Freitag, 03. Mai 2024

Archiv

Nationaltheater Mannheim
Poetisierung einer Krankheit

Ist es möglich, Krankheit auf der Bühne glaubhaft darzustellen? Der Regisseur Tarik Goetzke hat am Nationaltheater Mannheim das Experiment gewagt und inszeniert mit Akin Sipals "Santa Monica" Blutkrebs mit medizinischer Sachkenntnis, aber in poetisch-lakonischer Sprache.

Von Christian Gampert | 02.03.2015
    Eine Ärztin hält einen Beutel mit Erythrozyten-Konzentrat - im Volksmund "Blutkonserve" genannt - in einem Operationssaal des Universitätsklinikums Münster.
    Akin Sipal zeigt in seinem Stück, wie 'Verhandlungen mit dem Tod' eine ganze Familie fast in den Wahnsinn treiben. (dpa / Friso Gentsch)
    Kann man auf dem Theater eine Krankengeschichte erzählen? Ja, schon, aber natürlich nicht im klinischen Sinne, als Arztbrief oder Kassen-Akte. Das Theater kann nur Personen durchleuchten, keine Körper. Zwar besteht, wenn man genauer hinschaut, die halbe Weltliteratur aus Krankengeschichten; aber sie geben sich nicht gleich als solche zu erkennen.
    Der erst 24-jährige Akin Sipal dagegen hat – ganz offensiv - ein Stück über einen Krebspatienten geschrieben, und es ist unwesentlich, ob dieser Text autobiografisch ist oder nicht. Manches deutet darauf hin, die soziologischen Details des Stücks, die intime medizinische Sachkenntnis. Blutkrebs. Das ist wie ein Todesurteil. Aber Sipal zeigt eher, wie diese "Verhandlungen mit dem Tod" eine ganze Familie fast in den Wahnsinn treiben, weil sie nicht nur an letzte Fragen rühren, sondern auch Verhandlungen mit der Medizin-Industrie sind. Und er zeigt, dass eine poetische Sprache beim Überleben helfen kann, dass sie Mut macht und Kraft gibt – fast wie eine Knochenmarkspende.
    Der Regisseur Tarik Goetzke hat, offenbar in Absprache mit dem Autor, den Text umgestellt: Er lässt die letzte Szene zuerst spielen. Zehn Jahre danach. Der inzwischen geheilte Patient, der "kleine Bruder", trifft "seine" Knochenmarkspenderin in Santa Monica, Kalifornien. Hat man etwas gemeinsam, außer dem Knochenmark? "Bedeutet" das alles etwas? Eigentlich nicht, sie sind sich fremd. Schlimmer noch: Die Spenderin ist "Jüdin, Bibliothekarin, Grundschullehrerin". Der Empfänger ist Deutscher, er steht nicht nur medizinisch in ihrer Schuld.
    Um es noch komplizierter zu machen: Er ist Deutsch-Türke, sozialisiert zwischen Ruhrgebiet und Istanbul. Sein Vater fährt, auf der Suche nach Wunderheilern, bis in den brasilianischen Urwald. Und Santa Monica liegt bei Hollywood.
    Ein lakonischer Bericht voller Witz und Humor
    Obwohl der Autor Akin Sipal im Hauptberuf Film studiert, ist sein Stück eher erzählend, sanft, undramatisch, einige schnelle Schnitte, ansonsten ein lakonischer Bericht voller Witz und Humor. Und das doch eher weltläufige Migrantentum, dass diese deutsch-türkische Familie repräsentiert, Vater Psychotherapeut, Mutter gelernte Opernsängerin, wird auf der Bühne eher unterspielt: Eine so große Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit hat man selten gesehen.
    Ragna Pitoll macht die Mutter, kühl, überlegt, manchmal sarkastisch, eine schöne, kapriziöse Frau im Abendkleid, die sich die Verzweiflung radikal verbietet und nebenbei Ärztin und Knochenmarkspenderin spielt. Thorsten Danner als Vater darf sich mehr Emotionen leisten, der rastet schon mal aus – aber er hat auch eine Gitarre dabei und begleitet den Sohn. Und der singt "My body is a cage", mein Körper ist ein Käfig.
    Erzählendes Schauspieltheater
    Der Abend ist reines, tolles, erzählendes Schauspielertheater. Besonders die Beziehung der Eltern ist von der Regie sehr glaubwürdig und liebevoll analysiert: Die stehen auf einmal vor dem Nichts, ihr Kind stirbt langsam vor sich hin – und damit auch ein Teil ihrer Beziehung. Sie sitzen wie Geschlagene herum und raffen sich wieder auf, trösten einander, fassen einander ganz selbstverständlich an, wie alte Paare das eher selten tun.
    Ihre Kinder nehmen den Kampf gegen den Krebs und um mehr Leukozyten mehr von der sportlichen Seite: Sie witzeln und stellen Duell-Szenen aus Western und Cowboy-Filmen nach. David Müller als älterer Bruder ist der intellektuelle Freak, der dem Jüngeren Mut macht und sich ganz zurücknimmt. Julius Forster als kleiner Bruder, als Krebspatient ist eine Entdeckung: Eine fast beunruhigend sichere Bühnenpräsenz – der schaut sich selber staunend beim Sterben zu, wehrt sich, erträgt die Chemos und hat bei all dem einen großen Abstand zu sich selbst.
    Der handwerklich ungemein präzise Regisseur Tarik Goetzke deutet die Torturen einer Knochenmark-Übertragung nur an. Er setzt auf Ironie und Poesie. Den richtigen Spender zu finden ist ein kleines Wunder – wie auch diese Uraufführung, die noch lange nachhallt.