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Nationaltheater Mannheim
Box- und Schlageinlagen mit Sexszenen

Bei der Uraufführung des Stücks "Hurenkinder Schusterjungen" von Marianna Salzmann darf der notgeile Besitzer der untervermieteten Bruchbude einen Kunst-Phallus offen tragen - bis die Zugkellnerin ihm dieses Aushängeschild bluttriefend abbeißt.

Von Cornelie Ueding | 06.01.2014
    Eine Dreiecksgeschichte. Die Spielfläche im Mannheimer Studio ist auch ein Dreieck, ein zunächst nur an zwei Seiten vergitterter Drahtverhau. Auf der Trennlinie zwischen diesem Bühnenraum und dem Zuschauerpodest hat man sich eine Eisenbahnstrecke vorzustellen. Zur Veranschaulichung ihrer Arbeit rennt Ali, sie ist Zugkellnerin, ein paarmal stampfend und keuchend auf diesem "Schienenstrang" hin und her, die Maxikaffeekanne im Arm.
    Die einzige des Trios, die arbeitet. Am Anfang jedenfalls noch. Die beiden Männer, der prollig machohafte Zimmervermieter und der etwas verklemmte, in sich vergrabene Fotograf, projizieren jede Menge Wünsche auf sie, was neben ein paar Ring-, Box- und Schlageinlagen immer wieder zu rumpelnden Sexszenen führt. Zum besseren Verständnis, worum es da geht, darf der notgeile Besitzer der untervermieteten Bruchbude einen länglich baumelnden Kunst-Phallus öfter mal offen tragen – bis sie ihm dieses Aushängeschild bluttriefend abbeißt.
    Marianna Salzmanns Text ist auch so etwas wie ein Drahtverhau: aus Worten, zusammengemixt aus gängigen Worthülsen eines rüpeligen Jugend- und Frustjargons mit sentimentalen Einsprengseln. Nur eines ist zweifelsfrei klar: Alle reden, abwechselnd flüsternd und brüllend, aneinander vorbei, keiner kann und will den anderen verstehen. Unter dem verbalen Zynismus einer Brutalitäts-Hilflosigkeits-Allüre lauern peinliche Larmoyanz und Wehleidigkeit. Man schlurft, fickt, prügelt sich lustlos durch den Tag und probiert vulgär, geziert, sehnsüchtig und aggressiv Gefühlsposen aus.
    Am Ende wirft sich der Vermieter offenbar vor den Zug, während die Gespielin Ali den ersehnten Gas-Tod auf dem Schlachtfeld der Demo sucht und findet. Zu allem Überfluss angereichert mit ein paar dubiosen Gottesvisionen. Im Programmheft liest man, Salzmanns Auftragswerk für das Nationaltheater Mannheim sei inspiriert von der Protestwelle in der Türkei - und politisch zu verstehen. Dass hier einer ganzen Generation die Arbeits-, Wirkungs- und Lebensmöglichkeiten vorenthalten werden, lässt sich aber weder beim Lesen des Textes noch in Tarik Goetzkes Inszenierung nachvollziehen. Schließlich ist herausgebrüllte Larmoyanz noch keine Gesellschaftskritik.
    Sollte dieses Theater die punktgenaue Verortung der mentalen Befindlichkeit der heute 25- bis über 40-Jährigen sein, hätten wir es mit einer Generation infantiler, verantwortungsloser, arbeitsscheuer und aggressiver Gelegenheits-Zyniker mit einem Gesinnungsvakuum und sentimentalen Anfällen zu tun, ausgestattet mit einem Haufen unguter Halbgefühle: frustriert, aber nicht wütend; allenfalls für einen Moment aggressiv, aber ziellos. Doch schlimmer als das Herumstochern und Gehabe der drei sich in präpotenten Hilflosigkeits-Implosiönchen verzehrenden Protagonisten ist die quälende Perspektivlosigkeit der Regie. Statt die Gefühls- und Gesinnungslage der Figuren zu deuten und dramaturgisch einsichtig zu machen, statt Ausdrucksformen für das gerade nicht Ausgesprochene zu suchen, eventuell auch Position zu beziehen und diese den Zuschauern zu vermitteln, hat Tarik Goetzke die Textvorlage 1 zu 1 illustriert. Ist davon die Rede, dass der Vater eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen musste – prompt lässt der Sohn zur Verdeutlichung die Hosen runter.
    Wenn Wahnsinn das Thema ist, muss die Darstellerin schielend und lallend durchs Gelände stolpern. Ekel heißt: Gesicht in die Pampe tauchen. Wut heißt: Blut. Verachtung: Spucke. Ein bisschen Gekicher im Publikum. Leicht ist es ganz gewiss nicht, aus der ambitioniert mit Fachbegriffen für Typografie-Fehler, "Hurenkinder Schusterjungen" betitelten Vorlage (das sind isoliert am Seitenanfang oder -ende stehende Einzelzeilen), irgendetwas Sinnfälliges zu machen. Aber der junge Regisseur war erkennbar überfordert. Und die Frage muss erlaubt sein, warum, wie hier, die Abschlussarbeit eines Regiestudiums - und sei’s auf einer Studio-Bühne - auf dem Theater gezeigt, und das bedeutet mit allen Fehlern ausgestellt werden muss; statt diese Arbeiten, gerade zur verantwortlichen Förderung begabter Nachwuchs-Regisseure, im Schutz der Ausbildungsstätten zu analysieren und zu diskutieren.