eine einseitige Stärkung der Exekutive begegnet werden. Habermas setzt sich zwar für eine europäische Wirtschaftsregierung ein, fügt aber sofort hinzu:

    Eine wirksame Koordinierung der Wirtschaftspolitik muss eine Verstärkung der Kompetenzen des Straßburger Parlaments nach sich ziehen.

    Genau auf dieser Ebene bewegt sich auch der theoretisch angelegte und deshalb relativ abstrakte Essay zur "Konstitutionalisierung des Völkerrechts". Die Europäische Union ist, so Habermas, durch den Lissabonner Vertrag und die anderen europäischen Verträge verfassungsrechtlich zu einer "Politischen Union von unbestimmter Dauer" geworden.

    Mit der Einführung der Unionsbürgerschaft, mit dem ausdrücklichen Verweis auf ein europäisches Gemeinwohlinteresse und mit der Anerkennung der Union als eigener Rechtspersönlichkeit sind die (europäischen) Verträge zur Grundlage eines politisch verfassten Gemeinwesens geworden.

    Die Bürger Europas seien sowohl Bürger der Europäischen Union als auch Bürger ihres jeweiligen Nationalstaates, also sowohl Unionsbürger als auch Staatsbürger. Diese Doppelexistenz entspreche dem Charakter Europas: weder Bundesstaat noch Staatenbund, sondern ein Drittes - das doppelte Mitgliedschaften einschließe, ja notwendig mache. Die Nationalstaaten übten seiner Ansicht nach weiterhin die wichtige Rolle der "Garanten von Recht und Freiheit" aus:

    Die Nationalstaaten sind mehr als nur die Verkörperung bewahrenswerter nationaler Kulturen; sie bürgen für ein Niveau an Gerechtigkeit und Freiheit, das die Bürger zu Recht erhalten sehen wollen.

    Die politische Schlussfolgerung daraus lautet: auf allen Politikfeldern sollte es ein Gleichgewicht der Kompetenzen zwischen Europäischem Rat und Parlament geben, zwischen nationaler und europäischer Ebene sowie zwischen Exekutive und Legislative. Aus diesem Grunde setzt sich Habermas für eine Aufwertung des Europäischen Parlaments in Straßburg ein.
    Angesichts der aktuellen Risiken kollabierender Staaten sieht der Sozialphilosoph allerdings die Exekutive stark überbetont: offenbar gehe es nur darum, dass die nationalen Regierungschefs, allen voran Merkel und Sarkozy, "in ihren nationalen Parlamenten unter Strafandrohung Mehrheiten organisieren". Schon sieht Habermas das Zeitalter der Postdemokratie heraufziehen:

    Diese Art von Exekutivföderalismus eines sich selbst ermächtigenden Europäischen Rates der Siebzehn wäre das Muster einer postdemokratischen Herrschaftsausübung.

    Und weiter schreibt er:

    In diesen Vorstellungen eines 'Exekutivföderalismus spiegelt sich die Scheu der politischen Eliten, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umzupolen.

    Die "Schreckstarre", die auf die Ankündigung eines Referendums in Griechenland folgte, ist ein beredtes Zeichen dafür, wie wenig die maßgeblichen Akteure bisher auf die öffentliche Meinungsbildung zählen. Andererseits, wenn man die europäische Öffentlichkeit endlich einbezöge, würde man feststellen, dass es diese nicht gibt, - jedenfalls nicht diese eine Öffentlichkeit, sondern allenfalls spezifische nationale Öffentlichkeiten. Denn gerade Habermas weiß, wie elementar und konstitutiv eine solche europäische Öffentlichkeit wäre, um Interessenkonflikte auszutragen. Schließlich war er es, der schon vor einem halben Jahrhundert in seinem Soziologieklassiker "Strukturwandel der Öffentlichkeit" seine Demokratietheorie auf die Bedeutung der öffentlichen Austragung von Konflikten gründete. Doch diese europäische Öffentlichkeit, das gilt es gegenüber Habermas kritisch festzuhalten, ist alles andere als einfach herzustellen. Der Sozialphilosoph unterschätzt meiner Meinung nach das Problem, wenn er schreibt:

    Mit einem territorialen Größenwachstum allein ändert sich Komplexität, aber nicht notwendigerweise die Qualität des Meinungs- und Willensbildungsprozesses.

    Das kann man bezweifeln. Denn die europäische Öffentlichkeit ist von unterschiedlichen Kulturen geprägt, die nun auf europäischer Ebene zusammenkommen sollen. Man mag nur einmal einen Blick in eine englische, französische, italienische und griechische Zeitung werfen und wird nur mit Mühe feststellen, dass im Grunde über dieselbe Sache, nämlich die europäische, geredet wird. Von einer "gegenseitigen Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander", wie sie Habermas einfordert, ist Europa jedenfalls noch weit entfernt. Doch solange dies so ist, bleibt seine Rede allzu optimistisch. Habermas zielt auf eine "europaweite Bürgersolidarität" ab, die auch die Einheitlichkeit der sozialen Lebenslagen einschließt, wie wir dies vom Grundgesetz her kennen. Die "Einheitlichkeit" soll sich auf die "Variationsbreite sozialer Lebenslagen" beziehen, nicht jedoch auf die Einebnung kultureller Unterschiede. Doch gerade wenn man dieses weitergehende Ziel einer sozialen Unterfütterung teilt, muss man wissen, dass Brüssel damit weit in die bisherigen Kompetenzen der nationalen Parlamente eingreifen würde. Die Proteste dagegen kann man sich leicht ausmalen. Unabdingbare Voraussetzung ist deshalb eine funktionierende europäische Öffentlichkeit, die diese Konflikte auf demokratische Weise austrägt. Den Habermasschen Appell nach mehr Integration sollte man als Aufforderung verstehen, sich offensiv auf den öffentlichen Marktplätzen für die europäische Einigung einzusetzen. Habermas legt einen überzeugenden Vorschlag vor, wie eine vertiefte europäische Integration auf demokratische Füße gestellt werden könnte.

    Jürgen Habermas:
    Zur Verfassung Europas - Ein Essay. Suhrkamp-Verlag, 140 Seiten, 14,00 Euro,
    ISBN: 978-3-518-06214-2